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Dimensionen des Religiösen

Religion gehört zum Menschsein. Das ist mehr als nur eine „wilde These“, denn Religiosität ist anthropologisch verankert und bietet im positiven Fall Vergewisserung und Sinn. Von der Vergessenheit darüber, was Religion leisten kann.

Warum tun wir uns heute in Westeuropa so schwer mit der Religion? Was macht es inzwischen so schwierig, religiöse Phänomene überhaupt nachvollziehen und beurteilen zu können? Wie kommt es zu dieser fast unüberbrückbar gewordenen Distanz zwischen Religiösem und Säkularem? Die heftige Debatte um das religiöse Recht auf Beschneidung lässt jedenfalls Gräben aufbrechen, von denen man bisher kaum eine Ahnung hatte. Kirchentage und Papstbesuche erweckten den Anschein: Alles ist gut mit der Religion. Doch dann war da der islamische Fundamentalismus, dann kamen die unsäglichen Verbrechen der katholischen Kirche an ihr anvertrauten Kindern ans Tageslicht. Für sich genommen ist das als Erklärung  für den säkularistischen, antireligiösen „drain„, den man feststellen kann, zu wenig. Die Frage muss tiefer angesetzt und geklärt werden. Die Ursachen liegen gewiss in gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, Brüchen und Umbrüchen des letzten Jahrhunderts, wenn nicht mehr. Dem wäre nachzugehen. Neuere Untersuchungen, die über die klassische und durchaus umstrittene „Säkularisierungsthese“ hinaus gehen, gibt es erst ansatzweise, aber eine wiederbelebte „Säkularisierungsdebatte“ zeichnet sich ab. Die Wahrnehmung von Religiosität in Europa ist äußerst vielschichtig. In Deutschland befinden wir uns dabei in einer Sondersituation, wie verschiedene Studien zur Religiosität unter Jugendlichen (z.B. Shell-Studien, Studien der Bertelsmann-Stiftung) ergeben haben. Dies benennt auch jüngst sehr pointiert Ulrich Willems („Centrum für Religion und Moderne“ in Münster):

Das religiöse Bewusstsein und die religiöse Praxis sind nirgendwo auf der Welt so gering wie in Europa. Europa ist mit Blick auf die Religion so etwas wie die säkulare Ausnahme in der Welt. – In Deutschland herrscht unterschwellig das Vorurteil, Religion habe viel mit Aberglauben zu tun. Religion sei nicht zeitgemäß, womöglich sogar gefährlich. Daraus leitet sich die Forderung ab, die Religionen müssten sich modernisieren. Sie sollten ihre vermeintlich obskuren Traditionen und Praktiken – wie die Beschneidung – überdenken und sich zudem weniger in das Leben ihrer Anhänger, aber auch weniger in die Politik einmischen. Dass die Säkularisierung in Europa so stark ist, hat wiederum verschiedene historische Ursachen.

So zeigt sich eine „stark antireligiöse Haltung der Gesellschaft“, die auf der anderen Seite kaum mehr weiß, was Religion eigentlich ist, was religiöses Leben ausmacht und was religiöse Systeme leisten. Genau diesem Defizit möchte ich etwas abhelfen, indem ich meine Überlegungen zum Thema „Was ist Religion?“ weiter führe.

Religion ist ein eigenständiger Bereich menschlicher Weltbewältigung. Ich sehe religiöses Erleben als eine anthropologische Konstante an, die wesentlich zum Menschsein gehört. Ihre Formen der Äußerung können allerdings von sehr unterschiedlicher Art und Intensität sein. Es mag von Natur aus unmusikalische Menschen geben, unreligiöse allerdings nicht; das sage ich bewusst auch gegen den berühmten Ausspruch von Jürgen Habermas, er sei „religiös eher unmusikalisch“. „Religiös“ muss nicht heißen „theistisch“ und schon gar nicht „kirchlich“. Als eigenständiger Bereich ist religiöses Erleben etwas emotional-Habituelles im Unterschied zum Bereich des rational-pragmatischen Verhaltens. Das vernunftgeleitete Handeln geschieht auf der Basis der Zweck-Mittel-Relation entsprechend anerkannter Werte und Ziele und dient in großen Teilen unseres Lebens einer mehr oder weniger erfolgreichen Weltbewältigung. Religiöses Erleben vollzieht sich dagegen auf einer emotional-psychischen Ebene in rituell geprägten Vergewisserungen und im Transzendieren unserer jeweils unabgeschlossenen Lebenssituation auf ein umfassenderes Ganzes hin.

