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Gewalt Terrorismus

>Psychogramm des Täters von Oslo

>Die schockierenden und kaum fasslichen Mordtaten von Oslo und auf der Insel Utøya wurden offenbar von einem einzelnen Täter ausgeführt, Anders Behring Breivik alias Andrew Berwick, 32 Jahre alt. „Bekennerschreiben“ sind bei terroristischen Anschlägen ja üblich und bekannt, aber in diesem Falle steht es insofern anders, als im Internet ein 1500 Seiten langes Dokument existiert, das offenbar (bestätigt von der norwegischen Presse und Polizei) vom Täter selber stammt und Auskunft gibt über seine Motive und Absichten. Es existiert auch ein 12 minütiges Video vom selben Autor (Andrew Berwick), das wie eine Zusammenfassung seiner „Botschaft“ wirkt. Das Propaganda-Video ist inzwischen bei YouTube gelöscht, man findet es aber noch hier. Das Dokument ist betitelt „2083 – A European Declaration of Independence“; man kann es über diese Webseite zu laden versuchen. Da in dem Text auch detaillierte Beschreibungen zum Bombenbau enthalten sind, steht zu erwarten, dass es in Kürze nicht mehr so einfach zu finden sein wird.

In dem Dokument finden sich nicht nur lange Ausführungen über die marxistische und islamistische Gefahr in Europa (Breivik pflegt von „EUSSR“ zu schreiben), also Ausführungen über seinen kruden ideologischen Background, sondern auch ein Tagebuch, das den Zeitraum in den Jahren von 2002 – 2006 beschreibt, dann ab 2006 – 2008 Jahresabschnitte zusammenfasst (genannt: Phase der Ausarbeitung des Textes “A European Declaration of Independence”) und schließlich ab Herbst 2009 eine genaue monatliche Übersicht gibt über seine Aktivitäten im Internet (u.a. facebook) sowie in dem Bereich, den er sein „business“ nennt. Parallel sucht Breivik Kontakte zu Gesinnungsgenossen und rechten Parteien in Skandinavien sowie in ganz Europa. Das, was er dann „Knights Templar“ nennt, zeigt allerdings eine wahnhafte Verkennung der Realität und grenzenlose Selbstüberschätzung. Seine Auslassungen über einen zu planenden europäischen Bürgerkrieg sind reiner Shit: wahnhafte Ergüsse. In den Details seines Handelns allerdings verhält sich Breivik offenbar strikt diszipliniert und rational.

Breivik nennt es „phase shift“, was nun Ende 2009 nach der Fertigstellung seines Dokumentes beginnt. Spätestens jetzt ist Breivik offenbar zu einem speziellen „Projekt“ entschlossen, dem er alle seine Handlungen und Pläne unterordnet, einschließlich der finanziellen Ausstattung, der sozialen Tarnung und der Beobachtung der nationalen Sicherheitsbehörden. Auch hier werden von ihm wiederum verschiedene Phasen benannt und detailliert beschrieben, wie „Email Kontakte aufbauen“, „Kenntnisse über Explosivstoffe sammeln“, „Geld auftreiben“. Besonders Letzteres gelingt nicht. Dafür gelingt es Breivik, erfolgreich mit Explosivstoffen zu experimentieren. Im Februar 2010 fasst B. seine Agenda so zusammen:

1. Conclude email farming
2. Conclude the writing of 2083 and secure it. This post will be one of my last entries. I will have to secure the compendium at a safe location until the week before operation (today is Feb 7th btw).
3. Change hard drives (phase shift), purge all evidence from other phase.
4. Initiate the research phase: research the possibilities for the acquirement of weaponry and armour, the making of WMDs (explosives), acquirement of components of WMD, research of logistics and storage opportunities.

Im Juli 2010 hat er nach eigenen Angaben die “armour acquisition phase” abgeschlossen und startet die “weapons acquirement phase”. Unter anderem reist er in dieser „pre-operation“ – Zeit nach Prag zwecks Materialbeschaffung, vor allem Waffen und erforderliche Chemikalien. Ab November 2010 beginnt Breivik, Explosivstoffe in größerer Menge herzustellen; das wird genauestens dokumentiert.

Im Dezember 2010 / Januar 2011 beschafft er sich die erforderliche Munition und trainiert mit den Waffen. Er achtet während dieser Zeit genau auf seine gesundheitliche Fitness und trainiert gezielt seine körperliche Leistungsfähigkeit. Im Februar erstellt er das Video mit der Absicht, sein „Kompendium“ besser zu promoten. Dazu kommt nun die Beschaffung von weiterer Ausrüstung, Behältern und Gefäßen. Während all dieser Zeit beschreibt Breivik seine „normalen“ sozialen Kontakte zu seinen Freunden. Er macht sich auch Gedanken über die Zukunft: „Continued philosophizing about the future cultural conservative political model, when we, the cultural conservatives, again seize political and military power at one point between 2025-2083“. Breivik nennt es Nachdenken über seine post-operationale Situation in case I survive a successful mission and live to stand a multiculturalist trial„; er schreibt weiter: „When I wake up at the hospital, after surviving the gunshot wounds inflicted on me, I realize at least for me personally, I will be waking up to a world of shit, a living nightmare. Not only will all my friends and family detest me and call me a monster; the united global multiculturalist media will have their hands full figuring out multiple ways to character assassinate, vilify and demonize. They will possibly do everything they can to distort the truth about me, KT and our true objectives, and attempt to make even revolutionary conservatives detest me. They will label me as a racist, fascist, Nazi-monster as they usually do with everyone who opposes multiculturalism  /cultural Marxism. However, since I manifest their worst nightmare (systematical and organized executions of multiculturalist traitors), they will probably just give me the full propaganda rape package and propagate the following accusations: pedophile, engaged in incest activities, homosexual, psycho, ADHD, thief, non-educated, inbred, maniac, insane, monster etc. I will be labeled as the biggest (Nazi-) monster ever witnessed since WW2.“ Sein Prozess als Propaganda-Feldzug, das fehlte noch. Aber „Monster“, ja, das scheint zu stimmen.

