Unsere westliche Kultur ist vom Fortschrittsgedanken geprägt. Spätestens seit Beginn der Neuzeit, im Grunde aber schon mit der Renaissance, gewinnt eine Anschauung der Welt an Bedeutung, die nicht mehr den „ewigen“, gottgegebenen Ordnungen verhaftet ist, sondern die Welt als durch den Menschen veränderbar und verbesserbar ansieht. Das ersehnte „Reich der Freiheit“ ist nicht mehr der jenseitige „Gottesstaat“ (Augustin) im qualitativen Unterschied zu allen menschlichen Reichen, vielmehr wird die Weiterentwicklung und Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens als Aufgabe des Menschen selbst erkannt. Niccolò Machiavelli war es, der in „Il principe“ und den „Discorsi“ (1531/32) ein neuzeitliches Programm der „good governance“ entworfen hat. Der gesellschaftliche Fortschritt ist planbar geworden. Die zur selben Zeit rasch zunehmende Fähigkeit zu technischen Entwicklungen und Erfindungen (Leonardo da Vinci) vergrößert den Handlungsspielraum menschlicher Gestaltungskraft. Mit dieser ersten technologischen „Revolution“ auf der Basis der Mechanik und erst recht mit jeder weiteren technologische Stufe erweitert sich der Freiheitsraum um ein Vielfaches; Freiheit wird erfahrbar als Steigerung der Handlungs- und Wahlmöglichkeiten zur Erreichung bestimmter Ziele. Auch gänzlich neue Ziele kommen dabei in den Blick; das Fliegenkönnen bleibt nicht mehr den Vögeln und dem mythologischen Traum (Dädalus und Ikarus) vorbehalten. Die Mondlandung 1969 wird nicht das letzte „neue Ziel“ der Menschheit sein. Die abendländische Kultur erschöpft sich nicht mehr im Urbild der gefeierten Antike oder im bloßen Sammeln von Wissen und Beschreiben von Einzelphänomenen (Enzyklopädien), sondern die Kultur im weiteren Sinne (Arbeit, Alltag, Recht usw.) transformiert sich zur expliziten Verwirklichung technischer Möglichkeiten, die den menschlichen Handlungsraum vergrößern und erweitern. Eine ehedem überwiegend literale Kultur (Handschriften, Bibliotheken) wird zur technisch-sozialen Kultur erweitert, wie sie unsere Neuzeit prägt. Damit vergrößert sich zugleich die Menge der Akteure, die an dieser Kultur teilhaben. Die neuzeitliche Kultur hat die Tendenz, die gesamte Gesellschaft zu erfassen und zu gestalten. Der Fortschrittsgedanke wird dabei zum entscheidenden Katalysator, denn er wird zum allgemein akzeptierten Kriterium dessen, was „vorwärtsweisend“ und darum gut und nützlich ist. Was sich dem entgegen stellt, ist „von Gestern“, veraltet und überholt und auf weitere Sicht ohne Existenzberechtigung.
