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Menschenrechte Terrorismus USA

>Noch längst nicht genug gesagt über 9/11

>Heute am zehnten Jahrestag des Anschlages auf die Twin Towers in New York ist in den Zeitungen viel zu lesen über die Anschläge damals, über den Terrorismus und den Krieg dagegen, über Sicherheit und ständige Bedrohung, über die Veränderung, die die Anschläge in der Welt bewirkt haben. Man kann manches Überzogene lesen, wie Wolfgang Günter Lerch: „Amerika erfuhr die schlimmste Attacke seit Menschengedenken.“ Aber es werden von ihm auch möglichst genau die Linien nachgezeichnet, die zu diesen Terroranschlägen geführt haben. Direkte Vorläufer und Vorgänge aufzuzählen (der Anschlag auf das WTC in New York 1993, die Attacke auf USS Cole 2000 usw.) heißt noch nicht, die Ursachen und Gründe zu kennen, die zu diesem Ausbruch des Terrorismus islamischer Prägung führte. Da ist manchen Kritikern des verordneten Gedenkens und des medialen Hypes um 9/11 Recht zu geben. Auch die Langzeitwirkungen zu benennen, die vor allem aus der US-amerikanischen Reaktion auf die Terroranschläge im Jahre 2001 resultierten (war on terror = „von Hybris durchtränkte Gegenstrategie“, Günther Nonnenmacher), ist an diesem Tage sicher hilfreich und wichtig, weil man allzu schnell vergisst, wie anomal die normal gewordene Sicherheitsbesorgnis eigentlich ist. Reymer Klüver gibt darüber einen guten Überblick. In den ersten Jahren nach 2001 muss man von einer ausgeprägten Sicherheits-Hysterie sprechen. Aber die Terrorattacken in Madrid (2004) und London (2005) zeigen, dass man auch anders, will sagen zivilisierter und rechtsstaatlicher mit solchen Anschlägen umgehen kann, als es die USA in einem grenzenlosen Rache-Rausch (Bush’s „war on terror“) vollführten. Immerhin hat es das Land seine Wirtschaftskraft, seinen weltpolitischen Primat und seinen Vorbildcharakter gekostet. Die USA als Hort der Menschenrechte und Freiheit, dies Bild ist in den Jahren nach 2001 nahezu restlos aufgebraucht; dafür genügen heute die Stichworte Abu Ghraib und Guantánamo. Aber auch innenpolitisch haben sich die USA stark verändert: „Auch die extreme Zerrissenheit des Landes sehen manche als indirekte Folge von 9/11. Die Invasion Iraks, die Präsident Bush als Teil des Kriegs gegen den Terror rechtfertigte, hat das politische Klima in den USA vergiftet, findet der Politikprofessor Christopher Gelpi von der renommierten Duke University. Und Paul Kennedy, einer der Großhistoriker der USA, sieht Amerika steuerlos abdriften, weil die politische Führung auf den Kampf gegen den Terror fixiert war: „Das soziale Gewebe des Landes ist am Zerfasern“, schrieb er vor ein paar Tagen, und „das könnte die wahre Erblast von 9/11 sein.““ Das Ende der Supermacht USA, das könnte das wahre Erbe von 9/11 sein – ein später Triumph des toten Bin Laden.

Auf diesen Aspekt weist besonders Arundhati Roy hin in einem durchaus lesenswerten Interview-Beitrag der ZEIT. Nun darf man von Roy als Literatin keine ausgewogene politische Analyse der Vorgänge und Auswirkungen von 9/11 erwarten. Es ist vielmehr eine sehr subjektiv geprägte Momentaufnahme aus der indischen Mittelstands-Wirklichkeit. Roy schreibt leidenschaftlich und engagiert, dabei auch widersprüchlich und nicht ohne Überheblichkeit. Aber sie weist auf manches hin, was in der Diskussion über 9/11 sonst zu kurz kommt, etwa auf die Verquickung von Militärindustrie und Kriegspolitik unter Bush / Cheney, aber das gilt auch für die US Administration überhaupt, auf die Einseitigkeit westlicher Werte und Kulturvorstellungen, auf das Leiden der Armen und auf den zunehmenden weltweiten Kampf um Ressourcen. Alles richtig, alles wichtig, alles auch zu bedenken. Dennoch wird man bei Roy das Gefühl nicht los, dass sie ihre Mission sehr gut mit den Mitteln zu vermarkten weiß, die sie dann so vehement kritisiert. Wie so oft leben die schärfsten Kritiker eines Systems oft nur so sicher, weil es dieses System gibt. Nun, man mag das Interview und Frau Roy bewerten, wie man will, es ist eine Stimme zu und nach 9/11, die zu Recht gehört sein will.

Diese Beispiele zeigen schon, dass über die Anschläge vom 11. September 2001 noch lange nicht genug nachgedacht worden ist. Erst mit dem Abstand der Zeit tun sich neue Perspektiven und Draufsichten auf, die dies Ereignis angemessener zu beurteilen helfen. Insofern kann ich denen, die sich entrüstet und polemisch über die viele mediale Präsenz des Themas 9/11 in diesen Tagen äußern, nicht folgen. Vielmehr will ich zu mehr Sachlichkeit auffordern und dazu, lieber selber einmal genauer nachzudenken, als beliebte Verschwörungstheorien zu zitieren (Moore!) oder sich über die USA allgemein zu entrüsten, – ein „Ami bashing“ als recht primitive Gegenbewegung. Es gibt weiß Gott noch viel zu sagen und zu denken über die Ursachen und Gründe, aber auch über die Folgen und Wirkungen der Anschläge vom 11. September. Ein Paradigmenwechsel ist eingetreten, so viel ist sicher, nur wohin und wozu? Wir werden weiter beobachten – und darüber noch viel reden und schreiben müssen, wenn denn gilt, was Günther Nonnenmacher (s.o.) schreibt: „Die Ära der „einzig verbliebenen Supermacht“ geht zu Ende, es zeichnet sich eine Ära der Unsicherheit ab, in der die Macht in der Welt neu verteilt wird.