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Sabbatical für den Mainstream

[Gesellschaft]

Was neoliberal bedeutet, weiß man. Alles Schlechte: Raffgier, Egoismus, privat, unsozial; Freiheit nur für Kapital und Unternehmen. Bankenkrise, soziale Ungleichheit, teurer Wohnraum, Privatisierungen, zu wenig Geld für die Bildung – alles geht aufs Konto des Neoliberalismus. Natürlich auch Waffenexporte, Atomwirtschaft, Energieverteuerung und letztlich die Klimakatastrophe. Da ist es gut zu wissen, was richtig ist: Energiewende, Reichensteuern, Gesamtschulen, staatlicher Wohnungsbau, umfassende Daseinsfürsorge. Gut auch zu wissen, wogegen man sein muss: TTIP, VDS, Massentierhaltung, Krieg, austerity, Studiengebühren, Stromtrassen. Fleisch ist schlecht, vegan ist gut. Google ist schlecht, Katzenfotos auf Instagram sind gut. Kohlekraftwerke sind schlecht, Windmühlen und Solarpanels sind gut. Verspargelung der Landschaft ist schlecht, Elektrosmog ist schlecht, Handyfotos von der Party oder vom Mittagessen sind gut. Industrielle Landwirtschaft und Impfen sind schlecht, „BIO“ ist total gut. Wie soll man nun diese immer richtige Meinung und Haltung nennen? Neolinks? Linksökologisch? Linksalternativ? Ökobürgerlich? Ein so schön diffuses Etikett wie bei „neoliberal“ gibts dafür bisher nicht. Egal, es ist der öffentliche Mainstream, und der ist immer auf der Seite der Guten. Besonders richtig penetrant ist er als gender mainstreaming.

Proteste gegen Stromtrassen - Google-Suche

Dieser vorgebliche Mainstream der gesellschaftlichen Korrektheit hat einen  doppelten Charakter: Er ist ein bisschen die ersehnte Wiederkehr des Biedermeier, ein bisschen Spiel mit dem Fundamentalismus. Jedenfalls ist er so selbstbezogen und borniert, bisweilen chauvinistisch und idylleverliebt wie das Biedermeier, statt Nippes Sonnenblumen , – aber auch so fanatisch, rechthaberisch und unduldsam wie jeder Fundamentalismus. Abweichungen werden nicht geduldet. Eine kritische Diskussion, die auch Alternativen abwägt, auch nicht. Man weiß ja, dass man recht hat. Jede/r (!) darf eine Meinung haben, nämlich „meine“.

Wer meint, dies sei eine Karikatur, der schaue ins Netz, das ist voll davon, der lese Kommentare in Zeitungsforen, der achte auf die Laut-Sprecher und Reden bei Demos – und dabei denke ich nicht an Pegida. Oft genug kann man diesen Mainstream – ich nenne ihn einfach mal neo-linksbürgerlich, oft die „Gutmenschen“ genannt – auch in Zeitungen lesen oder im Radio hören. Die Ränder nach rechts zu den „Wutbürgern“ und nach links zu den sozialistischen Schwärmern sind fließend. Populismus ist zwar eine Attitüde, eine Versuchung, mit der man liebäugelt, aber alternativer Individualismus verträgt sich damit eher weniger, Waldorfschulen dagegen schon, man versteht sich doch irgendwie als Elite.

Diese selbstgewisse, selbstgerechte Haltung dominiert die öffentliche Meinung, hier und da ein „Aufschrei“ kann dafür nicht schaden. Aber zugleich macht der neo-linksbürgerliche Mainstream Diskussionen so ätzend steril und langweilig. Sitzen entsprechende Vertreter und Vertreterinnen in der Diskussionsrunde, meinetwegen auch bei Talkshows, dann geht das ab nach vorhersagbaren Stereotypen, wie ein Spiel mit verteilten Rollen. Man denkt nachher tatsächlich, das sei die öffentliche Meinung der Allgmeinheit. Das ist natürlich mitnichten so. Die Mehrheit sagt nämlich nichts und denkt sich nur ihr Teil.