Dieses Ausgerichtetsein auf ein Jenseits des eigenen Subjekts bezieht sich zu allererst auf ein anderes Ich, ein „Du“. Soll dieser Andere aber nicht nur Spiegelbild meiner eigenen Defizite sein, imaginiert mein fühlendes Ich etwas Größeres, Umfassenderes, vielleicht auch Machtvolleres. Es kann die Nation oder die Gattung sein oder irgend etwas anderes, auf das hin bezogen ich mich selbst emphatisch einbringen und vergewissern kann. In der Regel greift dieses konkrete Andere aber zu kurz, weil es selber wieder nur begrenzt ist und scheitern kann. Denn das umfassende Ganze, das dem Einzelnen Vergewisserung, Bestätigung, Trost und Sinn verleihen kann, wird genau genommen als außerhalb meiner eigenen Begrenzung und jenseits meines Scheiterns intendiert. Es wird zum unbegrenzten Jenseits meiner Erfahrungs- und Erlebniswelt.

Ursprünglich begegnet dieses Jenseits meiner eigenen Selbstbezogenheit schon im allernächsten Gegenstand, der mir seinen Widerstand entgegen setzt. Die ursprüngliche, d.h. „urtümliche“ ebenso wie erfahrungsmäßig primäre Gegenständlichkeit von etwas Anderem außerhalb meiner bringt mir die Erfahrung der Begrenzung, des Widerstandes, der Abhängigkeit. Dieses Andere kann durchaus eine Sache sein, keineswegs nur eine Person. Leben insgesamt bedeutet ja Überwindung von Widerstand, bedeutet einen Aufwand, um, thermodynamisch gesprochen, der Entropie entgegen zu wirken. Der Widerstand kann als machtvoll, gar als übermächtig erfahren werden. Dann begegnen wir der „Macht“ des Zufalls, des Schicksals, des Glücks oder Unglücks, erfahren Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit. Die gemeinschaftliche kultische Ordnung dieser Empfindungen und Gefühle, ihre rituelle „Abholung“ und „Aufhebung“, die Vermittlung von Gewissheit und Orientierung, den Aufweis von Sinn und die Anleitung zur Bescheidung und Ein-Ordnung in ein größeres Ganzes vermittel genau das umfassende kulturelle System zur Welt- und Lebensbewältigung, das wir Religion nennen.

Religion ist immer ganzheitlich ausgerichtet. Zwar kann man, wie von mir getan, das religiöse Erleben speziell dem emotionalen und seelischem Bereich (von Seele zu reden ist allerdings unmodern geworden, eher schon vom ‚Psychischen‘) des Menschen zuordnen, weil es dem zweckrationalen, handlungsorientierten Vernunftbereich entgegen zu stehen scheint. Letztlich aber bezieht sich die Weltbewältigung der Religion auf alle Bereiche menschlichen Lebens, betrifft also Leib, Seele und Geist, mind & brain. Von einem „Bereich“ zu sprechen ist missverständlich, weil es an etwas Sektorales, Abgeteiltes erinnert. Besser ist die Vorstellung eines layers, also einer besonderen Schicht oder Dimension unseres persönlichen Lebens, die unter oder über anderen Schichten liegt. Man kann diesen layer zwar versuchen auszublenden, das wird aber nur zum Schaden der ganzen Person und zum Verlust wesentlicher Dimensionen unseres Lebens führen, wenn es denn überhaupt möglich ist. Meist meldet sich verleugnete oder verdrängte Religiosität in ganz anderen, neuen Abhängigkeiten wieder. Auch der A- oder Antitheismus kann bekanntlich zum Dogma werden.

