Es ist erstaunlich, wie langsam sich Dinge ändern. Schaut man in die Geschichte, dann findet man rasche Änderungen nur durch den Einsatz massiver Gewalt, im Krieg oder bei Umstürzen der Herrschaft (Revolution, Staatsstreich). Auch dann ist jeweils zu fragen, wie weit es dadurch wirklich zu einer nachhaltigen Veränderung konkreter Verhältnisse durch die Änderung der Herrschaftsverhältnisse gekommen ist oder ob es nur einen Wechsel der herrschenden Elite gegeben hat, sich also gewissermaßen nur das Etikett geändert hat.
Noch wissen wir zum Beispiel nicht, ob der Machtwechsel in Ägypten zu nachhaltig veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen führen wird oder ob sich dort eine neue Elite unter islamistischem Vorzeichen etabliert. Natürlich kann auch ein solcher Wechsel der Eliten weitere Änderungen nach sich ziehen, zumal wenn die herrschende Ideologie sich ändert. Entscheidend für die Beurteilung einer umfassenden Veränderung wird dann sein, ob und wie weit der Herrschaftswechsel zu einer Änderung gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Beziehungen führt. Doch auch dies braucht wiederum viel Zeit.
Anderes Beispiel. Die „Novemberrevolution“ in Deutschland 1918/19 hat zwar zu einem dramatischen Herrschaftswechsel geführt, aber die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in der Weimarer Zeit waren weitaus geringer, als es das Ende des Kaiserreiches vermuten ließe. Andererseits gab es 1945 zwar einen durch den Kriegsverlauf (= totale Niederlage Nazi-Deutschlands) verursachten Wechsel im Herrschaftssystem (Konstituierung einer föderalen Demokratie), aber die daraufhin folgenden sozialen, wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen waren viel gravierender und nachhaltiger als während der Weimarer Republik. Allerdings, und damit zeigt auch dieses Beispiel, die dauerhaften Veränderungen brauchten wiederum Zeit, viel Zeit, ehe man den Umbruch im staatlichen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik Deutschland richtig absehen und beurteilen konnte. Im Grunde erstreckte sich dieser Zeitraum fast auf das gesamte Bestehen der „alten“ Bundesrepublik, denn die sechziger, siebziger und achtziger Jahre brachten jeweils eigene Impulse und Akzente, die zu einer gesellschaftlichen Transformation und erst nach und nach zu einer gefestigten neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland geführt haben.
Weit reichende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, in Ökonomie und Kultur, erst recht in Sitte und Moral erfordern viel größere Zeitspannen als nur ein paar Jahre oder gar ein bestimmtes, heraus ragendes Datum. Solche Daten werden meist im Nachhinein mit der ihnen eigentümlichen Symbolkraft versehen aufgrund der Art und Weise, wie man die betreffende Geschichte jeweils ‚erzählt‘ und welchen Anfangspunkt man setzt. „Zeitdiagnosen“, die in immer schnellerer Folge Umbrüche zu konstatieren vorgeben, verraten meist mehr über die Brille des jeweiligen Autors als über das wirkliche Zeitgeschehen. Jürgen Kaube hat dazu in der FAZ gerade einen schönen Essay geschrieben.
Alles braucht seine Zeit, insbesondere die Veränderung von Mentalitäten. Da geht der Wandel zwar stetig vonstatten, aber im Schneckentempo. Es braucht für eine solche Veränderung in den Einstellungen (zur Arbeit, zur Freizeit, zur Umwelt, zur Familie, usw. – zum Leben insgesamt) meist mehrere Generationen. Erste Anzeichen von solchen Veränderungen sind erst in der nächst folgenden Generation erkennbar. Bis sich neue Einstellungen und ein neues Verhalten durchgesetzt hat, braucht es dennoch mehr als eine Generation. Erst die Enkelkinder wachsen in einer wirklich „anderen“ Welt auf als ihre Großeltern. Dazwischen stehen die Eltern gewissermaßen als Bindeglied. Sie garantieren die Kontinuität in der Abfolge der Generationen, verknüpfen allein durch ihr Dasein die „alten“ Verhältnisse der Großelternzeit mit den „neuen“ Einstellungen und Verhalten der Enkelzeit. Da auch Eltern ihrerseits einmal Enkel waren und demnächst Großeltern sein werden, entsteht eine unablässige Folge von Stetigkeit, von Kontinuität und Beharrung. Nur so wird offenbar der ebenso fort währende Wandel (nichts ist bekanntlich gewisser als derselbe) ‚lebbar‘, erträglich und in das alltägliche Leben hinein integriert.
Es ist darum müßig darüber zu streiten, ob es in einer bestimmten Zeit, beispielsweise jetzt in der Gegenwart, mehr Wandel oder mehr Kontinuität gäbe. Es gibt immer beides ineinander verwoben. Dann mag es schon einmal in bestimmten Bereichen gewisse „Schübe“ der Veränderung geben (z.B. der Umgang mit Sexualität nach Einführung der Pille), die aber ebenso durch beharrende Einstellungen in bestimmtem Maße ’neutralisiert‘ werden: Bei Umfragen zu den Wertvorstellungen der jüngeren Erwachsenen hat „Treue“ fast immer einen Spitzenwert. Noch einmal: Anders wäre es kaum lebbar. Denn das am stärksten beharrende Element in der Entwicklung einer Gesellschaft ist trotz aller ‚Globalisierung‘ der einzelne Mensch selbst, wie er an einem konkreten, einzelnen Ort lebt und arbeitet. Bei aller Bereitschaft, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, zu neuen Ufern aufzubrechen, die Realität zum Beispiel durch Technik umzugestalten, die Erfahrung auf Netzwelten auszudehnen, will der Einzelne immer wieder Vergewisserung im Vertrauten. Dieser Konservativismus (im wörtlichen Sinne) ist stets die Kehrseite der Bereitschaft zur Veränderung. Darum kann der engagierteste ‚Netizen‘ oder Computertechniker gleichzeitig von einem idyllischen Leben auf dem Lande schwärmen. Das ist eben kein Gegensatz, das sind zwei Seiten einer Medaille. Nur die Langsamkeit ändert die Geschichte nachhaltig.
Ich finde das als älter werdender Mensch eigentlich sehr gut so, in gewisser Weise tröstlich.