Es könnte ja sein, dass ein Abkommen über die Handelsfreiheit von Waren und Dienstleistungen zwischen Europa und den USA beiden Seiten nützen würde, sprich dass damit auch bei uns Entwicklungschancen der Wirtschaft und damit zukunftsfähige Arbeitsplätze gesichert werden. Es kann auch durchaus sein, dass in dem Entwurf für das Abkommen einige Haken und Ösen verborgen sind, die verbessert werden können, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. „Chlorhühnchen“ ist jedenfalls eines der dümmsten „Argumente“ , das je verbreitet wurde. Es könnte ja auch etwas dran sein, dass eine gewisse rechtlich abgesicherte Speicherung von Verbindungsdaten hilfreich sein könnte, wenn staatliche Organe der Strafverfolgung wirksamere Mittel suchen gegen OK in Zeiten von Smartphone und Internet. Zumindest ist der wilde Protest dagegen wenig glaubwürdig, wenn zugleich bereitwillig und freiwillig massenhaft private Daten und Inhalte (!) an international operierende Firmen wie Facebook und Google und andere preis gegeben werden. Die Schizophrenie zwischen dem Protest gegen „Datenmissbrauch“ und gleichzeitiger intensiver offener Handynutzung ist wohl den wenigsten bewusst. Es könnte auch etwas dran sein an der Vermutung, dass „vegan“ einfach nur hip ist, eine Mode des Zeitgeistes, dass mancher Feminismus einfach nur hysterisch ist, so hysterisch wie die meisten Impfgegner, und dass viele nur so lange für den Segen „erneuerbarer Energien“ eintreten, solange die Folgen nicht vor der Haustür zu greifen sind und die Stromkosten zu hoch werden. Es könnte etwas dran sein an dem hintergründigen Gefühl, dass die meisten Probleme, welche die öffentliche Diskussion so umtreibt und heraus posaunt, schiere Luxusprobleme sind, weil es einem nämlich ansonsten viel zu gut geht. Über Armut wird nur gesprochen, sofern damit allein erziehende Mütter (nach gender mainstreaming wird sogar sehr gelegentlich und sehr verschämt „und Väter“ hinzu gesetzt) gemeint sind, für die natürlich jeder Mitgefühl haben muss. Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Ursachen bzw. dass die Hälfte der Hartz IV – Empfänger dies schon länger als 4 Jahre sind, ist dagegen kein Aufreger-Thema. Dass es international gelungen ist, den Hunger in der Welt, also die lebensbedrohende Armut, in den vergangenen 10 Jahren drastisch zu senken, ist ebenfalls kein Thema. Das Flüchtlingsproblem ist heikel, weil man eigentlich über die Ursachen entweder nichts weiß oder hilflos ist, aber eine dezidierte Meinung über Asylbewerberwohnungen in der Nachbarschaft hat. Asyl na klar, aber da muss der Staat was machen, dass die nicht stören.

 

Ich gebs zu – ich kann diese gesellschaftlichen Korrektheiten und diese wohlfeilen Rechthaber-Meinungen nicht mehr hören, nicht mehr lesen. Ich find sie entsetzlich simpel, selbstgerecht, dröge und verlogen. Ich weiß zwar nicht immer, wer alles und was genau mit „neoliberal“ beschimpft wird, aber was alles mit „neo-linksbürgerlich“ gemeint sein kann, das wird einem allenthalben und täglich vorgeführt bis zur Selbstkarikatur, bis zum Gehtnichtmehr. Vielleicht könnten all diese überkorrekten Besserwisser, Netzapostel und Aufschreierinnen einfach mal ein sabbatical einlegen – das könnte ein Sommermärchen werden!