Im Februar 2011 stellt er erfreut fest, dass der norwegische Geheimdienst von ihm und seinem Treiben keine Ahnung zu haben scheint. Seine ökonomische Basis ist dünn geworden; er listet auf: „In bank: 3750 Euro
In cash: 3750 Euro
Value of car: 4500 Euro
Credit (9 credit cards): 28 750 Euro“

Ab März beginnt er, seine Absicht umzusetzen, eine Farm zu mieten, zur besseren Tarnung und erlaubten Beschaffung der fehlenden Chemikalien (Kunstdünger); das gelingt ihm im Mai. Er verlässt die Wohnung, die er bisher mit seiner Mutter zusammen bewohnt hat („At this point in time I lived with my mom, in order to conserve as much of my funds as possible.“), und zieht auf die Farm nahe Oslo. Das Bargeld braucht er für die Farm als Sicherheit. Er lebt nun von den Credit-Cards. Das lässt auf geringe Zukunftplanung schließen.

Am 2. Mai 2011 beginnt wie ein Countdown ein 82-Tage Logbuch, das am Freitag, 22.07.2011 endet: 1 1/2  Stunden vor der Bombenexplosion in Oslo. Über die Absicht seines Logbuches schreibt Breivik: „This log contains a lot of what can appear as „wining“ but it serves to reflect my mental state during the stay, a relatively detailed log of events and how I overcame the obstacles that arose. It can also serve as an educational guide or a blueprint for which the goal is to create a more efficient time budget.“ Der teilweise erhebliche Realitätsverlust ist zum Greifen.

Sein Bombentest am 13. Juni verläuft erfolgreich, berichtet er erfreut. Er beginnt, seinen Computer zu ’säubern‘ und die Festplatten zu kopieren und zu löschen. Er schafft es, seine Farm einigermaßen zu bewirtschaften. Die Tarnung klappt. Die Vorbereitungen sind nahezu abgeschlossen. Breivik legt noch einmal Rechenschaft über seine Zeitplanung ab und macht Vorschläge, wie man den ganzen Prozess der Vorbereitung optimieren und auf 30 Tage verkürzen könne.

Er beendet seine Einträge so: „The old saying; „if you want something done, then do it yourself“ is as relevant now as it was then…
I believe this will be my last entry. It is now Fri July 22nd, 12.51.“ [UTC]
2 Stunden später war die Bombe in Oslo explodiert und hatte 7 Menschen getötet. Breivik war auf dem Weg auf die Insel Utøya, um 90 furchtbare Minuten lang sein Schreckenswerk zu vollenden: 85 Jugendliche (bisher) getötet. [Korrektur vom 25.07: 68 getötete Jugendliche]

***

Verstehen, begreifen, eigentlich fassen kann  man diese Tat, solch eine Tat, immer noch nicht. Dazu hilft auch das „Dokument“ nicht. Dies zeigt nur: Breivik wusste, was er tat, er wollte es so. Er hat es von langer Hand sehr genau geplant, im Grunde seit ca. 10 Jahren. Damals war er 22 Jahre. Was ist da im Kopf dieses jungen Mannes passiert? Die letzten 10 Monate hat er offenbar nur noch im Blick auf sein „Projekt“ funktioniert, es hat sich zur fixen Idee, zur Wahnidee verselbständigt. Bei den Meisten bleibt die Wahnvorstellung im Kopf; bei Breivik wurde eine furchtbare Tat daraus, reale Wirklichkeit. Ob er das allerdings jetzt begreift, wage ich zu bezweifeln. Zugegeben: Das Dokument ist Teil einer „Selbst-Inszenierung“, so möchte Breivik sich selber sehen und gesehen werden (wenn es denn echt ist). Man muss das noch einmal trennen von einer objektiven „Diagnose“ und Analyse seines Tuns. Da kann und wird noch viel Ungereimtes zu Tage kommen.

Noch eines: Solch eine Tat, diesen Täter zu begreifen zu versuchen, also nachzuvollziehen, wie er „tickt“, heißt keinesfalls, ihn  zu entschuldigen. Das sei ferne! Breivik ist für seine Taten verantwortlich. Was mich beschäftigt und für diese Nachforschung motiviert hat, ist allein die Frage: Wie kann so etwas bei nach außen doch ganz normalen Menschen passieren? Wie können überhaupt Gewalt- und Gräueltaten im Krieg oder bei Terroristen als Taten von Menschen, die mit Leib, Seele und Vernunft begabt sind, überhaupt verstanden und „erklärt“ werden?

Es geschieht wieder und wieder – und bleibt doch letztlich unfassbar, unverständlich, unerklärbar. Es sind da offenbar Abgründe im Menschen…

UPDATE: Inzwischen, Sonntag Abend, haben deutsche Medien das Manifest auch gefunden, gelesen und sogar selbständig  (nicht nur durch dpa) ausgewertet: siehe Süddeutsche Zeitung und hier ebenfalls.