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Instrumentelle Praxis statt digitale Glücksverheißung

1. Die Euphorie der letzten Jahre ist vorbei. Die Digitalisierung und das Internet haben den Glorienschein purer Glücksverheißung verloren. Mittels der Always on – Kommunikation in sozialen Netzwerken, durch allfällige Statusmeldungen auf Twitter oder Facebook, durch unmittelbare Kommunikation mit vielen ‚Freunden‘ überall auf der Welt ist weder das Glück des Einzelnen realisiert noch Gerechtigkeit und Demokratie verwirklicht worden. Die „Piraten“ sind dafür ein schon fast vergessenes Symbol: Die Luft ist raus, der NSA-Ballon geplatzt.

2. Man könnte altklug bemerken, das kommt davon, wenn man eine Technik glorifiziert und als solche zur Trägerin einer Glücksverheißung macht. Die Digitalisierung und Vernetzung der Welt bringt aus sich heraus keinerlei positive oder negative Bedeutung mit sich. Es handelt sich um Techniken, Instrumente. Techniken wollen genutzt werden, ihr Gebrauch kann im Blick auf bestimmte Werte nützlich oder schädlich sein. Sie sind Instrumente der menschlichen Vernunft und der öffentlichen, politisch-kulturellen Praxis. Als solche tragen sie zwar bestimmte Möglichkeiten und Potentiale in sich, die sich allerdings auch erst innerhalb konkreter Praktiken und Anwendungen zeigen und entfalten. Techniken stellen Funktionen und Mittel bereit, die so nur schwer auf anderem Wege oder überhaupt nicht zu haben sind. Das ist die innovative Kraft, die Technologien inne wohnt.

3. Gemeinhin wird die Erfindung der Dampfmaschine oder besser ihre Einführung in den produktiven Prozess als Beginn der ersten industriellen Revolution bezeichnet. Sie begann Mitte des 18. Jahrhunderts zuerst in England. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert weitete sich die industrielle Produktion unter anderem durch Elektrifizierung zur durchgehenden Mechanisierung und Massenproduktion aus. Die Einführung und Nutzung neuer Technologien (Dampfkraft, Elektrizität, Mechanik) bewirkte einen gesellschaftlichen Wandel ungeahnten Ausmaßes. Die Folgen waren aber nicht der verheißene allgemeiner Reichtum und neues Glück durch Befreiung des Einzelnen von erniedrigender Arbeit mittels Maschinen, sondern eine breite Verelendung der Bevölkerung und die Ausbildung eines Industrieproletariats. Der Reichtum akkumulierte sich in den Händen ganz weniger, und zwar in einem Ausmaß, wie es die frühere agrarische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Es dauerte viele Jahrzehnte, beinahe eineinhalb Jahrhunderte, es brauchte viele Kämpfe und Opfer, um die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen der industriellen Revolution und ihrer einseitigen Nutzung durch Kapitalinteressen einigermaßen sozial verträglich einzudämmen. Wir sind heute im Grunde immer noch mit eben diesem Bemühen beschäftigt.

4. Es zeigt sich, dass die neuen Techniken der industriellen Produktion als solche keinerlei Automatismus zur Entwicklung von mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie mit sich brachten. Um die Potentiale der neuen Technologien für die Verbesserung der Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten zu nutzen, bedurfte es eine politischen Rahmens für die Nutzung und Anwendung der Techniken im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Die Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft sind weniger Ergebnisse neuer Techniken als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, der die Möglichkeiten und den Nutzen dieser neuen Techniken möglichst breiten Schichten in der Gesellschaft zugänglich machen will. Dies ist aber ein eminent politischer, ein insgesamt betrachtet sozio-kultureller Prozess, der sich der Instrumente neuer Technologien zum Zwecke breiterer Nutzung und besserer Lebensverhältnisse bedient. Sie zu einem positiven Nutzen zu führen bedarf also einer gesellschaftspolitischen Gestaltung. Erst diese kann die Möglichkeiten industrieller Produktionstechnik in eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens überführen und die Ausgestaltung einer Industriekultur entwickeln.

5. Kurz gesagt: Die Technik allein macht noch gar nichts, sie stellt lediglich neue oder vielleicht nur erweiterte, verbesserte Mittel, Instrumente bereit. Ihr Gebrauch, ihre Nutzung und ihr gesellschaftlicher Einsatz sind das Entscheidende dafür, wie weit neue Techniken zu einer allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse und somit auch zu einem größeren individuellen Glück beitragen können. Die Werte, die das technologisch orientierte Handeln leiten, sind für eine Beurteilung des Nutzens von Techniken maßgeblich. Die politische Praxis machts, diese Instrumente recht zu nutzen.

