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Kanada Macht USA

US-Macht aus anderer Perspektive

Es ist für das Verständnis der politischen Rolle und Bedeutung der USA durchaus aufschlussreich, sich die USA aus der Perspektive eines unmittelbaren Nachbarn anzuschauen. Kanada und die USA haben eine wechselvolle und nicht spannungsfreie Geschichte miteinander.

Darauf wurde ich gestoßen, als ich während meiner Kanada-Reise mehrfach mit der US-border zu tun hatte. Zunächst fällt auf, dass die kanadischen Einreiseformalitäten denen an der EU-Grenze gleichen. Also in keiner Weise so, wie man es bei der Einreise in die USA erlebt mit dem ernüchternden, ja beklemmenden Gang durch den Prozess der „US-Immigration“. Der etwas bombastisch wirkende Peace Arch im Peace Park am Grenzübergang Hwy 99 – I 5 bei Blaine (Vancouver – Seattle) markiert durch seine Betonung eher ein Problem als eine zwanglose Lösung. Die Grenzformalitäten sind denn auch danach und erinnern einen leicht an den Grenzübergang zur DDR seinerzeit. Die grenzenlose EU kommt einem da wie das Paradies vor.

US customs in the wilderness

Noch erstaunlicher geht es im sogenannten „International Peace Park Glacier – Waterton Lakes“ zu. Der kanadische Waterton Lakes National Park ist die nördliche Ergänzung des größeren Glacier NP in Montana, USA. Die Grenze entlang dem 49. Breitengrad zerschneidet die Natur willkürlich, so dass der südliche Zipfel des beliebten Oberen Lake Waterton bereits in den USA liegt. Was also macht diese beiden Nationalparks auf US- und kanadischer Seite zu „Friedensparks“? Die Initiative dazu war privater Natur durch die Rotary Clubs beiderseits der Grenze 1932. Im Wesentlichen umfasst der „Friedenspark“ den Informationsaustausch zwischen den Rangerstationen (wildfire) und eine Absprache, wer im Grenzgebiet die Übersicht über die Natur behält. Die Grizzlies auf US-Seite des Sees werden nun auch von den kanadischen Rangern gezählt. Die US-Ranger-Station am Südende des Sees (für Wanderer zugleich Grenzübergang mitten in der Wildnis) wird von Kanada aus versorgt, da es keine Wegeverbindung nach Montana gibt. Touristen dürfen an der Bootsanlegestelle US-Boden betreten ohne Grenzformalitäten. Das sei einzigartig, wird betont, und ist es wohl auch, wenngleich eigentlich ein Witz. Bewegen kann und darf man sich dann dort aber nicht weiter, es sei denn mittels Immigration. Man muss schmunzeln über das, was hier mit großem Ernst verkündet wird.

Man lernt: Die US-border wird gehütet wie ein Heiligtum. Aus europäischer Sicht fühlt man sich um mindestens 100 Jahre zurück versetzt. Es wäre eine eigene Überlegung wert, wie es zu dieser Sakralisierung der Nationalgrenzen in den USA gekommen ist. Zu Kanada hin ist es dabei noch harmlos im Vergleich zu Mexico, übrigens auch ein sehr kompliziertes, belastetes Verhältnis. Von kanadischer Seite wird offiziell stets das gute Verhältnis genannt, das zu den USA bestehe. Man muss ja zusammen leben. Logo. Doch wenn der Frieden derart kurios zelebriert und betont wird wie vielleicht in Europa vor dem 1. Weltkrieg, dann entsteht schnell der Verdacht, es könne damit dann noch nicht allzu weit her sein. Und dem ist auch so.

Die Verhältnis zwischen Kanada und den USA ist durchaus zwiespältig. Zum einen bewundert man in Kanada natürlich den „großen Bruder“ im Süden, wie man andererseits von diesem etwas von oben herab behandelt und belächelt wird. Dass der „Loonie“ (Can-Dollar) nun seit einiger Zeit wertvoller ist als der US-Dollar, ist für US-Amerikaner völlig unverständlich. Es wird von ihnen, so habe ich es erlebt, als Zumutung angesehen, beim Bezahlen mit US-Dollar in Kanada (da wo es möglich ist) nun einen Aufschlag von 10 % hinnehmen zu müssen. – Andererseits hat man sich in Kanadas Geschichte immer wieder gegen Zugriffsversuche seitens der USA erwehren müssen. Der jetzige Grenzverlauf überwiegend entlang dem 49 Breitengrad ist das Ergebnis eines mühsamen und glücklicherweise unkriegerischen Kompromisses, dem von „Oregon 1846“, geschlossen zwischen Großbritannien und den USA. Aber schon bei der Einverleibung Alaskas durch die USA 1867 kam es erneut zu Grenzstreitigkeiten im Nordwesten, die geschlichtet werden mussten. Schließlich führte der Amerikanische Bürgerkrieg der jungen Kanadischen Union („Dominium of Canada“ 1867) die Kampfbereitschaft Washingtons vor Augen, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen ging, sogar innerhalb der eigenen Union. Abe Lincoln, der gefeierte „Saver of the Union“, kann auch als erster wirklicher Machtpolitiker der USA verstanden werden.