Einen letzten Hinweis möchte ich noch zur Orientierung der Religion auf Gegenständlichkeit geben. Oft wurde und wird Religion als ein kulturelles System von Symbolen, als symbolische Lebensäußerung interpretiert. Das mag man so tun, wenn man hier „Symbol“ recht versteht. Natürlich ist die Welt aller Religion und aller konkreten religiösen Systeme voller Symbole in Handlungen, Redeweisen und Gegenständen. Letztere sind eigentlich das ursprünglichste „Symbol“, weil sich in den religiösen Gegenständen der oben genannte ursprüngliche Widerstand der äußeren Welt manifestiert. Das archaisch scheinende Götterbild (oder auch Heiligenbild) ist eben mehr als nur Bildnis und Zeichen. Benennt man es als Symbol, dann kommt es nicht auf die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem an, sondern gerade auf das Moment der Identität, der Realpräsenz des ungegenständlichen, umfassenden Bezeichneten im konkreten Gegenstand des Zeichens. Kein Mensch hat jemals eine Steinfigur angebetet, sondern vielmehr die im Bildnis als real  erlebte Gegenwart des Jenseitigen. Religionen wie die sogenannten Schriftreligionen haben das Götterbildnis („Götzenbild“) durch das Buch ersetzt, die Thora oder den Koran. Im Christentum ist es zum einen Teil die Bibel (evangelisch), zum anderen die Hostie (katholisch). Die Repräsentanz der Gegenwart des grenzenlos Jenseitigen im begrenzten, diesseitigen Gegenstand gehört zur „Grundausstattung“ jeder gelebten Religion (vgl. Opfer, Totem, Heiliges). Der Bezug aufs Körperliche ist ihr also wesentlich. Im religiösen Kult bringt sich daher der Mensch auch ganzheitlich ein: der Körper kniet, liegt, wird getauft, beschnitten, tätowiert usw., alles als Zeichen der Entsprechung, der Einordnung in das als machtvoll, sinnvoll und hilfreich empfundene System einer konkreten religiösen Lebensgemeinschaft, wie es die Religionen bieten. Innerhalb dieses Systems kann dann auch die Rede von Gott, Göttern, Göttlichem, Himmelsboten usw. seinen Ort finden, aber Religion ist nicht an theistische Vorstellungen und Reden gebunden.

Insofern ist die Leistungsfähigkeit der Religion eigentlich unglaublich groß. Sie bietet dem Menschen Halt, Vergewisserung, Rechtfertigung, Trost, Sinn und Ziel, die er als solche in den Widerständen des Lebens und seiner Welt per se nicht finden kann. Es ist ungewöhnlich und fragwürdig, wenn Menschen eines bestimmten Kulturraums meinen, gegen Religiosität, gegen Religionen und religiöse Weltanschauungen angehen zu müssen. Die institutionelle Form, die sich Religionen geben und die Vorrechte, die diese Institutionen beanspruchen zu müssen glauben, die unterliegen allerdings dem gesellschaftlichen Konsens. Da ist Kritik und Begrenzung, ja „Einhegung“ (Jan Assmann) geboten. Unkontrollierte Religiosität ist tatsächlich eine gefährliche Sache, ein „gefährlicher mentaler Stoff“ (Friedrich Wilhelm Graf), wie alle Religionskriege und religiösen Exzesse beweisen. Die emotionale Verankerung der Religion macht ihren Nutzen, aber auch ihren Schrecken aus. Doch diese Gewaltbereitschaft soll gesondert erörtert werden.

P.S.: Meine Reverenz erweisen möchte ich dem „Großmeister“ der Erfassung und Beschreibung dessen, was  Religion ist: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Mit seiner Beschreibung  des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ mit dem Ziel der „Anschauung des Universums“ (also nicht des Weltalls, sondern des „Ganzen“) hat er einen Religionsbegriff mit fortdauernden Potentialen etabliert.

Eine Antwort auf „Dimensionen des Religiösen“

Mit seiner Beschreibung des “Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit” … hat er einen Religionsbegriff mit fortdauernden Potentialen etabliert.

Dieser Punkt scheint mir wichtig. Auf welche Weise kann der Begriff das im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit Gemeinte zutreffend ausdrücken?

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