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Hirnforschung Wissenschaft

Was zu wissen ist

Die Debatte um „Geist & Gehirn“ ist derzeit wieder etwas aus dem Fokus geraten. Die „alten Matadore“ (wie zum Beispiel Gerhard Roth, Wolf Singer und Peter Janich) haben die Standpunkte hinreichend geklärt, um sich darin einig zu sein, nicht einig zu sein. Manfred Spitzer, Neuropsychiater und „führend“, wenn man „Geist & Gehirn“ als Suchbegriffe bei Google eingibt, erklärt dem Fernsehpublikum des Bayrischen Rundfunks auf dem Kulturprogramm BR alpha seit Jahren in 15 Minuten – Häppchen die Welt aus Sicht des Hirnforschers. Inzwischen gibt es 12 Staffeln oder 9 DVDs. Eine solche Welterklärung und neurophysiologische Aufhellung unseres Alltags (wie war eigentlich das Leben vor Spitzer?) bleibt nur medienbedingt unwidersprochen. Einer Studiosendung oder DVD lässt sich schlecht antworten. Guru-Level. Widersprochen wurde darum seiner ‚wissenschaftlichen‘ These, Internet verblöde, umso heftiger. Vielleicht hat ihn sein Kult-Status im BR zu sehr verwöhnt. Anyway.

Raffael, Schule von Athen (Wikipedia)

Die Diskussion um Hirnforschung und Geisteswissenschaft, um „mind & brain“, um eine mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Psychologie und Neurologie einerseits und der ‚geisteswissenschaftlichen‘ Philosophie und Theologie andererseits hat aber inzwischen doch einen gemeinsamen Nenner gefunden, der kaum mehr bestritten und unterschritten werden kann. Natürlich gibt es weiterhin Hirnforscher, die einen naturwissenschaftlichen Determinismus vertreten, so wie es weiterhin Philosophen gibt, die die Ergebnisse der Hirnforschung fröhlich ignorieren. Interessanter und weiter führender ist aber eine jüngere Generation Wissenschaftler, die bei Anerkennung unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden an der Einheitlichkeit unseres Begriffes von Wirklichkeit festhalten, also jenseits der „alten Kampfbegriffe“ von Dualismus und Monismus argumentieren. Der Bonner Neuropsychologe und (kath.) Theologe Christian Hoppe ist einer von ihnen. Aus seiner medizinisch-ethischen Praxis heraus (Klinik für Epileptologie) fasst er die wissenschaftliche „Leitidee“ der Hirnforschung wie folgt zusammen:

Die Leitidee der modernen Hirnforschung ist, dass sämtliche psychischen Vermögen und Phänomene, soweit wir diese kennen und überhaupt als solche identifizieren können, von Hirnfunktionen (bzw. den Funktionen eines Nervensystems) und letztlich vom intakten Organismus abhängen. Was Ihr Auge für das Sehen ist, ist Ihr Gehirn für die Gesamtheit Ihrer psychischen Vermögen, das heißt für Wahrnehmung, Gefühle, Erinnerungen, Denken usw. Anders formuliert lautet die These: Es gibt keine psychischen Phänomene ohne Hirnfunktion.

Er ordnet seine ebenso klar wie knapp formulierte Leitidee gleich selber ein und grenzt sie damit gegen Missverständnisse ab:

Die Leitidee fasst den aktuellen Stand nach sagen wir 150 Jahren Hirnforschung zusammen und definiert die Forschungsagenda für die nächsten Jahrzehnte. Sie ist eine naturwissenschaftliche, keine philosophische These. Wir bewegen uns jetzt auf der konzeptuellen Ebene und lassen die Details abertausender von Hirnforschungsstudien weiter hinter uns. Die Leitidee ist eine sehr minimale These, ohne große Spekulationen, der daher wohl die meisten Neurowissenschaftler zustimmen würden. Da nicht über mögliche Mechanismen spekuliert wird, macht sich die Leitidee in dieser Hinsicht auch nicht angreifbar. Sie beharrt lediglich auf einer Feststellung: nicht ohne Gehirn. (vgl. sein Buch „Ohne Hirn ist alles nichts„.)

In seinem Beitrag für den Blog WIRKLICHKEIT – Hirnforschung & Theologie (SciLogs) führt er dies umfassend und äußerst erhellend aus. Die Lektüre sei jedem Interessierten empfohlen. Ich kann mir diese Position gut zu eigen machen. Dahinter sollte man in der heutigen und künftigen Diskussion eben auch in der Philosophie (und Theologie) nicht mehr zurück fallen. Zwar betont Hoppe, dass es sich dabei um eine eher minimalistische Beschreibung handele, die gewissermaßen den ’state of art‘ der Neurowissenschaften festschreibt, dabei hält er an dem Anspruch fest, dass die Wirklichkeit eine sei und nicht in zwei ‚Wirklichkeiten‘ zerfalle. Daraus folgt dann schon ein Ausgehen von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, aber genau deswegen, weil wir andere Erkenntnisse nicht zur Verfügung haben.

Die existenziell bedeutsame Frage nach dem Zusammenhang von Gehirn und Geist kann offensichtlich nur mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden bearbeitet werden. Erst seit wenigen Jahrzehnten sind wir überhaupt in der Lage, auf ungefährliche Weise hinter die Stirn bzw. unter die Schädeldecke eines Menschen zu schauen und sein Gehirn zu Lebzeiten zu beobachten; diese erstaunliche Möglichkeit macht die „moderne Hirnforschung“ erst modern. Ihre persönliche Meinung zu diesem Thema ist daher, mit Verlaub, irrelevant, da Ihnen ein beobachtender Zugriff auf die zugrunde liegenden Hirnprozesse ohne entsprechende Gerätschaften prinzipiell verwehrt ist. Niemand fragt Sie, ob Sie der Meinung sind, dass das Herz das Blut durch den Körper pumpt; hierbei handelt es sich um physiologische Fakten, die wir lediglich zur Kenntnis nehmen können, und es gibt hier keinen Bedarf für einen Dialog zwischen Kardiologie und Theologie.

