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Verlorene Unschuld

Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden hat das Internet seine Unschuld verloren. Am Internet selber hat sich natürlich nichts geändert, denn Daten werden seit vielen Jahren in immer größerer Menge und auf immer perfektere Weise abgegriffen und ausgewertet. „Big data“ war bisher das verheißungsvolle Schlagwort, das für ungeahnt genaue Kundenprofile, neue Geschäftsmodelle und passgenaue Nutzerinformationen steht, sozusagen für die Möglichkeiten allumfassender Information und Kommunikation des „Web 3.0“. Jetzt ist der Begriff zum Kennzeichen einer beispiellosen Kontrolle und Überwachung des gesamten Netzverkehrs geworden. Kundige wussten es schon längst, und man hätte es sich natürlich denken können. Es ist ja gerade das Wesen des Internets, dass das Routing nicht den kürzesten, sondern den besten Weg sucht, und das kann dann von Berlin nach München durchaus über London und New York laufen. Die Unterscheidung von national und international ist beim Datenverkehr des Internet nicht mehr systemrelevant. Die Aussagen der Geheimdienste, nur den Datenverkehr „ins Ausland“ und nicht im Inland die eigenen Bürger betreffend zu überwachen, ist glatter Hohn – man fühlt sich für dumm verkauft. Verharmlosen und Umdeuten gehört ebenfalls zum Instrumentarium der Rechtfertigung seitens der Geheimdienste. Heute kann man vom ehemaligen BND-Chef Wieck lesen: „Das sind keine Überwachungsmaßnahmen, sondern das ist ein Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus auch in Deutschland“. Alles gut, soll das wohl heißen.

Shoshana Zuboff, Ökonomin an der Harvard Business School, hat in einem Beitrag für die FAZ ein dreifaches „Gesetz“ formuliert, das im Grunde nur eine Erfahrungstatsache beschreibt:

Erstens: Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Zweitens: Was in digitalisierte Information verwandelt werden kann, wird in digitalisierte Information verwandelt. Und drittens: Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird, sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen, für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung.

Der Nebensatz, der im dritten Gesetz mit „sofern“ eingeleitet wird, enthält offensichtlich das Problem. Die Einschränkung ist zwar political correct und rechtskonform, entspricht aber höchstwahrscheinlich nicht den Tatsachen. In der Praxis dürfte diese Einschränkung kaum Bedeutung haben. So muss es denn näher an der Realität lauten: „Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird für Überwachung und Kontrolle genutzt.“ Es geschieht, es wird gemacht von allen Seiten der verschiedensten Nachrichtendienste, und zwar nach bestem Vermögen mit den jeweils effektivsten Techniken, die zur Verfügung stehen. „Best effort“ gilt hier ohne Zweifel uneingeschränkt. Man darf ferner vermuten, dass es bei den Großmächten keinerlei Beschränkungen des dafür notwendigen Mittelaufwandes gibt. Informationsbeschaffung und -verarbeitung durch möglichst vollständige Kontrolle des Datenverkehrs im Internet („mastering the internet„) hat absolute Priorität. Vordergründig geht es, wie auch die Sprachregelung bei Wieck, zeigt, um Bekämpfung des Terrorismus, aber die eigentlichen Triebfedern sind militärische und ökonomische Interessen: Auskundschaften des Gegners / Partners und Industriespionage. Sonst macht das massive Hacken ja keinen Sinn. An dieser Stelle greifen die an sich guten Überlegungen vom Martin Weigert über die Notwendigkeit der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit zu kurz. Es geht eben nicht nur um Abwehr von Terroristen, vermutlich nicht einmal in erster Linie. Es geht um Kontrolle, um die möglichst lückenlose „Informationshoheit“. Shoshana Zuboff analysiert dies aus meiner Sicht sehr zutreffend.

Lese ich heute Stichworte wie: Web, gemeinsam, Herausforderung, Community, Transparenz – dann muss ich nur noch lachen. Die Forderung nach mehr Transparenz bleibt einem angesichts von #prism und #tempora im Halse stecken. „Transparenter“ als für die Geheimdienste dürften Menschen heute nirgendwo sein – und niemals zuvor gewesen sein. Strikte gesetzliche Regelungen zur Sicherung und zum Schutz der Privatsphäre kommen da um Lichtjahre zu spät, ganz unabhängig davon, ob sie überhaupt politisch durchsetzbar und in der Praxis anwendbar wären. Die derzeitigen Erklärungen der Bundesregierung einschließlich der gewiss gut gemeinten Ratschläge von Herrn Schaar haben nicht viel mehr als Alibicharakter: Beruhigung der Öffentlichkeit, es ist nicht so schlimm, wir können da etwas machen.

Presidio modelo (Wikipedia)
Presidio modelo (Wikipedia)

Mir scheint, wir sind in Sachen Informationstechnologien und Internet in einer ähnlichen Situation wie bei der Diskussion über die Atombombe vor sechzig Jahren: Der Geist ist aus der Flasche, es gibt kein zurück, man muss mit den neuen Gegebenheiten leben lernen. Man muss also damit leben und umgehen lernen, dass die Chancen und so schönen Möglichkeiten weltweiter unkomplizierter Netzkommunikation, all die Bequemlichkeiten des Internets, der Social media, der Smartphones und Tablets, eine mächtige Schattenseite haben. Wir werden davon nicht nur immer abhängiger und deswegen auch störungsanfälliger, wir werden auch immer besser durchschaubar, kontrollierbar, in den Handlungen vorhersehbar, transparent. Merken werden wir es spürbar nur dann, wenn wir Opfer eines „Fehlers“ werden. „Viele Leute glauben, sie wissen, was auf sie zukommt, aber sie haben keine Ahnung“, zitiert Zuboff den Chef-Futurologen bei Cisco, Dave Evans. Dem zumindest kann man abhelfen. Wir sollten „Ahnung“ bekommen. Wenn die Aktionen von Edward Snowden, der von den Machthabern nun gnadenlos gejagt wird, selber zum Spielball der diversen Machtinteressen geworden, eines bewirken können, dann dieses: Sich aufwecken zu lassen, sich zu informieren (bisher funktioniert Information meist sehr einseitig zugunsten der Regierungen), sich und seine Privatsphäre zu schützen. Es muss nicht alles und jedes ins Netz gestellt und im Netz bestellt werden. Noch zumindest gibt es wohl keine „schwarze Liste“ der Netz-Enthalter. Ich propagiere auch keine Radikallösungen, nur einen bewussteren Umgang mit Netz und Smartphone (muss das wirklich „always on“ sein?). Und wenn Regierungen gezwungen werden, in öffentlicher Debatte über die Ambivalenz von Sicherheit und Freiheit, von ökonomischen und privaten Interessen konkret Stellung zu beziehen, dann ist auch schon einiges gewonnen. Zumindest bei uns, denn in den USA scheinen die Uhren eh etwas anders zu ticken – „Verräter Snowden“ tönt es von dort unisono. Man sollte sich davon nicht irritieren lassen. Aber man sollte auch klar sehen, dass das Netz nicht die fröhliche Spielwiese irgendwelcher harmloser Freaks ist. Es hat seine Unschuld längst verloren.

NACHTRAG:

Erst nach Fertigstellung meines Beitrags las ich den Artikel des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Georg Mascolo in der heutigen FAZ, der genau zu meinen Gedanken passt.