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Gesellschaft Kultur

Eine Handvoll Kultur

Kultur ist in aller Munde: Unternehmenskultur, Spielkultur, Sprachkultur, Hochkultur – die heute möglichen und  gebräuchlichen Zusammensetzungen mit -kultur sind unüberschaubar geworden. Wo mit einem Begriff „alles mögliche“ gemeint sein kann, besteht der Verdacht, dass gar nichts Bestimmtes mehr gemeint und gesagt ist. Vorsichtige Annäherung an die große Frage: Was ist denn überhaupt „Kultur“? Ist Kultur etwas spezifisch Menschliches?

Museum Folkwang, Wikipedia

Traditionell kann man „Natur“ und „Kultur“ einander gegenüber stellen. Dann ist Kultur dasjenige Vermögen des Menschen, das ihn „Natur“ gestalten und sich über sie „erheben“ lässt. Gerade das „Erhabene“ hat man als Kennzeichen der Kultur, zumindest der „Hochkultur“ angesehen. Diese Sichtweise ist uns aber inzwischen gänzlich fremd geworden. Kultur wird alltäglich – und doch will man, wenn man von einer „-kultur“ spricht, noch etwas Auszeichnendes, Besonderes sagen. Man denkt dann an eine bestimmte Art und Weise des Tuns, an einen „Stil“ vielleicht. Aber der Gedanke führt im Kreis, denn dann müsste erst geklärt werden, was denn „Stil“ ist.

Andererseits ist Kultur auch immer sozial verankert, denn offenbar ist als Kultur nur erkennbar und bestimmbar, was eine Gruppe, eine Gemeinschaft oder gar eine Gesellschaft dafür hält. Ganze Lebensbereiche hat man zur Kultur gezählt, der entsprechende Wikipedia-Artikel zählt dazu auf:  Technik, Kunst, Recht, Moral, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft. Mindestens. Die Medizin gehört auch dazu. Ja, was eigentlich nicht? Denn schon der Ackerbau ist ja eine Kulturleistung, und Kultivieren auch ein gärtnerischer Begriff. Wir sind wieder beim Allerweltswort gelandet. Scheinbar gibt es keine genaue Bestimmtheit.

Vielleicht kommt man weiter, wenn man probehalber einen weiteren und einen engeren Gebrauch des Begriffs Kultur unterscheidet. Weit gefasst bezeichnet „Kultur“ mehr oder weniger alle Lebensäußerungen des Menschen, die über die unmittelbare natürliche Selbsterhaltung und Fortpflanzung als Einzelner und Gattung hinaus gehen. Kultur ist dann die Summe all unserer Handlungsweisen, sofern sie über das Lebensnotwendige hinaus weisen. Praktisch sind das aber die allermeisten unserer Handlungen und Auffassungen. Selbst das Lebensnotwendige kann auf eine Art und Weise bzw. in einem Gestaltungszusammenhang geschehen, dessen Charakter eben schon etwas über die reine Not hinaus Gehendes ist. Das macht dann zum Beispiel den Unterschied zwischen Essen als reiner Nahrungsaufnahme und gediegenem „Speisen“ aus.

Von hier aus gelangt man zu einer engeren Bedeutung von „Kultur“, die sich wie von selbst zeigt. Es ist der Charakter eines Tuns, der etwas Nicht-Notwendiges, Spielerisches, Freies, Phantasievolles kennzeichnet. Kultur in diesem engeren Sinne meint dann die Art und Weise, die Ausgestaltung, den erweiterten Sinn, das Symbolische oder anderswie Zeichenhafte, das ein Tun umrahmt, prägt und eben aus dem Alltäglichen hervor hebt. Der angespitzte Pfeil des Jägers kann der puren Notwendigkeit eines zweckmäßigen Jagdgerätes entspringen. Der geschnitzte Schaft, der bunte Federbusch, jeglicher Zierrat fügt dem alltäglichen Gerät etwas Neues, Überschießendes hinzu, das es in einen neuen Sinnzusammenhang stellt, zum Beispiel einen sozialen und /oder kultisch-religiösen. Kultur in diesem engeren Sinne fügt eine als solche alltägliche Handlung in einen neuen, erweiterten Kontext, kombiniert den bloßen Zweck mit einem bestimmten Sinn oder mit einer besonderen Bedeutung. Die kulturelle Handlung oder Denkweise ist nun nicht mehr nur zweckrational auf Optimierung des Nutzens ausgerichtet, sondern stiftet über die erweiterte Bedeutung, die dem Tun beigelegt wird, einen neuen, sozial kommunizierbaren Sinn. Kultur führt auf diese Weise zu einer Sichtweise menschlichen Verhaltens, die sich erst einer hermeneutischen Reflexion erschließt oder die erst in einem sozialen Verbund ihre volle Tragweite und Verweisstruktur erhält. Kultur gewinnt so eine besondere Bedeutung als Trägerin von Kunst, Spiel, Freude, Grenzenlosigkeit, die dem naturnotwendigen Tun als solchem nicht inne wohnt. In der Kultur schafft sich der Mensch eine neue „Welt“: seine Welt.