6. Heute besteht in unserer Gesellschaft weitgehend Konsens darüber, dass Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Nachhaltigkeit zu den wichtigsten gesellschaftlichen Werten und Zielen gehören, wie auch immer man diese Begriffe nun im Einzelnen genauer bestimmt. Daran müssen sich auch die heutzutage „neuen“ Techniken der Digitalisierung und der weltweiten Vernetzung messen lassen. Diese Techniken, vor allem die umfassende Digitalisierung der „Welt der Dinge“, bergen ohne Zweifel enorme Potentiale zur Veränderung der Lebensverhältnisse. Das gilt insbesondere für die Verbindung von Digitalisierung und weltweiter Vernetzung. Je größer das Veränderungspotential einer Technologie ist, desto größer ist auch das kombinierte Potential an Risiken und Chancen. Will man nicht all die Fehler der ersten industriellen Revolution wiederholen, tut man gut daran, diese Techniken möglichst nüchtern als Instrumente menschlicher Vernunft und Interessen (!) sowie als Mittel zu einer möglichen Verbesserung der Lebensverhältnisse aller einzuschätzen. Dieser nüchterne Bewertungsprozess scheint nun die Ebene gesellschaftlicher Öffentlichkeit und Diskussion erreicht zu haben. Die Abhöraffären (NSA usw.) könnten dafür so etwas wie ein Katalysator sein.

7. Dafür ist zunächst einmal der Abschied von allen Ideologien der Glücksverheißung seitens der Technik-Freaks die Voraussetzung. Weder eine ideologische Beschwörung einer Mensch-Maschine-Evolution noch die Inszenierung einer Post-Privacy-Transformation können bei einer sachlich bewertenden Einschätzung der Potentiale und Risiken der neuen Technologien helfen – im Gegenteil. Sie verschleiern nur die jeweiligen Interessen hinter dem Gebrauch dieser Technologien. Technik-Freaks und Netz-Avantgarde, Google und Amazon können nicht als Maßstab für eine sachlich-neutrale Bewertung gelten. Die einen träumen vom digitalen Paradies, die anderen setzen unterdessen ihre Kapitalinteressen rigoros um. Es wird höchste Zeit, die Technikrevolution der Digitalisierung und der Vernetzung in einen gesellschaftlichen und politischen Prozess zu überführen, der ihre Risiken klar benennt, die Potentiale sozial und kulturell verträglich erschließt und somit den allgemeinen Nutzen allererst herstellt.

8. Bisher ist der Nutzen sehr einseitig bei der NSA (und Konsorten), Google, Amazon & Co. kumuliert. Der Einzelne wird mit technischen Spielereien beglückt. Man darf dies ruhig als perfekte Verschleierung und Ablenkung bezeichnen. So langsam dämmert es, dass Verfügung über Daten Macht bedeutet – und Macht zu Geld wird. Den Machtkampf dieser digitalen Revolution gilt es allererst aufzunehmen. Die digitale Dividende sind eben nicht einfach nur mehr preiswerte Breitbandanschlüsse; das ist das Geschäftsmodell der Digital-Konzerne. Die digitale Dividende kann in mehr Beteiligung, besserer Bildung, öffentlich einfacherer Diskussion und kultureller Bereicherung bestehen. Das fällt nicht vom Himmel, das bringen die Technologien schon gar nicht von alleine mit. Das muss erkämpft, erstritten werden. Dazu bedarf es der Information und Aufklärung, der Setzung internationaler wie nationaler Rahmenbedingungen und der Beschränkung der Macht reiner Kapitalinteressen. Google ist nicht „dein Freund“, Google ist ein großartiger Verkäufer, der alles will: unsere Daten, unser Geld, unser digitales Ich. Googles staatliches Ebenbild ist die NSA; sie steht hier stellvertretend für alle anderen ähnlich operierenden Dienste. Es ist müssig zu fragen, was da früher war. Der militärisch-industrielle Komplex hat stets bestens funktioniert.

9. Es wird Zeit, dass wir dagegen Grenzen setzen und nach dem wirklichen Nutzen der digitalen Technologien fragen für uns, für unsere Gesellschaft und für die Menschheit insgesamt. Es ist Zeit, die gesellschaftliche Debatte über die Auswirkungen der digitalen Revolution breit zu führen und politisch wirksam zu gestalten. Neue Techniken können großartige Instrumente sein, um die Lebensverhältnisse zu verbessern, unsere humanitären Werte angemessener umzusetzen und Bildung und Kultur allen zugänglich zu machen. So könnte sich so etwas wie „Weltkultur“ entwickeln. Ob digitale Techniken dann zum individuellen Glück beitragen, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.