Kategorien
Geschichte Kultur Neuzeit

Dumme Geschichte mit der Geschichte

Geschichte erzählt mehr als nur Geschichten. Die eigene Geschichte zu vergessen macht leichtfertig und blind für die Gegenwart. Glaube an Geld und Fortschritt sind die Dogmen der Moderne. Obs für die Zukunft reicht, wird sich zeigen.

Sich mit „der Geschichte“ zu befassen, hat Hochkonjunktur. So sieht es jedenfalls aus, wenn man die Vielzahl von TV-Sendungen zu historischen Themen in szenischen Darstellungen zum Maßstab nimmt oder die stetig anschwellende Menge populärer Literatur zu Geschichtsepochen und Größen der Geschichte. Offensichtlich kann der heutige Mensch nicht genug bekommen von „Ägypten“, „Rom“, „Friedrich Barbarossa“ und überhaupt den Kaisern, Päpsten und Herrschern der Vergangenheit. Ein wenig im Schatten blüht aber auch die Literatur zur Sozialgeschichte, also sozusagen zur Geschichte des „kleinen Mannes“. Die ist allerdings nicht ganz so attraktiv. Nur in den beliebten touristischen Ritterspielen, in denen man das Mittelalter aufleben lassen möchte, kommen dann die „einfachen Leute“ vor, schön pittoresque als Marketender oder Kräuterfrau in Szene gesetzt. So lieben wir das Mittelalter. Überhaupt, so als Spielfilm, als dramatische Inszenierung und als Turnierspektakel möglichst mit einer mittelalterlichen Burg als Kulisse, so mögen wir „Geschichte“, als „event“ eben.

Daneben aber ist in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft fast der entgegengesetzte Trend festzustellen. Nicht etwa fehlendes Interesse an Geschichte meine ich, sondern die zur bewussten Reflexion gewordene Problematisierung dessen, was Geschichtswissenschaft überhaupt leisten kann. Historiker, so heißt es kritisch, können Geschichte gar nicht anders darstellen als in einer großen „Erzählung“, also einem dichterischen Akt der Konstitution von Geschichte. Die „bruta facta“ treten dann auf einmal völlig zurück hinter einem jeweils entworfenen Geschichtsbild, das viel eher die Fragen und Kategorien der Gegenwart wiedergibt als wirklich „das, was war“. Geschichtswissenschaft, so hören wir, sei entweder eine Sonderform von Literatur und Dichtung, also der Teilnahme an der Erzählung von „Geschichten“, gar nicht so weit entfernt vom Mythos, oder eben eine Konstruktion gegebener Fakten gemäß einer vorgefassten Sinn stiftenden Geschichtsphilosophie. In beiden Fällen scheint der erstrebte Gegenstand der Geschichte, die Tatsachen der Vergangenheit, also das Auffinden und Darstellen dessen, was früher einmal der Fall war, hinter unseren gegenwärtigen Denkschemata, Interessen und Fragestellungen zurück zu treten. Und weiter: Einerseits haben wir das Erbe des Historismus übernommen und sehen uns als durch Geschichte bedingte und in Geschichte verwickelte Menschen an, existieren also bewusst „geschichtlich“, auf der anderen Seite kann das „Ende der Geschichte“ verkündet und als „Posthistoire“ übertrumpft werden. Die Geschichte scheint so zur ewigen Gegenwart zu kondensieren, weil nur die Gegenwart wirklich ist und das Vergangene nicht mehr existiert. Geschichte als eigene Wissenschaft zeigt sich so als in sich selbst fragwürdig.

Es liegt auf der Hand, dass sich gegenüber solch radikalen Thesen Widerspruch geregt hat. Weiterhin forschen Generationen von Historikern akribisch an Quellen und Funden, lesen Texte, studieren Artefakte, orientieren sich an Dokumenten ebenso wie an Bauwerken und Symbolen. Offenbar ist da doch etwas an der Vergangenheit, was zwar so nicht mehr da ist, aber in vielerlei Hinsicht in die Gegenwart hinein reicht und uns in unserer Zeit beschäftigt und bewegt. Bisweilen ist es sogar so, dass nicht nur wir Heutigen Fragen an „die Geschichte“ haben, sondern dass es aus geschichtlichen Ereignissen heraus zu Anfragen an unsere Gegenwart kommt. Die Historismusdebatte und der heftige Historikerstreit zum Ende des 20. Jahrhunderts haben zumindest dieses erbracht: Es hat nicht nur die historisch arbeitenden, sondern uns „moderne“ Menschen überhaupt sensibilisiert für das Gewordensein, für die menschliche Verantwortung für „seine“ Geschichte, für die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, für die Relativität und Bedingtheit von Kulturen (ja, Plural!), Wissenschaften, Staatsformen und Rechtsbestimmungen. So dämmert es uns eben doch recht allmählich, dass wir westlichen Menschen bei allen Erfolgen und Leistungen – und Misserfolgen und Katastrophen – nicht allein der Nabel der Welt sind.