Gegen diesen „Mythos der Neuzeit“ gibt es seit langem Einwände. Statt von der positiv besetzten Fortschrittsidee wird dann skeptisch vom „Fortschrittsglauben“ gesprochen, der anfechtbar und letztlich irrational sei. Nicht erst die Erfahrungen der zahllosen Kriege und Genozide mit immer exzessiverer Gewaltanwendung („totaler Krieg“) haben den neuzeitlichen Optimismus getrübt. Grundsätzliche Erwägungen bestreiten die quasi axiomatische Gewissheit des „Immer-weiter, Immer-höher, Immer-schneller, Immer-besser“. Zu Recht wird heute angesichts der Folgen nach dem Preis gefragt, den die westliche Zivilisation und ihre technologisch vermittelte Kultur kostet, ob sich die Menschheit diesen Preis, bestehend im Aufbrauchen endlicher Ressourcen und verschärfter Ungleichheit, überhaupt leisten könne. Einmal ist es der moralisch-philosophisch beschriebene „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler) bzw. die erreichten „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome), ein andermal wird auf die grundsätzliche Ambivalenz jeder geschichtlichen Entwicklung verwiesen; erst vom Ende her zeige sich, was wirklich geworden und für den Menschen gut ist. Bei der buchhalterischen Betrachtung stehe eben jeder gesellschaftlichen „Progression“ eine ebensolche „Regression“ gegenüber, welche den Saldo des „Fortschritts“ meist ins Minus bringe, bestenfalls auf Null stelle. Bei der Diskussion über Chancen oder Gefahren des Internets zum Beispiel erleben wir genau diese Argumentationsmuster: Positive Freiheitsverheißung kontra negativen Manipulationsverdacht (Kontrollverlust). Dahinter steht ein jeweils unterschiedliches Bild vom Menschen: Hier das Bild des letztlich zum Guten fähigen und bereiten Mensch, der aus Fehlern lernt und zu Kompromissen und Verzicht bereit ist (das Faustische „wer immer strebend sich bemüht“), dort die Skepsis des zu allem fähigen, eben auch zu jeder Bosheit und Brutalität bereiten Menschen, dessen unstillbarer Gier und Gewaltbereitschaft nur die passende Gelegenheit geboten werden müsse. Manche psychologischen Untersuchungen über das Stressverhalten von Soldaten scheinen dieses letzte Bild eher zu bestätigen. Dieser gegensätzliche Optimismus oder Pessimismus im Menschenbild, also hinsichtlich der Entwicklungs- und Verhaltensmöglichkeiten des Menschen, wird von einem naturalistischen „Realismus“ allenfalls gemildert. Wenn die Neurowissenschaften die recht urtümlichen Reiz-Reaktions-Schemata menschlichen Verhaltens beschreiben (“Jäger und Sammler“ – Mentalität), erklärt das zwar manches, hilft aber nicht dabei, diskursiv ein Urteil über Ziele und Werte menschlichen Verhaltens bzw. gesellschaftlicher Handlungen und Strukturen zu finden. „Kultur“ bleibt definitorisch im Bereich dessen, was der Mensch über seine Natur hinaus gehend anstrebt und verwirklicht. Damit bleibt auch der weite Raum der Kultur unserer technisch-sozialen Zivilisation nicht frei von Ambivalenzen; Kultur bleibt so ambivalent wie der Mensch selbst, der sie gestaltet und trägt.
Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich festhalten:
- Unsere Kultur ist von einem technisch-sozialen Fortschrittsgedanken geprägt. Er betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens. Fortschrittskultur ist Alltagskultur geworden. Der Fortschrittsgedanke selber ist eine geschichtliche Idee der Neuzeit.
- Fortschritt in diesem Sinne bietet Freiheit als erweiterte Wahlmöglichkeit an. Der Markt der Möglichkeit ist unüberschaubar groß geworden. Damit haben auch die Rollen und Verhaltensmodelle im individuellen Leben eine bisher nie da gewesene Flexibilisierung erfahren.
- Die neuzeitliche westliche Kultur ist der Entfaltungsraum jedes Einzelnen geworden, der zugleich Individualität und Uniformität bereit hält, nämlich freie individuelle Auswahl gleicher allgemeiner Ziele und Werte.
- Die Grenzen dieser Kultur des Fortschritts liegen nicht in den Möglichkeiten und Zielen, sondern in den Fähigkeiten und Ressourcen. Eine Ende des Fortschrittsprozesses ist nicht absehbar.
- Die Kultur erfährt jeden Schub der Entwicklung als Anstoß zur Transformation. Die Ausbreitung und die Geschwindigkeit dieser Entwicklungsschübe lässt kulturelle Transformation zum Prozess permanenter Veränderung werden.
