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Was ist Religion?

Über Politik und Religion soll man bekanntlich in der Familie nicht reden. Gerade bei der Religion kann das Anlass zu aller schönstem Streit sein. Den einen ist es wichtig wie Gretchen: „Wie hältst du’s mit der Religion?“ Andere denken: Ach Gott, was für eine Frage!

Heute wurde eine Umfrag von YouGov veröffentlicht, nach der es heißt: „83 Prozent meinen, Religionen sollten mit der Zeit gehen und nicht um jeden Preis an alten Traditionen festhalten. Nur 9 Prozent meinen, eine Modernisierung religiöser Bräuche sei nicht nötig.“ Gefragt wurde zwar im Zusammenhang der Diskussion um die Beschneidung, aber die Frage ist allgemeiner gestellt und darum von allgemeinerem Interesse. Vorausgesetzt, die Befragten spiegeln tatsächlich einen repräsentativen Querschnitt der religiösen und nichtreligiösen Bevölkerung (Kriterien sind bei YouGov nicht immer ganz durchsichtig), so müssten auch große Teile derjenigen, die einer Glaubensgemeinschaft angehören, diese Auffassung teilen. Das ist nur insofern plausibel, als zum Beispiel vielen Katholiken ihre eigene Kirche allzu starr an vergangenen Denk- und Verhaltensmustern z.B. in Fragen der Hierarchie und der Moral festhält. Auch viele säkulare Muslime distanzieren sich von den fundamentalistischen Eiferern ebenso wie liberale Juden von den Orthodoxen. Manchen Evangelikalen ist die Evangelische Kirche zu liberal, vielen anderen ist sie zu pietistisch-fromm. All diese Meinungen und Haltungen der Unzufriedenheit mit großen Teilen der öffentlich repräsentierten Religionsgemeinschaften fließen in solch eine allgemeine Frage ein, ob eine „Modernisierung religiöser Bräuche“ nötig sei. Im Zusammenhang der Beschneidungsdikussion wäre allerdings eine Umfrage unter Muslimen und Juden in Deutschland viel aufschlussreicher: In diesem Kontext betrifft es nämlich nur sie „vollumfänglich“. Allerdings ist es schwierig bis unmöglich, über Religionsdinge abzustimmen. Übereinkünfte müssen freilich in der säkularen Gesellschaft getroffen werden, allerdings wohl eher durch Diskussion und Konsensbildung.

In der aktuellen Diskussion über Religion (Auslöser: Beschneidungsurteil *) wird viel Unverständnis darüber erkennbar, was Religion eigentlich ist, tut, soll.  Wenn man sich darüber Gedanken macht, muss man allerdings von dem Faktum ausgehen, dass es auch in der Religionswissenschaft keine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition von „Religion“ gibt. Bei Wikipedia gibt es einen eigenen Artikel zum Thema „Religionsdefinition„, und darin heißt es über die Versuche, das Phänomen „Religion“ zu definieren, zu Recht: „Der Versuch gilt als problematisch, sofern mit der Definition alles, was gemeinhin unter Religion verstanden wird, abgedeckt werden soll. Das stellt sich als schwierig dar, weil die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Religionen kaum eine einheitliche Definition zulässt.“ Fasst man den Geltungsbereich des Begriffes noch weiter, lässt man ihn also über die „verfassten“ Religionen im Sinne von Religionsgemeinschaften hinaus gehen und sich auf das Umfeld religiöser Einzelphänomene, Strukturen, Verhaltensweisen beziehen, dann wird ein einheitlicher Religionsbegriff erst recht nahezu unmöglich. Ich will es dennoch natürlich mit allen Kautelen der Vorläufigkeit versuchen:

Definition: Religion ist ein wesentlicher Bereich subjektiven Erlebens des Menschen, der sich mit seiner ganzen Person an etwas ihm Vorgängiges rückbindet und dieses kulturell gestaltet.

Erläuterung: Das Gegenüber der Religion (auch das „Göttliche“ genannt) wird oft als überlegene Herrschaft erfahren, muss aber nicht zwangsläufig  so erlebt werden (Mystik, Nirwana). Wird aber das „Vorgängige“ als prinzipiell überlegen erfahren (Macht, Grund, Ziel), dann bedeutet die Rückbindung eine Art Rückmeldung und / oder auch Rückversicherung (Totem, Gebet, Opfer). Es ist der Versuch, sich selbst zu dem Unerklärlichen und Unableitbaren (Kontingenten) in Natur und Lebenswelt auf einer non-rationalen Ebene in Beziehung zu setzen und existentiell Vergewisserung zu erhalten angesichts individuellen Schicksals (Kontingenzerfahrung, Zufall), persönlicher Verlusterfahrung, der Hinnahme von Leid, Tod und Ungerechtigkeit. Auch besondere Glückserlebnisse und ihre Verarbeitung (symbolische Danksagung , Anbetung, Kultus) können Teil des religiösen Lebens sein. Religion als kulturelles Gesamtphänomen nimmt die Frage nach dem „Sinn des Ganzen“ auf, nach dem Vorher und Nachher jeder Existenz, und thematisiert damit Leben, Tod und Ewigkeit. Wenngleich auf Einzelerfahrungen beruhend und im Einzelnen verankert, ist Religion fast immer auf Gemeinschaft hin orientiert und durch sie intersubjektiv konstituiert. Religion bekommt dadurch wesentlich eine stabilisierende,  soziale und gesellschaftliche Funktion.