Umso mehr sollten uns geschichtliche Themen und Fragestellungen interessieren, weil sie nämlich zugleich unsere Vergangenheit und  unsere Gegenwart in einer zutiefst verunsichernden Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit erkennbar werden lassen. Verunsicherung darüber, was aus dem, was war, geworden ist, und was daraus denn wohl entstehen könnte. Denn eines zeigen geschichtliche Studien und Betrachtungen auch: Dass es fast nichts gibt, was unmöglich ist, dass scheinbar sichere Entwicklungslinien abrupt abbrechen und etwas völlig Unerwartetes zur Verwirklichung kommt. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit, Offenheit der Gegenwart macht jedes ‚abschließende‘ Urteil über gegenwärtige Entwicklungen obsolet. Das ist tatsächlich die Tücke mit der Geschichte: Wir erkennen nur im Nachhinein, was damals in der damaligen Gegenwart wirklich war. Es ist nicht erst das Problem der Zukunft, dass wir nicht wissen, was kommt! Der daraus zu ziehende Schluss sollte also Bescheidenheit und Vorsicht im Urteil darüber sein, was gegenwärtig ist und welche Möglichkeiten und Perspektiven sich ergeben. Es sind allenfalls Wahrscheinlichkeiten, und nicht einmal die lassen sich angemessen bewerten.

Ich möchte noch einen weiteren Blickwinkel für die Betrachtung wählen. Die manifeste Realität der Gegenwart umgibt sich mit einem Charakter von Allmacht: So wie jetzt, war es noch nie; so weit wie heute, hat es noch kein Mensch je gebracht; so klug, erfinderisch und voller technischer Möglichkeiten ist noch kein anderes Zeitalter je gewesen. Wir sind einzigartig, und unsere Gegenwart ist einzigartig, darum muss doch auch unsere Zukunft einzigartig, voller Potentiale und ungeahnter neuer Möglichkeiten sein. Die Zukunft wird so zum absoluten Faszinosum, das schon die Gegenwart als Übergangszeit des „Noch nicht“ bestimmt. Besonders die Entwicklung der Computertechnologie verführt zu solch atemlosen Vorwärtsdrängen, als könne man die nächste Stufe dieser herrlichen Entwicklung kaum erwarten. Das Reich der Freiheit, der unendlichen Möglichkeiten, des Endes von aller Entfremdung und Fremdbestimmung liegt zum Greifen nahe vor uns. So klingt es aus manchen enthusiatischen Beschreibungen der neuen Ära des Internets, die schon zu einer neuen Evolutionsstufe des Menschen verklärt wird. Gewiss ist allerdings nur eines: Dass es auch ganz anders kommen kann und dass hier eine verständliche, aber nichtsdestoweniger gedankenlose und geschichtsvergessene Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit vorliegt. Zunächst ist, nüchtern betrachtet, die Technologie der Elektronik eine Sache erstaunlicher Miniaturisierung. Erst seit integrierte Schaltkreise auf Bruchteilen eines Quadratmillimeters aufgebaut werden können, sind Smartphones überhaupt möglich geworden. Es liegt also zunächst eine besondere Skalierung vor, die es so vordem noch nicht gab. Welchen Geist wir aber aus der Nano-Flasche entlassen, wissen wir noch nicht. Gleichzeitig liegt eine besondere, so noch nicht da gewesene Skalierung zur anderen Seite hin vor: Noch nie zuvor haben Menschen ihre Welt, die heute global, d.h. zum überschaubaren Globus geworden ist, in einer solchen Größenordnung beeinflusst, verändert und über die bisherigen „natürlichen“ Grenzen hinaus belastet wie heute. Es gab zwar auch schon zu Zeiten der Römer für immer gerodete Wälder, die dem Flottenbau zum Opfer fielen, aber das war nur „Fliegenschiss“ im Vergleich zur Klimaveränderung, wie wir sie heute erleben. Und noch ein drittes Beispiel für ein Skalierungsproblem: Nie zuvor war die Geldwirtschaft in Form des Kapitalismus so allgegenwärtig und alles beherrschend und durchdringend wie heute. Bedenkt man, dass das Vertrauen in die Macht des Geldes (nicht allein des Euro, sondern des Geldes überhaupt) allein eine Glaubenssache ist, gewissermaßen das Grunddogma unserer kapitalbasierten und renditegetriebenen „Marktwirtschaft“, und Misstrauen jede Währung zerstört, so wird ahnungsweise deutlich, wie fragil der Boden ist, auf dem unser gegenwärtiges „normales“ Leben beruht. Wahrscheinlich ist es eben überhaupt nicht „normal“ so, wie es jetzt ist, also keine Norm für die Zukunft. Aber auch dies wissen wir nicht, es wird sich allererst zeigen.

Der Blick auf die Geschichte kann lehren, auch das, was uns selbstverständlichste Grundlage zu sein scheint, eben nicht als selbstverständlich und naturgegeben anzusehen. Schon die ideengeschichtliche Basis unseres heutigen Bewusstseins, der Fortschrittsgedanke, ist eine geschichtliche „Erfindung“, ein Produkt der frühen Neuzeit. Dies ist das eigentliche Dogma der Moderne. Der Glaube an die Sicherheit des Geldes und an die Gewissheit des Fortschritts machen eigentlich die Welt zu der, die sie gegenwärtig ist, im Guten wie im Schlechten. Es ist dies sozusagen die säkulare „Religion der Moderne“. Aber ein Glaube verliert seine Kraft, wenn der Zweifel wächst. Der Blick in die Geschichte kann vor einem allzu tiefen Fall bewahren. Ob allerdings überhaupt auf die „Geschichte“ geachtet wird und ob so etwas wie Lehren daraus gezogen werden können, ist ebenfalls überaus zweifelhaft. Es gab geniale Geister, Erfinder und Entdecker lange vor uns; wir haben ihre Namen vergessen (zum Beispiel Lukrez, Alhazen, Zheng He). Die Zukunft jenseits der Dogmen der Moderne wird zeigen, ob man sich an uns einmal erinnern kann.

NACHTRAG:

Wenigstens noch zwei weitere Literaturhinweise:

Hans-Jürgen Görtz, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001 (Reclam)

Johannes Rohbeck, Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt 2000 (Suhrkamp TB)