Schon zuvor hatte Kanada beim Amerikanisch-Mexikanischen Krieg 1846 – 1848 zusehen müssen, wie sich die USA in sehr aggressiver Weise große Teile des damaligen Mexikos, nämlich ganz Texas und Arizona sowie California durch gewaltsame Besetzung einverleibte (Annexion). Die Übernahme Alaskas vom Zarenreich 1867 erfolgte zwar geschäftlich durch einen Kauf (Alaska purchase), machte aber zugleich den Anspruch der USA im Norden deutlich, wie der sofort entstehende Grenzkonflikt zeigte. Die einzige wirklich friedliche und für die USA völlig unvermutete Erweiterung, ja Verdoppelung des Territoriums, geschah 1803 auf ein Angebot Napoleons hin im Louisiana Purchase. Im spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 schließlich griffen die USA zum ersten Mal über ihre kontinentalen Grenzen hinaus, besetzten Teile der Karibik (Kuba!), Hawaii, Guam und die Philippinen. Hawaii wurde gegen seinen Willen von den USA okkupiert und schlussendlich wie Alaska 1959 der amerikanischen Union hinzu gefügt (Annexion).

Wen es interessiert: Ich habe eine Übersicht der Geschichtsdaten in einem Text zusammen gestellt: Canada und USA – Geschichte und Daten zu einem schwierigem Verhältnis

Großbritannien und dann das unabhängig gewordene Kanada haben stets erstaunlich gelassen reagiert. Das war offenbar eine Stärke. Eine Antwort auf die Herausforderung des mächtig werdenden und expansiven Nachbarn war die Gründung der „Royal Canadian Mounted Police (RCMP)“, 1873. Zugleich bauten die Kanadier in den von ihnen bzw. der Hudson Bay Company verwalteten Gebieten Forts, um ihren Einfluss zu sichern. Es wurden Verträge mit den Indianerstämmen (heute „First Nations“ genannt) geschlossen, ehe Siedler in die neuen Provinzen hinein gelassen wurden. Das war ein Vorgehen, das sich von dem gewaltsamen Drang nach Westen seitens der US-Siedlungspolitik grundlegend unterschied. Das Feuerwaffen-Verbot in Kanada tat ein Übriges, um „Wildwest-Methoden“ in Kanada weistest gehend zu verhindern, insbesondere beim Yukon Goldrush. Mir scheint, dies ist nicht zufällig, sondern in bewusstem Unterschied und in Abgrenzung zu Anspruch und Verhalten der USA so geschehen. Damit zeigte sich Kanada als das „bessere Amerika“.

Sieht man die USA einmal aus dieser Perspektive eines Nachbarn an, so kommt hier eine machtvolle, aggressive, gewaltbereite Politik in den Blick, die das Verhalten der USA, man könnte sagen, von jeher geprägt hat. Okkupation und Annexion unter Missachtung aller anderen Rechtsansprüche gehörten wiederholt zu den Mitteln der US-Außenpolitik. Man muss also nicht erst nach Korea, Vietnam und den Irak schauen, um die aggressive, zumindest expansive Seite der USA in den Blick zu nehmen. Die kanadische Politik der vergangenen 150 Jahre erscheint auf diesem Hintergrund als erstaunlich sachlich, rational und besonnen. Zuerst an der Seite Großbritanniens ist man nun innerhalb der NATO Bündnispartner.

Heute hat sich das Verhältnis USA-Kanada allein schon deswegen gewandelt, weil Kanada ein Land mit einem ungeheuren Rohstoffreichtum (Erdöl, Erdgas, Seltene Erden) ist und heute schon zum größten Erdöl-Lieferanten der USA geworden ist. Man kann sich leicht vorstellen, was eine (rein hypothetische) Änderung der kanadischen Politik allein im Blick auf die Rohstoffversorgung der USA bedeuten könnte. Es wäre wohl die Gefährdung der Selbständigkeit und staatlichen Integrität Kanadas.

Dieser Blickwinkel aus der Sicht des Nachbarn Kanada hat mir einen neuen Blick auch auf das Verständnis des politischen Verhaltens der USA heutiger Tage gegeben. US-Außenpolitik ist oft nichts anderes gewesen – und ist es bis auf diesen Tag – als die alte Ideologie des Wilden Westens: Kaufen, wenn das nicht geht, nehmen, besetzen, claim abstecken, den neuen Besitz mit Waffengewalt verteidigen. Das Recht folgt später dem Anspruch der Stärke. Das derzeitige Verhältnis zu den arabischen und islamischen Ländern zeigt allerdings auch, dass ein solches Verhalten auf die Dauer nicht folgenlos bleibt. Mir scheint, als erhielten die USA allmählich die Quittung für eine lange Geschichte der gewaltsamen globalen Expansion.