Wir haben uns daran gewöhnt, in einer „christlich – abendländischen“ Tradition zu leben. Unsere europäische Welt ist aus dem „christlichen Abendland“ hervor gegangen, heißt es. Manche bezeichnen auch die Gegenwart noch als geprägt durch die „christlich-abendländischen Werte“. Dies wird mit besonderer Emphase gegen den Satz ins Feld geführt, der Islam gehöre zu Deutschland. Ganz abgesehen davon, dass es ziemlich unklar bleibt, welches denn die christlich-abendländischen Werte eigentlich sind, denen man sich verpflichtet fühlt, dient der Begriff „christliches Abendland“ eher als Parole in einem kulturpolitischen Abwehrkampf denn als klare Beschreibung einer geschichtlichen Wirklichkeit. Das so oft bemühte Bild vom „christlichen Abendland“ bedarf einer grundlegenden Revision.
In einem Kommentar von Thomas Urban in der heutigen Süddeutschen Zeitung (02.10.12 S. 3) über das Streben einiger spanischer Regionen nach Unabhängigkeit lese ich folgendes:
Auch im heißen Andalusien, der bevölkerungsreichsten Region Spaniens, hat sich ein starkes kulturelles Bewusstsein entwickelt. Es schöpft seine Kraft aus der Rückbesinnung auf das maurische Erbe. Dieses wurde jahrhundertelang im katholischen Spanien zerstört und aus dem Gedächtnis gestrichen. Doch nimmt ein wachsender Teil der heutige Elite Andalusiens das Kalifat von Córdoba und das Sultanat von Granada als Hochkultur wahr, die von Kastilien brutal zerschlagen wurde.
Genauer gesagt: Vom katholischen Kastilien wurde im Namen der Päpste und wiederholt unter dem Titel eines „Kreuzzuges“ das Unternehmen „reconquista“ durchgeführt (Hauptphase im 11. Jhdt.) zur „Rückeroberung“ Spaniens von den Mauren. Dies klingt nach einer Episode spanischer Geschichte in einem „Winkel“ Europas. Das Gegenteil ist der Fall. Die „Mauren“ in Spanien haben in einem kaum hoch genug zu schätzenden Ausmaß Wissenschaft, Denken und Kultur Europas insgesamt geprägt und beeinflusst, ja man kann zuspitzen: überhaupt erst ermöglicht.
Die Entwicklung des abendländischen Denkens ist ohne die Rezeption der arabisch-islamischen Kultur überhaupt nicht zu verstehen. Die Kenntnis der griechischen Philosophie, der indischen Mathematik, der morgenländischen Medizin und Astronomie gelangte ausschließlich über das maurische Spanien, also über Al-Andalus zu uns. Die Wiederentdeckung des Aristoteles war überhaupt erst möglich, seit man seine Schriften zuerst aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzte (Übersetzer-„Schule“ von Toledo), ehe man Jahrhunderte später während der Renaissance nach den griechischen Originalen stöberte. Bis dahin waren von Aristoteles nur die Logik und Dialektik bekannt, „propädeutische“ Schriften gewissermaßen. Insofern war dann auch die Wiederbelebung der Antike im 14. und 15. Jahrhundert (Renaissance) nur auf dem Hintergrund der spanisch-arabischen Vermittlung möglich.
Es ging nicht nur um die „alten“ griechischen Philosophen. Es ging um das gesamte griechisch-hellenistische Erbe und seine Weiterentwicklung im arabisch-islamischen Kulturraum. Nachdem der oströmische Kaiser Theodosius 391/392 der griechisch-„heidnischen“ Tradition den Kampf angesagt und die griechische Philosophie unter Kaiser Justinian 590 verboten wurde (Schließung der „Akademie“ Athen), war das griechisch-römische Erbe mehr oder weniger verwaist. Die (uns heute völlig unbekannt gewordenen) islamischen Philosophen waren es, die sich dieses Erbes annahmen, es pflegten und weiter entwickelten: Alkindi (†873), Alfarabi (†950), Avicenna (†1037), Avepacem (†1138), Averroës (†1198) u.a.m. waren bedeutende Denker und Wissenschaftler, zum Teil Ärzte, in Bagdad, Teheran, Cordoba, Malaga, Fez, welche die Grundlagen für das mittelalterliche Denken und Wissen im Abendland legten. Ihre Schriften, besonders die Aristoteles-Kommentare des Averroës, wurden „Standardliteratur“ in dem geistesgeschichtlichen Aufholprozess des Abendlandes, der unter anderem in die sogenannte „Scholastik“, also „Schulphilosophie“, führte.
Das Denken und die Schriften der mittelalterlichen „Großen“ wie Thomas von Aquin (Rom, Neapel), Duns Scotus (Paris), Albert dem Großen (Köln) und Meister Eckhart (Erfurt, Straßburg, Paris) gründete auf der arabisch-griechische Philosophie und / oder stand in steter Auseinandersetzung mit ihr. Noch ein Nikolaus Cusanus (†1464), der als Ausklang des Mittelalters und Wegbereiter der europäischen Neuzeit gilt, fußt auf den Traditionen Avicennas und Averroës‘. Dies ist alles seit Jahrzehnten bekannt und wird entsprechend selbstverständlich seit langem in Philosophie und Geschichtswissenschaft diskutiert. Der „deutsche Mystiker“ Eckhart ist längst als Phantasieprodukt einer nationalen Romantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts entlarvt. Das Mittelalter und seine „Aufklärung“ im 13. Jahrhundert war sehr anders und viel lebendiger, als es uns heute meist im Gedächtnis ist (wenn überhaupt).
Die abendländische kulturelle Tradition speist sich also aus sehr unterschiedlichen Quellen und Strömen, das jüdische Erbe gehört dazu, das hellenistisch-römische, das islamisch-arabische, das christliche, um nur die Hauptlinien zu nennen. Darum ist es für das Verständnis und für die Kennzeichnung unserer abendländischen Tradition, ihrer Denkweisen und Werte, allererst abzuklären, welche Rolle das spezifisch Christliche dabei gespielt hat. Diese Rolle dürfte nüchtern betrachtet sehr viel negativer und ambivalenter ausfallen, als es der heutige Sprachgebrauch vermuten lässt. Die Spanier in Andalusien schicken sich an, ihr Geschichtsbild neu zu schreiben und das Erbe von Al-andalus wieder zu entdecken.
Dasselbe täte uns im Großen und Gesamt Europas not. Die abendländische Tradition ist ungemein vielfältig, widersprüchlich und verschlungen, viele uns heute selbstverständliche Denkweisen mussten oft erst gegen die „Mächte“ (vor allem Roms) errungen werden. Das „christliche Abendland“ ist ein apologetisches Zerr- oder Wunschbild (je nach Standpunkt) unserer Neuzeit. Zur Gewinnung einer sachlichen, nüchternen und religions-neutralen Betrachtung aber ist eine Revision unseres traditionellen Geschichtsbildes erforderlich. Es ist dran. Es täte uns auch hinsichtlich der gegenwärtigen Diskussion um „Christentum“ und „Islam“ nur gut. Es wäre die Wiedergewinnung einer säkularen Geschichtsinterpretation.