>Nachträgliche Gedanken zum „Tag der Deutschen Einheit“
Nach dem „Tag der Deutschen Einheit“ gehen mir immer wieder Gedanken durch den Kopf, welche Möglichkeiten in solch einem Tag liegen. Es geht vielleicht nicht allein um das Gedenken der Wiedervereinigung, die am 3. Oktober 1990 Rechtskraft erlangte. Besonders im vergangenen Jahr, dem 20. Jahrestag, stand dies Erinnern naturgemäß im Vordergrund. Aber in diesem Jahr fiel mir zum ersten Male auf, dass an einigen wenigen Stellen in den Medien vom „Nationalfeiertag“ gesprochen wurde. Das ist formal völlig richtig, denn dieser 3. Oktober, der „Tag der Deutschen Einheit“, ist der einzige durch Bundesgesetz festgelegte „gesetzliche Feiertag“, also ein Feiertag für das gesamte vereinigte Deutschland, nicht nur eines oder einzelner Bundesländer wie alle übrigen gesetzlichen Feiertage. Damit hat dieser Tag tatsächlich formal den Charakter eines nationalen Feiertages.
Ich denke aber mehr an die inhaltlichen Möglichkeiten, die sich vielleicht schon in diesem Jahr ein wenig gezeigt haben (in Berlin mehr als in Bonn, wenn man der Berichterstattung glauben darf). Die Erinnerung an die Einigung des vorher zweigeteilten Deutschlands steht ja nicht geschichtslos da. Das zeigten schon vor 21 Jahren die Überlegungen, welches Datum denn für diesen Gedenktag in Frage kommen könne und welches nicht; der thematische Artikel in der Wikipedia erinnert an die damals genannten und zu Recht verworfenen Alternativen. Wenn es negative Ereignisse in der deutschen Geschichte gibt, an die möglicherweise zu erinnern ein unpassendes Datum des „Tages der Deutschen Einheit“ nahe gelegt hätte, so ist es doch heute viel interessanter und vielleicht Zukunft weisender, an diesem Tag auch an diejenigen Ereignisse in der deutschen Geschichte zu erinnern, die sagen wir einmal ‚positiv besetzt‘ sind, also an die Geschichte der demokratischen Bewegung zu erinnern, die zwar nicht so erfolgreich war, das imperialistische Kaiserreich und die nationalsozialistische und danach die kommunistische Tyrannei zu verhindern, die es aber doch gab und an die zu erinnern ein Nationalfeiertag geeigneten Anlass böte. Natürlich müsste genauer geprüft werden, welche geschichtlichen Zusammenhänge hier ins nationale Gedächtnis gerufen zu werden verdienen und ob hier nicht auch eine gewisse Offenheit wünschenswert wäre. Ich denke da einmal ganz vorläufig und ungeschützt beispielsweise an die Frankfurter Nationalversammlung, die 1848/49 in der dortigen Paulskirche tagte („Paulskirchenversammlung“), die immerhin die Grundlagen für die spätere parlamentarische Demokratie in Deutschland legte, aber auch an die Gründung der Weimarer Republik 1919 als erster im neuzeitlichen Sinne demokratischen Staatsform auf gesamtdeutschem Boden; unser Grundgesetz ist ohne die Weimarer Reichsverfassung kaum zu verstehen. Ich meine dies weniger im Sinne eines sog. „Verfassungspatriotismus“ (Richard von Weizsäcker, Jürgen Habermas, für mich schon begrifflich ein Unding), als vielmehr im Sinne der Intention, geschichtlich bedeutsame Ereignisse oder besser Linien und Ideen ins Gedächtnis zu heben, die für die Existenz und das Verstehen unserer Verfassung, eben des Grundgesetzes (z.B. auch warum dies nicht Verfassung heißt) notwendig sind, die also für die positive Vorgeschichte eines demokratischen, freiheitlichen und friedlichen Deutschlands wesentlich sein können.
Auf diese Weise könnte auch ein Bewusstsein entwickelt und geschärft werden, das sich auf Deutschland als Ganzes bezieht – und nicht nur auf einzelne Bundesländer (z.B. „Wir in NRW“) oder Regionen („Franken“, „Westfalen“ usw.). Es ist aus meiner Sicht etwas dürftig, Patriotismus nur bei Fußballereignissen als angemessen zu betrachten. Das zeigt allenfalls eine Fehlstelle: weil uns in Deutschland nach 1945 verständlicherweise und zu Recht ein „Nationalbewusstsein“ fehlt: Es gab entschieden zu viel davon mit verheerenden Folgen. Es ist allerdings ebenso berechtigt zu fragen, ob dies für alle jetzt lebenden und nachwachsenden Generationen so bleiben muss. Es wird schwer, sich als „Europäer“ zu verstehen, wenn sogar eine „deutsche“ Identität fehlt. Sie wäre neu zu entwickeln und in Formen zu fassen, als kulturelle, sprachliche, wertbestimmte Identität, die offen ist für Andere und Neues – und eben nicht national-konservativ und borniert wie früher so oft. Das Bedürfnis für ein solches freiheitliches und demokratisches Nationalbewusstsein sehe ich durchaus vorhanden, nur schafft es sich heute in vielerlei regionalen Identitäten Raum; diese können jenes zwar bereichern, aber nicht ersetzen. Denn auch in den regionalen Identitätsvollzügen kommt immer wieder viel Enges, Kleinkariertes, Borniertes zum Ausdruck („Mia san mia“ – eine dumme Parole!), das in einem bewusst gestalteten offenen (!) kulturellen „Nationalbewusstsein“ korrigiert und erweitert werden könnte. Gerade dafür könnte ein erweitertes Themenspektrum für den „Tag der Deutschen Einheit“ genutzt werden, und dann könnte dieser Tag auch über die „runden“ Jahrestage, bezogen auf 1990, hinaus zu einem positiven und inhaltlich gefüllten Nationalfeiertag werden. Ich meine, diese Chance hätte er verdient.