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Evolution – Kultur – Technik

Der fast inflationär gebrauchte Begriff „Evolution“ für kulturelle Teilbereiche reizt zur Auseinandersetzung. Möglicherweise ist er nicht so wertfrei und angemessen, wie es scheint. Eine kleine Kritik der kulturellen Selbstüberschätzung.

Der Begriff „Evolution“ hat Hochkonjunktur. Nicht nur in der Werbebranche, und dort besonders im Automobil-Bereich. Auch im Bereich der Kultur (wollte sagen, dem klassischen, eher „langsamen“ Reich derselben) wird immer öfter und lieber von Evolution gesprochen. Da ist es zum einen natürlich die Kultur selber, deren „Evolution“ von Kulturwissenschaftlern betrachtet wird, zum anderen ist der Begriff in manchen kulturellen Teilbereichen zunehmend beliebt. Von einer „Evolution“ des Rechts ist die Rede, von „sozialer Evolution“ (Habermas), gerne auch von der „Evolution“ der Religionen (Michael Blume) und der Moralvorstellungen, auch Kulturtechniken insgesamt können unter dem Blickwinkel der Evolution gedeutet werden, und zuletzt ist es auch die Technik selber, deren „Evolution“ beschworen wird (z.B. beim Thema AI, „singularity„). Bisweilen ist es einfach eine Ersetzung des als zu bieder empfundenen Begriffes „Entwicklung“, was ja die wörtliche Übersetzung von „Evolution“ ist. Aber die semantische Konnotation des Evolutionsbegriffes enthält doch mehr als nur „Entwicklung“, nämlich etwas Naturgesetzliches, qualitativ Neues, höher Entwickeltes, Besseres, gewissermaßen den Charakter eines „Quantensprunges“. Wie eben dieser aus der Physik entlehnte Begriff „Quantensprung“ gerne als Metapher gebraucht wird, um eine große qualitative Veränderung = Verbesserung anzuzeigen (obwohl ein Quant physikalisch nur ein winziges Päckchen ist!), so wird der Begriff „Evolution“ als Metapher benutzt, um eben das naturgesetzlich Zwangsläufige, aber dabei Fortschrittliche und Höherentwickelte anzuzeigen. Oft scheint allerdings nicht mehr bewusst zu sein, dass es sich beim inflationären Gebrauch des Evolutionsbegriffes um eine Metapher handelt. Dann gerät die Metapher unter der Hand zu einem pseudo-analytischen Instrument, – „pseudo“ deswegen, weil der Begriff als solcher, zumindest in seinem biologischen Kontext, kaum mehr ein analytisches Potential hat. Schauen wir uns den Begriff „Evolution“ also einmal näher an.

„On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life.“ („Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn.“) So hieß der Titel des berühmten Buches von Charles Darwin von 1859 (frei im Netz). Er lieferte damit sowohl Definition als auch Programm seiner Arbeit. Erstaunlicherweise kommt das Wort Evolution in diesem Werk keinmal vor, nur zweimal das Verb „evolve“. Darwin spricht statt dessen mehrmals von eine Revolution in der Naturbetrachtung durch dieses Vorgehen. Aber tatsächlich bedeutet das Werk das Programm und die Durchführung dessen, was wir heute unter „Evolution“ verstehen. Schon die Übersetzung des Titels in der 1860 erschienen deutschsprachigen Ausgabe macht Schwierigkeiten: sie interpretiert bereits. [Heute heißt das Buch einfach „Über die Entstehung der Arten.“] Wir würden besser schreiben: „Über den Ursprung der Arten mittels natürlicher Auswahl, oder die Bewahrung der begünstigten Gattungen im Bemühen um Lebenserhaltung“. Ja, das ist natürlich auch eine Interpretation, aber wie ich meine, eine treffendere. Ernst Mayr, der „andere“ Vater der Evolutionsforschung dadurch, dass er die Molekularbiologie und Biogenetik in die Evolutionsforschung integrierte, definiert in seinem Buch „Das ist Evolution“ (2003), “ dass man fast alle Evolutionsphänomene einem von zwei Vorgängen zuordnen kann: entweder dem Erwerb oder der Beibehaltung eines angepassten Zustandes [Selektion] oder der Entstehung und Funktion biologischer Vielfalt [Variation].“ (a.a.O. S. 15; Eckklammern von mir.)  Insgesamt betrachtet hat sich die Evolutionsforschung heute ausdifferenziert und eine kaum noch überschaubare Weite erreicht (Biogenetik, Hirnforschung etc.). Wer „Evolution“ als eine einheitliche „Theorie“ bezeichnet, verkennt das Programm. Es geht dabei um einen bestimmten Blickwinkel, unter dem die Herkunft und Ausgestaltung des Lebendigen betrachtet wird. Darum eignet sich auch der Begriff „Evolution“ kaum zu mehr als einer Abgrenzung: Die Welt des Lebendigen wird nicht als fix und fertig Geschaffene, also statisch, betrachtet, sondern als Gewordene und weiterhin Werdende angesehen, als komplexes dynamisches System. Dabei gilt dieses System nicht als von einem vorgegebenen „Willen“ außengesteuert, sondern als sich selbst organisierendes, quasi chaotisches System ohne bestimmtes Ziel. Letzteres wird allerdings mit dem Hinweis auf ein mögliches „schwaches“ oder sogar „starkes anthropisches Prinzip“ teilweise bestritten (vgl. z.B. Simon Conway Morris‘ „Konvergenzen“). Zumindest liegt auch dann der vermutete „Sinn“ der evolutionären Entwicklung im Prozess selbst. Der Witz ist in jedem Falle: Die Evolution steuert sich selbst, bringt als selbst lernendes System das Lebendige zu Anpassung, Vielfalt, Veränderung.