Den ersten, definierenden Satz möchte ich folgendermaßen verstanden wissen: a) Ich halte den unscharfen und bisweilen schillernden Begriff Religion für hinreichend klar und brauchbar. b) Das Phänomen Religion gehört wesentlich zum Menschen. c) Religion ist anthropologisch in der Subjektivität des Menschen verortet. e) Jedem Erlebnis entspricht eine Widerfahrnis. f) Religiöse Erfahrung betrifft stets den ganzen Menschen. g) Was erfahren wird, ist ein „Gegenstand“ sui generis. h) „Vorgängig“ gebrauche ich hilfsweise als Ausdruck zur Beschreibung von etwas, das als nicht bloß subjektiv („eingebildet“) erlebt wird. i) Rückbindung nimmt die alte wörtliche Übersetzung des lateinischen Wortes religio auf. k) Religion gehört zum Gesamtbereich der Kultur.

So weit, so (un)klar, denn mir ist völlig bewusst, dass man gegen jede der hier von a) – k) aufgezählten Verständigungen ebenso Widerspruch erheben kann wie gegen die Aussagen in meinen ausgeführten Erläuterungen. Wer mitdenken möchte, den lade ich ein, dennoch zunächst einmal über diese Definition und ihre mögliche Brauchbarkeit nachzudenken. Dabei folge ich weithin den viel zu wenig beachteten Erkundungen der modernen Religiosität durch den evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf. In seinem Buch „Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur“ (München 2007) heißt es am Schluß:

Diese spezifische Lebendigkeit des Religiösen zu erfassen, fällt vielen gelehrten Religionsdiagnostikern noch immer sehr schwer. Vermutlich bedarf es dazu einer neuen Aufmerksamkeit für ganz elementare Fragen, die im akademischen Religionsdiskurs kaum noch gestellt werden: Wie läßt sich die Offenheit religiöser Symbolsprachen für ganz unterschiedliche Interpretationsansätze deuten? … Worin gründet die außerordentlich hohe Mobilisierungskraft religiöser Rhetorik? Was stimuliert die vielgestaltige Renaissance apokalyptischen Denkens in aktuellen Debatten um Zukunftsperspektiven von Politik und Gesellschaft? Wie erklärt sich die ungebrochene Konjunktur von Funktionsgöttern und Milieuheiligen – religiösen Identifikationsgestalten, die einer bestimmten sozialen Gruppe, im distinkten Gegenüber zu anderen, starke Identität auszuleben erlauben? – Vielleicht liegt ein elementares Defizit gegenwärtiger Religionsforschung darin, daß die implizite Theologie in allem religiösen Bewußtsein, anders gesagt: die subjektive Sinnkonstruktion eines Frommen, zu stark marginalisiert wird. … Dann aber muß man diesen je individuellen Glauben ernster nehmen, als dies die meisten Religionswissenschaftler in ihren mehr oder minder funktionalistischen, jedenfalls abstrakt allgemeinen Sprachspielen und Modellkonstruktionen zu tun imstande sind. (a.a.O. S. 284 – 286)

Ich will dies im Anschluss an meinen Definitionsversuch jedenfalls weiter verfolgen, indem ich in weiteren Beiträgen hier im Blog in loser Folge nähere Beobachtungen benennen und Konsequenzen aufzeigen möchte, um gerade auch dem Erklärungspotential, der „heuristischen Funktion“, der aktuellen Frage nach Sinn, Bedeutung und Funktion von Religion in unserer heutigen Kultur und Gesellschaft genauer nachzugehen. Dabei lasse ich mich von der neuzeitlichen Erkenntnis aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts leiten, die F.W. Graf so formuliert:

Die besondere Leistungskraft der von den genannten Klassikern entwickelten Kulturtheorien liegt gerade darin, Religion und die in ihr erzeugten Weltbilder und Wertideen nicht als ein Epiphänomen des kulturellen Weltumgangs des Menschen oder als einen Sonderbezirk der Kultur zu deuten, sondern religiösen Glauben als eine elementare Sinnstruktur ernst zu nehmen, die alle Handlungsvollzüge des Menschen (mit-)bestimmt. (S. 103)

Es bleibt spannend, einen solchen religions-kulturellen Ansatz mit seinen Potentialen im Zeitalter der Postmoderne zu aktualisieren!

*) UPDATE: Einen Tag nach diesem Beitrag erscheint auf ZEIT online ein Interview mit Volker Beck (Grüne) zum Thema Religion, dem ich in seiner Beurteilung zustimme.