Kategorien
Demokratie Internet Netzkultur Piraten

Netz – Entzauberung

Das Netz im Gegenwind. Der Internetgemeinde weht auf einmal ein eisiger Wind von vorne. Von „Pöbelkultur“ im Netz spricht Richard David Precht und pointiert, soziale Netzwerke seien ein „Modephänomen“. Vor der Gefahr „digitaler Demenz“ warnt Manfred Spitzer in seinem Buchtitel und im TV-Talk, und spitzt zu: Digitale Medien machen dick, dumm und aggressiv. Ein Aufschrei im Netz.

Die Piraten gar, Shooting-Star und Lieblinge der Medien im letzten Jahr, „versacken im Umfragetief“, wie es heißt, und „haben keinen Plan“. Schließlich wird sogar von einem eher liberal eingestellten Journalisten wie Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) die Rechtlosigkeit im Internet beklagt und „endlich“ ein Rechtsrahmen für den Persönlichkeits- und Datenschutz im Internet gefordert. Man merkt: Der Wind hat sich gedreht.

Dann haben sich auf einmal die negativen Schlagzeilen gehäuft. Zuerst die Sache mit Ponader. Negatives Image in der Öffentlichkeit. „Sozialschmarotzer“? Lebenskünstler? Typischer Pirat oder Randfigur? – Feine Risse bei der sonst so positiven Presse über den „frischen Wind“, der dank der Piraten durch die Politiklandschaft wehe. Aber das war, so zeigt sich, nur der Auftakt. Marina Weisband, Liebling der Medien, zog sich zurück. Irgendwie nahm ihr das keiner ab, dass dafür nur private Gründe ausschlaggebend waren. Inzwischen meldet sie sich wieder zu Wort; das derzeitige Elend der Piraten scheint sie auf den Plan zu rufen.

Berichte von Parteitagen der Piraten, die außer technischem (!) Chaos und Personalquerelen nichts brachten. Hinterzimmer – Klüngel in Berlin. Offen ausgetragene Fehden. Shitstorm von Piraten gegen Piraten bei Twitter. Parteitage, die nicht der notwendigen Positionbestimmung, sondern personellen Grabenkämpfen dienen. Hahnenkämpfe. Bis zum Paukenschlag der Sache mit Julia Schramm. Man kann da durchaus von einer Affäre sprechen. Die personifizierte Unglaubwürdigkeit in Sachen Urheberrecht und Eigennutz. Das wäre alles kein Thema (wer hätte sich je über Tantiemen bei Buchveröffentlichung bekannter Politiker aufgeregt?), wenn da nicht dieser riesengroße Anspruch wäre: Wir machen das besser. Transparenz, Beteiligung, Offenheit, Demokratie. Inzwischen schlägt die „Offenheit“ in Langeweile um, weil es keinen mehr interessiert, weil so viel kleinkarierter Dreck auftaucht, den man ohnehin zur Genüge kennt. So wie eigentlich niemanden die Seelenergüsse der Bettina Wulff interessieren. Renate Künast hat das nur auf den Punkt gebracht: „Ich will das gar nicht wissen.“ Auch von den Piraten will man nicht mehr viel wissen. Noch wird ihnen 6 % gegeben in Umfragen.

Es ist der Prozess einer Entzauberung. Wer hoch steht, kann tief fallen. Wer hoch gejubelt wird, fällt meist noch tiefer. Zunächst ist es eine Entzauberung von einzelnen Personen, dann einer ganzen Gruppierung, die gerade erst Partei geworden ist – oder noch auf dem Wege dahin ist. So genau weiß man das nicht mehr. Der Boden der Tatsachen holt die Cyber-Stürmer ein; nicht einmal der Name „Liquid Democracy“ bleibt, denn das Namensrecht für das Programm „Liquid Feedback“ wird ihnen gerade entzogen: „Wir wollen nicht für die gesellschaftliche Etablierung von scheinbar demokratischen Verfahren stehen oder verantwortlich sein, die durch die Teilnehmer selbst nicht überprüft werden können“. So die Programmentwickler. „Solid Feedback“ soll es nun heißen. Solidität. Wunschtraum. Entzaubert. Darüber hinaus: Transformation  der „Netzgemeinde“ zum „Webmob“. So provokativ Ole Reißmann.