Wenngleich selbst Jared Diamond meint, dass der Evolutionsbegriff so faszinierend und selbsterklärend sei, dass er „ganz allgemein auch zum Verstehen unserer Welt und des Phänomens Mensch“ tauge (Vorwort zu Mayr), so möchte ich gerade diese verlockende These bestreiten. Die rasante Ausweitung und die Erfolgsgeschichte der Evolutionsforschung hat dazu geführt, dass der Begriff „Evolution“ selbst seine analytische Valenz verloren hat. Er ist fast nur noch ein Oberbegriff, bestenfalls eine Metapher, manchmal auch nur ein Schlagwort, für eine bestimmte Betrachtungsweise geworden. War der Begriff im Bereich der Erforschung des Lebendigen und seiner Geschichte dazu gedacht, den Werdegang und die inneren Regeln sich selbst organisierender Systeme zu beschreiben (sie „evolvieren“, vgl. dazu Ilya Prigogine, Dialog mit der Natur, 1986), so verändert sich bei der Übertragung auf bestimmte Lebensbereiche des Menschen sein Charakter: „Evolution“ suggeriert dann als verdeckte Metapher eine Naturgesetzlichkeit, wo doch ganz eindeutig das „Menschengemachte“, also durch den Menschen bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich (collateral) Gestaltete, Gemachte, Verursachte gemeint ist. Und es ist doch unbestritten, das der Bereich der Kultur einschließlich des Sozialen und der Technik ein Bereich menschlicher Pragmatik oder auch poiesis ist. Allerdings trägt in dieser abgeleiteten Diskussion der Evolutionsbegriff noch etwas Weiteres bei: den Gedanken des Fortschritts. Im Bereich des Lebendigen ist diese Konnotation eigentlich fehl am Platze, denn „Fortschritt“ im Sinne einer „Höherentwicklung“ setzt eine bestimmte Bewertung voraus, die der lebendigen Natur an sich fremd ist: Sie kennt nur Entwicklung und Ausprägung (-> Gen-Expression) dessen, was in einer konkreten Lebensumgebung „favoured“ ist. Oder konkretes Beispiel: Die Dinosaurier waren an ihre Lebenswelt optimal angepasst, also „hoch entwickelt“, bis sich die Lebensumstände änderten und sie ausstarben. Auf die Bereiche der Kultur übertragen möchte die Verwendung des Begriffes Evolution also auch eine sich „naturnotwenig“ ergebende Verbesserung und Vervollkommnung nahe legen, die aber im Grunde auf bestimmten vorgängigen Wertungen beruht, die der jeweilige Autor trifft. Johannes Rohbeck hat in seinem schönen Bändchen „Technik – Kultur – Geschichte“ (2000) gezeigt, wie sich der optimistische Impetus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in einer heute technikbezogenen Fortschrittsphilosophie (oder -ideologie) fortsetzt, wo selbst noch die Technikkritik am aufklärerischen Grundgedankens einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) oder der „Idee einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (Kant) mit dem Ziel „ewigen Friedens“ (ders.) partizipiert. Das mag ja alles gut und richtig sein, nur hat es nichts zu tun mit einer quasi naturgesetzlichen Evolution.