Als Frage stellt sich mir, welches Verständnis von Wirklichkeit dadurch impliziert ist. Jedenfalls ist es ein dynamisches Verständnis, weniger „Wirklichkeit“ als ständige „Verwirklichung“, aristotelisch gesprochen Entelechie. Neuzeitlich hinzu getreten ist der naturwissenschaftlich im 2. Hauptsatz der Wärmelehre verankerte Zeitpfeil der Entropie. Fortschritt bedeutet dann zugleich Zunahme von Entropie, bedeutet Zunahme von Information (Carl Friedrich von Weizsäcker), bedeutet wachsende Differenzierung des Einzelnen, bedeutet aber paradoxerweise auch zunehmende Nivellierung („Kältetod“) des Gesamtsystems. Lässt sich Leben als eine Form des Entropie-Aufschubs verstehen, so werden am Ende die ‘Kosten’ eingefordert: Im Tod wird die „geborgte“ Energie wieder abgegeben, das Individuum stirbt. Da aber das Leben insgesamt kein perpetuum mobile ist, tendiert auch das Gesamtsystem des Lebens und darin eben auch des Systems „Mensch & Kultur“ zur Informations-Implosion. Will sagen: Der Fortschritt hat eine systemimmanente Grenze, sofern die sich darin vollziehende Wirklichkeit (nicht nur die Ressourcen!) eine entropisch begrenzte ist. Unser Fortschrittsdenken blendet dies aber als aktuell irrelevant aus. Das mag eine Weile gehen. Grundsätzlich aber ist es eine Infragestellung durch die Wirklichkeit selbst.
Damit öffnet sich ein Blick auf die Befindlichkeit des Individuums. „Bin“ ich tatsächlich nur, sofern ich mich „verwirkliche“, also aus mir heraus gehe, „existiere“? Finde ich meinen Sinn nur dann und darin, wenn ich möglichst viele Türen unterschiedlicher Chancen öffnen und in ein Leben treten kann, in dem ich mich immer wieder „frei“ bestimme und selber schaffe? Liegt der Sinn (und damit die Ruhe und Zufriedenheit) meines Seins nur in meinem „Existieren“ = Heraustreten? Oder finde ich mich selbst eher in der Introversion, also der Rückwendung, Zuwendung zu mir selbst in meinem Inneren? Liegt also die Wahrheit meines Seins und damit meine wahrhafte Persönlichkeit in der Abwendung vom extrovertierten Fortschrittsleben und in der Hinwendung zur introvertierten Suche und Erkenntnis meiner selbst? Ist wirkliches Sein nur als tätige, instrumentelle Verwirklichung fassbar oder nicht vielmehr als Rücknahme, Rückkehr, Loslassen, Gelassenheit und Ruhe seiner selbst? Wird erst dann Sein als lebendige Fülle erlebbar? Ist dies „alternativ“ oder vielmehr „zugleich“? – Mystiker haben so gedacht, sagen wir, aber ebenso die Nachfolger des Parmenides, Platons und so vieler anderer. Sie weisen darauf hin: Die Fülle liegt innen, in mir, nicht außen im ‘Getriebe’. Dann wird auch der Tod nicht zur letzen Katastrophe des tätigen Menschen, sondern zur Hingabe, zur Rückgabe aller meiner individuellen Potentiale und Energien an das Sein, das Alles und Nichts ist: Entropie als Aufgehen im Einen. Dann hat mich die Wirklichkeit eingeholt – nicht der schlechteste Gedanke.
2 Antworten auf „Kultur und Fortschritt – und weiter?“
Gibt es eine „Entropie der Kultur“ fragte ich mich und fand diesen Blog-Beitrag. Löst sich das Besondere auf in der endlosen (Social Media) Masse?
Interessanter Gedanke. Er passt gut zu dem, was Byung-Chul Han jüngst im SZ-Magazin als Prozess der „Glättung“ durch das Netz / Facebook beschreibt, die „alle Geheimnisse, Rückzugsräume, Einzigartigkeiten, Ecken und Kanten beseitigt“. Wir kommunizieren uns quasi zu Tode.
Auch Jürgen Kuris wiederholt geäußerter Gedanke der Langsamkeit (Verlangsamung echter Information) des Internets gehört hierher, ganz im Gegensatz zu seiner technischen Geschwindigkeit.
Das Netz als reine Lärm-Maschine, „Netzkultur“ als „weißes Rauschen“. Werde ich mal weiter verfolgen.