Entzaubert werden aber in dem Diskussionsprozess in der „alten“ (analogen) und „neuen“ (digitalen) Öffentlichkeit auch die himmelstürmenden Ideen. Internet = neue Kultur = neue Stufe menschlicher Evolution: Pustekuchen. Wirklich neu ist nur sehr wenig, und was davon anhält, wird sich erst noch zeigen. Da ist zunächst eine sich entwickelnde Technik. Man kann vieles damit und daraus machen, Gutes und Schlechtes. Anlass zum Jubel über neue Bewusstseinsformen und eine neue Qualität der Kommunikation, ja der Demokratie als verwirklichter Beteiligung aller besteht inzwischen keiner mehr.

Facebook ist ein Geschäftsmodell mit derzeit erheblichen Erfolg, wenngleich Übertreibungen (Börse) bereits korrigiert worden sind. Es ist weder das fleischgewordene Urbild menschlicher Kommunikation noch auch nur eine angemessene Abbildung sozialer Strukturen. „Freunde“ heißen nur so, sind es in Wirklichkeit nicht. Facebook zeigt nur eine weitere Möglichkeit unverbindlicher Kommunikation auf. Da ist nichts Außergewöhnliches dran. Spaß kanns trotzdem machen.

Google ist nicht der „neutrale“ Gatekeeper des Netzes, als der es sich gerne darstellt. „Don’t be evil“ hat sich erledigt. „Neutrale Suchergebnisse sind eine Fiktion.“ Und weiter Mayer-Schönberger: „Es gilt Kransberg’s Law: »Technology is neither good nor bad, nor is it neutral.« Bei Google geht es um Wertvorstellungen davon, wie Informationen sortiert werden, was relevant ist. Das bildet der Algorithmus ab. Und selbst wenn ein Algorithmus neutral sein könnte, ist er es im Falle von Google nicht, weil das Unternehmen einen Teil seiner Suchergebnisse manuell verändert.“ So läuft professionelle Firmenpolitik.

Und zu Apple fällt mir schon gar nichts mehr ein, seit die Heiligsprechung von Steve Jobs als etwas peinlicher Nekrolog verklungen ist. Ein stinknormales, derzeit äußerst erfolgreiches Unternehmen. Nur harte Bandagen können es mit ihm aufnehmen. Siehe Hans-Jürgen Jakobs Kommentar heute in der „Süddeutschen“: „iGier“. Trotzdem kann man das iPhone 5 mögen.

Auch Wikipedia hat die Unschuld verloren, wenn es sie denn je hatte. Erneut sind Manipulationsvorwürfe aufgetaucht gegenüber „korrupten Autoren“ und bezahlten Artikeln. Aber es ist ohnehin erkennbar, dass Wikipedia selbst zum Feld gesellschaftlicher und kulturpolitischer Auseinandersetzung geworden ist (Greenstein-Studie: 40 % der Artikel „tendenziös“)  – wie sollte es auch anders sein. Wikipedia = „crowd-qualitätsgesicherter Content“ ist darum noch längst kein Gütezeichen. Brauchbar ist es allemal.

Da ist zu viel „Evangelium“ im Spiel gewesen, zu viel Enthusiasmus, zu viel quasireligiöse Hoffnung und Verheißung, zu viel Ideologie. Das Internet samt „Netizens“ kann das niemals einlösen. Es ist eine Technik, eine Infrastruktur wie die Straßen. Was man draus macht, hängt von den Menschen ab, die es benutzen. Da gibt es keinerlei Anlass zur Glorifizierung, denn neben den Heiligen wohnen stets die Schurken. Allzu oft haben Verkünder eines neuen Heilsverheißung nur eine neue Form der „Hölle“ gebracht. „CTRL-Verlust“ kaschiert nur den Verlust des eigenen Denkens. Mehr Realismus und mehr kritische Distanz ist nötig. Das zu betonen ist das berechtigte Anliegen eines Spitzer oder Precht.

Ich nenn’s eine Entzauberung. Sie war / ist überfällig.

P.S.: Möchte nicht versäumen, auf den bitterbösen Kommentar von Rainer Meyer (Don Alphonso) im FAZ-Blog hinzuweisen. Thema Julia Schramm & Co.