Insofern ist auch den Entwürfen und Versuchen, eine „Evolution der Religionen“ zu beschreiben oder eine „Evolutionsgeschichte der Kultur“ zu verfassen, mit Skepsis zu begegnen. Was trägt das Wörtlein „Evolution“ eigentlich zur Erklärung bei, wenn es doch schlicht darum geht, die wechselvolle, jeweils zeit- und umständebedingte (Produktionsverhältnisse, Gesellschaftssystem, Klima) Geschichte von Kulturen oder Religionen nachzuzeichnen? Es bleibt ohnehin stets eine selektive Konstruktion aus heutiger Sicht und Bewertung nach eigenen Maßstäben. Ich halte es jedenfalls für unangemessen, bei der Darstellung der Entwicklung von kulturellen Phänomenen, von Religionen, von technologischen Gegebenheiten, eine innere Notwendigkeit, ein von außen vorgegebenes höheres „allgemeines“ Ziel oder eine geheimnisvolle „List der Vernunft“ bzw. ein Streben des Weltgeistes (Hegel) zu unterstellen. Teleologisch, also auf ein bestimmtes Ziel und auf einen gewissen Sinn hin kann ich Gegebenheiten nur gemäß eines eigenen Weltbildes interpretieren. Aber auch dieses bleibt wie jedes andere „Weltbild“ ein vorläufiges, subjektives „Bild“. Die Wirklichkeit ist immer noch einmal anders, ob wir sie so erkennen können oder nicht. Bestimmte Kulturen oder auch Religionen als „höher entwickelt“ („Hochkultur“, „Hochreligion“) zu bezeichnen, verbietet sich ohnehin dank der kolonialen Korruption dieser Begriffe. Sie kaschieren nur den Anspruch eigener Suprematie. Darum plädiere ich dafür, der Verlockung zu widerstehen und der Inflation des Gebrauch des Begriffes „Evolution“ entgegen zu wirken. „Entwicklung“ meint meist dasselbe, ohne den ideologischen Beigeschmack. Die Versuchung ist derzeit wohl deswegen so groß, weil wir meinen, heute an einem Wendepunkt („Quantensprung“, Paradigmenwechsel“) der Entwicklung der Menschheit zu stehen, meist als positiv bewertet, gelegentlich auch pessimistisch gedeutet. Die Möglichkeiten der Computertechnik und der Vernetzung „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“) scheinen den Menschen noch einmal über sich selbst hinaus wachsen zu lassen zu etwas Größerem, Vollkommeneren („AI“). Die transformierte Netzgesellschaft könne von sich aus zu mehr Befreiung und Beteiligung des Einzelnen führen, wird fröhlich prophezeit. Ich bin skeptisch, nicht nur wegen der faktischen Fragmentierung des vielbeschworenen Netzes und seiner „Netzkultur“ („network in a bottle„). Denn das, was uns heute wie ein „Quantensprung“, nämlich der Lösung des Menschen von seinen natürlichen, evolutionär bedingten Entwicklungsmöglichkeiten vorkommt, könnte sich später als reiner Trugschluss erweisen. Die wirkliche „Lösung“ der Menschheit von seinen naturhaften Festlegungen und Begrenzungen begann viel früher, damals, als der Jäger und Sammler zum Ackerbauern wurde und seine eigene Reproduktion exponential wachsen konnte: Das Gehirn erwies sich bei dem von der Natur nicht eben besonders wehrhaft ausgestatteten homo sapiens als die effektivste „Waffe“, die es je gegeben hat. Aber das ist eine (spannende) andere Geschichte. Sie hat nur in einer bestimmten Hinsicht (Gehirn) etwas mit Evolution, dafür aber sehr viel mehr (Kultur) mit Geschichte und Geschichten zu tun. Auch die heutige Technik ist viel spannender, wenn  sie als „Geschichte“ erzählt wird…