Man kann nun von hier aus fragen, ob all die Verhaltensweisen, denen man oft den Begriff „-kultur“ anhängt, berechtigterweise so genannt werden. Gibt es tatsächlich eine „Unternehmenskultur“, wenn doch jedes Unternehmen der strengen Zweck-Mittel-Relation unterliegt? Oder wird mit dieser Kennzeichnung nur eine gesellschaftliche Akzeptanz usurpiert, der Unternehmenszweck quasi als „gemeinnützig“ deklariert – “ don’t be evil“? Kritische Anfragen – letztlich entscheidet die Sprache und ihr faktischer Gebrauch auch über das Wörtlein „Kultur“. Aber manches scheint doch allzu offensichtlich nur ein Etikettenschwindel zu sein. Denn – auch nur mal zum Test gefragt – könnte es je so etwas wie eine „Kultur des Tötens“ geben? Oder ist „Kultur“ doch stets irgendwie sozial positiv besetzt und dem „Humanum“, dem „Guten“, wie man früher sagte, also dem menschlich Positiven (Leben, Freiheit) verpflichtet?

Es gibt also Grund genug, über den Gebrauch und den Sinn des Wortes Kultur nachzudenken. Eine inflationäre Verwendung von aller möglichen „-kultur“ muss nicht viel mehr heißen, als dass es sich gut macht, etwas mit dem Mäntelchen „Kultur“ zu schmücken. Wir sollten schon wissen, was wir sagen und was wir meinen. Nur eine Handvoll Kultur ist zu wenig.

ERGÄNZUNG am 29.10.:

Eine Diskussion bei Google+ ergibt noch folgende Überlegung:

Die Frage, ob es eine „Kultur des Tötens“ gibt, ist ja wirklich eine echte Frage. Die Beispiele Opferfest und Goldenes Kalb, +Anna Maria Zehentbauer , zeigen die Ambivalenz.

Ich denke auch an die bei vielen Völkern verbreitete Sitte, vor der Jagd oder dem Schlachten die Gottheit(en) und / oder das Tier (!) um Verzeihung zu bitten, dass man ihm das Leben nehmen müsse, um selber leben zu können. Da steht das „kultische“ Töten in einem sozialen Sinnzusammenhang des gemeinschaftlichen Überlebens.

Der Unterschied zum Töten von Menschen zum Beispiel im Krieg scheint dann fast nur noch graduell zu sein, wenn vor den Schlachten Gott / Götter um Hilfe für den Sieg über die Feinde angefleht wurden und noch werden und man „Gott mit uns“ brüllt.

Aber  ist es wirklich „Kultur“ in der positiven Bedeutung des Begriffs (Stiftung eines sozialen  Sinnzusammenhangs), was man z. B. an „kultiviertem“ Lebensstil der Offiziersklasse heraus gestellt hat (Musikliebhaber z.B.), wenn die Herren anderntags darüber beraten, wie sie den Feind am besten massakrieren können? Sind dann nicht heute Drohnen die „kultivierteste“ Art zu töten, sauber und technisch perfekt? Oder die „Todesspritze“ (USA)?

Es steckt also die Frage nach dem „gerechten“ Töten dahinter, nach dem „gerechten Krieg“. Wird gemeinhin als Eindämmung blindwütigen Mordens und insofern als Kulturleistung angesehen. Ich frage mich allerdings, ob wir heute nicht einen Schritt weiter gehen müssten. Allzu sehr und allzu oft sind Mord und Bereicherung mit dem Mantel höheren Sinns versehen worden. Aus meiner Sicht wird da aus Kultur Scheinkultur, Un-Kultur, Kultur als Deckmantel eigener, brutaler Interessen. Weisen da nicht ein Gandhi oder Albert Schweitzer eher und besser in die Richtung kultureller Entwicklung: „Ehrfurcht vor dem Leben“?