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Leben wir schon digital?

Manchmal bin ich erstaunt, wie unterschiedlich offenbar die Welten sind, in denen wir einzelne leben, oder anders gesagt, wie unterschiedlich wir unsere Um- und Mitwelt wahrnehmen. Auf der einen Seite liest man in Blogs, Foren, auf einschlägigen Webseiten im weiten Umfeld von CCC und Piraten, Datenschützern und Gesellschaftskritikern, wie sehr sich unsere Welt durch das „Netz“ bereits verwandelt habe. Um ein neues Wirklichkeitsverständnis scheint es da zu gehen, um eine völlig neue Dimension sozialer Kontakte und sozial-medialen Verhaltens. Die begriffliche Unterscheidung von „online“ Kontakten und „echten“ Kontakten wird kritisiert, da reale Welt und Internet eben eines seien: Das Netz ist Teil der realen Welt. Zweifelsohne. Aber die  Überlegungen, die nun darüber hinaus angestellt werden, und die Schlüsse, die gezogen werden, gehen doch in eine sehr viel grundsätzlichere Richtung. Die Foren der Piraten geben drüber gut Aufschluss, aber auch Diskussionen bei Google+, und natürlich die Berichte über Tagungen und Barcamps wie gerade an diesem Wochenende „#om11„, also die „open mind“ – Wochenendtagung in Kassel. Die Themen dort klingen sehr interessant, und ich lese gerade die aktuellsten Kurzberichte dazu bei Twitter. Die Wirklichkeit der „Netzwelt“ ist bereits eine andere geworden als die „analoge“ Welt vorher und ohne Netz. Das stimmt schon. Dass das Internet neben veränderten Produktionsweisen auch ein verändertes Kommunikationsverhalten hervor bringt, steht auch außer Zweifel. Aber wie weit ist es damit her? Und wie ist es bisher zu bewerten? Muss ich da gleich eine neue Gesellschaftstheorie bemühen (Kommunitarismus?) oder neue Strukturen der Kommunikation erkennen, die das menschlich-soziale Verhalten grundlegend verändern würden? Ich bin da vorsichtiger und beobachte erst einmal. Viele der vollmundig propagierten neuen Sichtweisen und Theorien sind doch arg marktschreierisch und auf Effekte der medialen Beachtung hin ausgerichtet. Sascha Lobos Kolumne gehört auf jeden Fall zu Letzterem. Andere bemühen in enorm aufgeblasener intellektueller Attitüde Theorien des Strukturalismus, sehen Niklas Luhman als neuen / alten Leitstern der Netzkultur, entdecken die Transpositionsgrammatik Chomskys als Erklärungsmuster des neuartigen Kommunikationsverhaltens oder flüchten sich gleich in die Bewusstseinserweiterung durch NLP. Was Wunder, wenn einem da die sozialen Webseiten oft eher als digitale Spielwiesen vorkommen.Ok, neue Entwicklungen, neue Medien, neue Möglichkeiten, die durch Techniken wie Internet und Kommunikationsplattformen wie Twitter (Frage: wieviel wird nur getweetet, wieviel replies?), facebook, G+ u.a.m. bereit gestellt werden, erfordern auch neue Antworten. Schon richtig.

Aber die „reale“ Welt, die ich im Alltag erlebe, sieht doch noch sehr anders aus. Da gehe ich ein den Supermarkt einer großen süddeutschen Lebensmittelkette einkaufen und freue mich, dass ich hier die
Waren in meinem Korb selber einscannen kann und dann am Kassenterminal nur zu bezahlen brauche – und wieder einmal ist das System abgestürzt und eine lokale Fachfrau versucht, das Programm wieder neu zu starten. Gelingt nicht – es ist Wochenende. Das war schon öfter so. Also wieder an der Fließbandkasse anstehen. Beim Reifenwechsel später kann ich in dieser Filiale einer Reifenkette heute nicht mit Karte bezahlen, da das Kartenlesegerät defekt ist – oder die Verbindung nicht klappt oder was auch immer. Vor ein paar Tagen wird vermeldet, dass ein regionales Catering-Unternehmen erheblichen Schaden hatte, da seine Steuerungssoftware ausgefallen war und Schulen und Kindergärten nicht rechtzeitig mit Essen versorgt werden konnten. In der hiesigen VHS steht zwar Internet zur Verfügung, man könnte es als Dozent prima einsetzen, wenigstens das Netzwerk im eigenen Hause, wenn es denn problemlos funktionieren würde und wenn die Teilnehmer bereit wären, vom geliebten „Arbeitspapier“ in gedruckter Form abzulassen. Und das ist nicht nur bei Älteren so. In der Arztpraxis arbeitet man mit einem recht alten Datensystem auf Win2000-Basis – ‚bloß keine Änderung, das läuft wenigstens‚. Alles nur Anfangsfehler, Anfangsschwierigkeiten, technische Unzulänglichkeiten? Oder ist unsere Welt einfach noch gar nicht so weit, wie die Avantgarden in den Universitäten und entsprechenden IT-Firmen uns glauben machen wollen. Und wenn dann großartig gemeldet wird, endlich seien auch die Politiker, wenigstens einige, aufgewacht: „Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier ist der erste Unionspolitiker, der direkten Anschluss an die digitale Welt sucht“ (FAZ) und dieser dann im zitierten Teaser erklärt:

 „Bis vor kurzem wusste ich nichts vom Netz. Mir war die gesellschaftliche und politische Dramatik, die von der rasanten Evolution des Internet ausgeht, bislang nicht einmal im Ansatz klar.“ Erste Erfahrungen mit Twitter machte er vor drei Wochen: „Als ich in einem Tweet bekannte, dass ich nicht wisse, wie man auf dem Blackberry Umlaute schreibt, dauerte es keine vier Minuten, bis mich von allen Seiten Tweets erreichten, in denen das prompt erklärt wurde.“

dann zeigt das doch eher eine Banalität als eine Kulturrevolution. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich glaube sehr wohl, dass die Entwicklungen, die durch das Internet bisher angestoßen werden und teilweise schon realisiert wurden, sehr weit reichende Folgen haben und noch mehr haben werden. Es besteht aller Grund, sich über die „Netzwelt“ Gedanken zu machen. Aber dabei geht es doch in der Regel um Zukunft, um eine sich allmählich vollziehende Veränderung, die sehr viel langsamer in die Alltagswelt und in unser Alltagsverhalten eindringt, als viele Nerds und IT-Profis meinen. Man darf halt seine eigene digitale Welt nicht für die allgemeine halten. Das gilt natürlich auch für mich. Aber ich halte die Augen offen, beobachte, lese, frage nach – und denke mir vorläufig meinen Teil.