Bevor es hier nun wieder gleich zum Widerspruch und Protest kommt über die „moderne“ Dominanz naturwissenschaftlicher Sichtweisen und Methoden, möchte ich an einen recht alten Schriftsteller und Dichter erinnern, der eigentlich etwas Ähnliches sagt. Natürlich kannte er die moderne Hirnforschung nicht, wie er überhaupt kein Mensch der Moderne, sondern des „klassischen“ Altertums war. Seine Auffassung von Mensch und Welt, von der Wirklichkeit der Natur und des Lebens ist aber erstaunlich modern. Er folgte bereits einem berühmten Lehrer, den zu unterdrücken sich die gesamte weitere christliche Kirchengeschichte über 2000 Jahre emsig bemüht hat. Der große Lehrer ist der griechische Philosoph Epikur, den man als „Lustmolch“ verunglimpft hat, und sein größter lateinischer Schüler ist Lucretius Caro, genannt Lukrez ( †~ 50 vuZ) in seiner berühmt-berüchtigten Schrift De rerum natura. Einen hervorragenden Zugang gewinnt man durch das aktuelle Buch von Stephen Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2011 (engl: The Swerve. How the World Became Modern, 2011).

Ich stelle hier nur die Überschriften aus der zusammenfassenden Inhaltsangabe von Lukrez‘ De rerum natura nach Greenblatt zusammen (vgl. dort das Kap. 8):

Alles Seiende ist aus unsichtbaren Teilchen zusammengesetzt. Diese elementaren Teilchen der Materie – die »Keime der Dinge« – sind ewig. Die elementaren Teilchen sind unendlich in ihrer Zahl, aber begrenzt in Gestalt und Größe. Alle Teilchen bewegen sich in einer unendlichen Leere. Das Universum hat keinen Schöpfer oder Designer. Alle Dinge entstehen infolge geringer Abweichungen (clinamen, swerve). Die zufällige Abweichung, der kleine Ruck ist Ursprung auch des freien Willens. Die Natur experimentiert unaufhörlich. Das Universum wurde weder wegen noch für die Menschen erschaffen. Nicht das Schicksal der Gattung (geschweige denn das des Einzelnen) ist der Pol, um den sich alles dreht. Menschen sind nicht einzigartig. Die menschliche Gesellschaft hat nicht mit einem Goldenen Zeitalter der Ruhe und der Fülle begonnen, sondern als urtümlicher Kampf ums Überleben. Die Seele ist sterblich. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Der Tod berührt uns nicht. Alle organisierten Religionen sind abergläubische Täuschungen, Religionen sind allesamt grausam. Es gibt keine Engel, keine Dämonen und Geister. Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist Steigerung des Genusses und Verringerung des Leidens. Nicht Leid ist das größte Hindernis auf dem Weg zur Lust, sondern Täuschung. Der Versuch, Leid zu vermeiden, ist vollkommen vernünftig: Das Verstehen der Dinge und ihrer Natur weckt großes Staunen.

Statt „Lust“ und „Genuss“ würden wir heute eher „Glück“ sagen, oder Wohlstand. Dem Ziel möglichst „glücklich“ zu leben stimmt jedermann zu und bekräftigt es bei jedem Geburtstags-‚Glück’wunsch. Das Glück des Menschen sogar als politisches Ziel verfolgt die US-amerikanische Verfassung, wenn dort vom Grundrecht auf „life, liberty and the pursuit of happiness“ die Rede ist. Kein Wunder – Thomas Jefferson kannte und schätzte „seinen“ Lukrez. Man wundert sich bei dieser knappen Zusammenfassung des Lukrez auch nicht, wenn er ebenso wie sein geistiger Vater Epikur von der katholischen Kirche verfolgt bzw. unterdrückt und verdammt wurde. „Epikureismus“ war einer der beliebtesten Vorwürfe der Inquisition. Dabei wurde weniger an ausschweifenden Lebensstil gedacht (den pflegten die Bischöfe ja selber zu gerne), sondern an den Atomismus, der die „Wandlung“ des Altarsakraments bestritt, und an die Lehre von der Sterblichkeit der Seele, denn sie entzog dem Bußsakrament jegliche Legitimation. Die Kirche erkannte sehr schnell , das ihr damit die Axt an die Wurzel gelegt wurde. Dadurch gerät ihre Macht und somit ihre Existenzberechtigung ins Wanken. Ist Lukrez darum auch heute noch so wenig bekannt im „christlichen Abendland“? Jedenfalls ist das, was er sozusagen aus der Perspektive des natürlichen „gesunden Menschenverstandes“ dichterisch verfasst hat, eine Basis, die ganz nahe bei dem liegt, was heute „Leitidee“ der Hirnforschung und des Wissens vom Menschen überhaupt ist.

Nein, Geschichte wiederholt sich nicht, aber bisweilen entdeckt man Berührungen über einen Abstand von 2000 Jahren, die doch verblüffend sind. Jedenfalls stelle ich mir Lukrez als fröhlichen Mitdiskutanten vor auf dem Podium derer, die sich bis heute den Kopf darüber zerbrechen, was wir, – was der Mensch denn wissen kann und hoffen darf.