Wenn denn gilt (wie im vorigen Beitrag dargestellt): kein psychisches Vermögen ohne Hirnfunktion, „nichts ohne Gehirn“ (Hoppe), wo bleibt dann der „Geist“, die geistigen Kräfte, das geistige Vermögen, lateinisch mens, griechisch nous? Was hat ‚dann noch‘ der Bereich des Mentalen, Noëtischen für eine Wirklichkeit? Strikte „Reduktionisten“ reduzieren hier alles auf die neurale Ebene; es sind schlicht Hirnfunktionen. Wie bei der klassischen Religionskritik eines Feuerbach wird von „physikalistischen“ Hirnforschern wie Wolf Singer oder Gerhard Roth gerne die Formulierung „nichts anderes als“ gebraucht, als entlarve man einen schönen Schein. Die Wirklichkeit dahinter aber sei in unserem Falle materiale Biochemie und Bioelektrik. Der Geist ist dann „nichts anderes als“ eine spezielle Hirnfunktion, zumindest „beruht“ er auf ihr. Reicht das? Anders gefragt, wird das dem Phänomenen des Geistigen gerecht?
Ich sehe das weniger monokausal und reduktionistisch, so als könne man eine Persönlichkeit und ihr Empfinden („Qualia“) einfach messen und in bildgebenden Verfahren darstellen. „Nichts ohne Gehirn“ meint zwar ganz klar und eindeutig, dass in unserer einen durch unsere menschliche Natur gegebenen Wirklichkeit alle psychischen und mentalen Vorgänge und Vermögen von Funktionen des Nervensystems abhängen, mit ihnen also bestehen und vergehen, aber damit ist über die „Welt“ des Geistigen noch gar nichts gesagt. Karl Popper hat sehr schön von der „Welt 3“ gesprochen, was nicht die Denkakte („Welt 2“ = psychische Phänomene) meint, sondern die Denkinhalte bezeichnet. Ob die Unterscheidung in drei „Welten“ glücklich und heute noch brauchbar ist, sei dahin gestellt. Es geht aber um den Bereich der Denkinhalte, der geistigen „Gegenstände“ des Denkens, der Kunst, der Poesie. Für den geistigen Bereich gibt es eigene „Gesetze“, Regeln des Denkens wie die Logik zum Beispiel, Regeln des Zählens und abstrakten Verknüpfens wie die Mathematik, Regeln der Räumlichkeit wie in der Geometrie, usw.. Geistige, künstlerische oder philosophische „Konstrukte“ haben eine eigene Art der Wirklichkeit, zwar als Konstruktionen, d.h. Produkte unserer geistigen Tätigkeit, aber dann doch in gewisser Weise unabhängig von uns als einzelnen Personen, selbständig, mitteilbar, kommunizierbar und allgemein gültig. Man kann seine Gedanken nieder schreiben, fest halten und für andere aufbewahren, man kann die Gedanken und „Theorien“ („Anschauungen“) anderer Menschen, die Jahrhunderte früher gelebt und gedacht haben, lesen, aufnehmen und nach vollziehen, sich mit ihnen auseinander setzen, sie kritisieren oder weiterführen.
Der Bereich des Geistigen ist ein eigener, unabhängiger Bereich unserer Lebenswelt. Er gehört zu unserer Wirklichkeit, ist für uns wirklich, stellt aber keine zweite, andere Wirklichkeit dar, keine zweite „reale“ Welt hinter, unter oder über unserer Welt, wie wir sie von Natur aus haben und erleben. Ich gebrauche statt des missverständlichen Bildes einer „eigenen Welt“ oder „Wirklichkeit“ des Geistigen lieber das Bild einer (grafischen) Ebene, eines Layers. Mit unseren mentalen Fähigkeiten und Vermögen sind wir Menschen tatsächlich in der Lage, unsere gegebene natürliche Welt, der wir ganz und gar angehören und der wir unsere Existenz verdanken, mit einer weiteren Ebene, mit einem geistigen Layer zu überziehen und auf diese Weise die natürliche Wirklichkeit noch einmal anders zu erleben, zu deuten, zu interpretieren, zu verstehen und zu gestalten. Diese Ebene des Geistigen ist wie ein eigenständiger Gegenstandsbereich zu betrachten, kommunikabel und mit anderen teilbar. Manches aus dem Bereich unserer geistigen Welt kann sogar uns selbst, wenn wir sterben und unsere Hirnfunktionen aufhören, unsere mentalen Tätigkeiten für immer enden, überdauern: Eine musikalische Komposition, ein Gemälde, ein Gedicht, ein (hoffentlich) kluges Buch. Nur insofern kann man bildhaft vom Geistigen als einer eigenen und eigenständigen Welt sprechen.
„Nichts ohne mein Gehirn.“ Wie ich diesen minimalen Konsens mit der Hirnforschung verstehe, tut es der Bedeutung und der Kraft dessen, was ich als „geistige Welt“, als geistigen Layer der natürlichen Wirklichkeit beschrieben habe, keinerlei Abbruch. Im Gegenteil, es holt die Gegenstände des geistigen Tuns, Denkens, Schaffens aus dem fatalen „Reich“ einer künstlichen Welt heraus, befreit sie vom falschen Schein ideologisch verstellter „Wirklichkeit“ und macht sie menschlich: Das geistige Sein als eine ganz spezielle Seite und Fähigkeit des Menschen, als ein ungemein schönes und reiches Tun des Menschen, der mit seinen geistigen, mentalen Fähigkeiten sogar die Grenzen seiner Endlichkeit in der Vorstellung überwinden kann. In der Vorstellung und verankert in unserer natürlichen, endlichen Existenz als Homo sapiens. Die Philosophen vor und nach Platon haben es eigentlich immer schon gewusst und sich bemüht, die eine Wirklichkeit unserer geistigen und natürlichen Existenz angemessen zu beschreiben und „irgendwie“ zutreffend auszusagen, also die Wirklichkeit des Denkens und Seins zu begreifen.
Wer daraus eine zweite, gleichsam doppelte Realität macht, verfällt dem Fehler der Religionen, wenn sie das Bild, das Symbol, die Allegorie und das Erleben bestimmter psychosozialer Erfahrungen zur „anderen“, zeitlich verdoppelten Wirklichkeit verklären, mit allen desaströsen Folgen des falschen Scheins, der Täuschung, des Betruges und der Gewalt. Auch die Religion kann nur gewinnen, wenn sie sich als Kraft des Symbolischen in der einen natürlichen Wirklichkeit des endlichen Menschen begreift. Auch hier kann ich in der Tendenz noch mit Christian Hoppe übereinstimmen, wenn er am Ende seines Vortrages schreibt:
Nun – ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass das Einheitsdenken der Naturwissenschaftler in Bezug auf die Wirklichkeit und besonders der Antidualismus der Hirnforscher eine große Chance bietet, irrtümlich für christlich gehaltene weltanschauliche Überzeugungen nun endlich zur Seite zu räumen. Nur so bekommen wir wieder den Blick frei für das eigentliche Wesen des biblisch-christlichen Glaubens. Dieser Glaube hat mit einem dualistischen, weltabgewandten Platonismus nicht viel gemein.