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Bankerott der Südost-Politik

Wir erleben derzeit eine Art Bankerott der traditionellen „westlichen“ Nahost- und Nordafrika-Politik. Im Grunde ist der gesamte Raum östlich und südlich des Mittelmeeres in eine zunehmende Instabilität geraten. Das vollzieht sich, wie wir erleben, schubweise. Der Gürtel der wachsenden Unsicherheiten zieht sich vom Libanon über Syrien, Irak, Ägypten, Tunesien (eingeschränkt), Libyen, Algerien bis nach Marokko (Polisario). Die daran angrenzenden failed states Somalia, Mali und die Wackelkandidaten Sudan und Nigeria komplettieren das Bild enormer Instabilität. Die üblichen Hinweise auf Al Qaida und die Islamisten erklären wenig und sind eher Chiffren für Unverstandenes. Eine andere Art Erklärung versucht sich mit neokolonialistischen Verschwörungstheorien, indem hier eine Inszenierung verdeckter Operationen und Nutzung willkommener Anlässe zur militärischen Intervention zwecks Sicherung von handfesten Rohstoffinteressen gesehen wird. Wird das Ganze auf den Hintergrund des Kampfes um Einflusszonen zwischen den USA & Co. und China projiziert, dann werden die derzeitigen Instabilitäten und Konflikte zu an sich austauschbaren Anschauungsbeispielen imperialer Machtkalküle.

Die drei genannten Deutungsmuster kranken alle daran, dass sie weniger erklären als verschleiern und konkrete Ereignisse lieber in ein vorgefasstes Weltbild pressen. Ich bezweifle nicht, dass jeweils richtige Aspekte gesehen werden. Al Qaida (was immer dieses Kürzel verbirgt) kocht im Maghreb gewiss sein Süppchen, auch wenn sich der Anführer der algerischen Geiselnehmer, Mokhtar Belmokhtrar, angeblich mit Al Qaida zerstritten habe. Wenn von „vagabundierenden Dschihadisten“ geredet wird, (Klaus-Dieter Frankenberger), beschreibt auch dies ein Phänomen, weil die Geiselnehmer sich selber den Mantel des Dschihad als rechtfertigenden Mythos umgehängt haben. Und natürlich spielen Großmachtinteressen ebenso eine wichtige Rolle wie der Kampf um Ressourcen, um die Aufrechterhaltung neokolonialer Strukturen zwecks wirtschaftlicher Ausbeutung von Rohstoffen. All dies und noch manches mehr kann man als Faktoren nennen, ohne doch wirkliche Erklärungen, das heißt Ursachen und Gründe, zu benennen für die zunehmenden Konflikte und die wachsende Instabilität im weiteren arabisch bzw. afrikanisch geprägten Mittelmeerraum.

Mir erscheint es allerdings eher so, als würden sich hier derart viele Fäden und Interessen verknüpfen, Unausgesprochenes sich hinter Vordergründigem verstecken, Macht- und Konkurrenzinteressen auch aus innenpolitischen Motiven hinein verwoben sein, dass es dem interessierten und lesenden Beobachter von außen kaum möglich ist, ein adäquates Bild der Lage zu zeichnen geschweige denn wirklich zu verstehen, was dort gerade passiert. Ich befürchte allerdings, dass es manchen handelnden Politikern trotz möglicherweise besserer Informationen durch ihre Geheimdienste nicht viel anders ergeht: nationale Eitelkeiten und Inkompetenz (?) drängen sich auf. Frankreich hat in Mali militärisch interveniert ohne Rückendeckung Europas, der NATO oder der UN. Im Nachhinein stimmen zwar alle zu, weil jeder froh ist, das jemand an einem Punkt das Heft des Handelns in die Hand genommen zu haben scheint, nichtsdestotrotz gibt es für diese Intervention keinerlei völkerrechtliches Mandat; eine UNO-Resolutionen betrifft nur die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas). Das interessiert aber heute erstaunlicherweise niemanden. Wie wenig das Eingreifen Frankreichs in Mali zur Klärung der Lage beigetragen hat, zeigt die postwendende Geiselnahme, die sich als Reaktion auf Frankreichs Eingreifen ausgibt, obwohl diese Operation offenkundig von langer Hand vorbereitet sein musste. Zumindest ist die Lage in Algerien und die Aktion der algerischen Truppen nun mit der Kriegslage in Mali verknüpft. Wer hier behauptet, die französische Außen- oder Militärpolitik habe dies alles voraus gesehen bzw. einkalkuliert, unterstellt doch wohl etwas zu viel Rationalität im aktuellen Geschehen.

Bamako - Mali (Wikipedia)
Bamako – Mali (Wikipedia)

Ich sehe bei diesen konkreten Ereignissen in Mali und Algerien, aber auch beim Bürgerkrieg in Nigeria, in den Nachfolge-Regimen der „Arabischen Rebellion“, dem anhaltenden blutigen Stellvertreterkrieg in Syrien (wer vertritt hier aber wen?) nicht nur eine „Entgrenzung“ (Frankenberger) einzelner lokaler Konflikte, sondern ein Zerfallen einer konsistenten Politik Europas und des Westens (USA, NATO) gegenüber den arabischen und nordafrikanischen Ländern und Regionen überhaupt. Dass es de facto keine gemeinsame „Nahost-Politik“ mehr gibt (abgesehen von der Bestandsgarantie für Israel), ist offenkundig; jeder (USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Türkei) verfolgt mehr oder weniger deutlich eigene Ziele, und sei es das Ziel, sich heraus zu halten. Eine südliche Mittelmeer-Politik (Sarkozys Traum) geschweige denn eine klar definierte Afrika-Politik ist nirgendwo zu erkennen – bei der EU (Ashton) schon gar nicht. Nur die Befriedigung unmittelbarer Interessen und die Erreichung kurzfristiger Ziele (eine Gas-Raffinerie schützen, Erzgruben verteidigen, Ölquellen sichern) scheint machbar.

Damit zerfällt aber auch eine einheitliche und verständliche, weil offen erklärte und abgeklärte Position des „Westens“, der NATO oder der EU zu diesem Bereich wachsender Instabilität. Die EU kommt praktisch überhaupt nicht vor – „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ war einmal. Amerika sieht seinen machtpolitischen Schwerpunkt im asiatischen Raum und fordert von „den Europäern“ mehr denn je, im eigenen Vor- und Hinterhof Ordnung zu halten. Nur Frankreich erklärt sich mit seiner Militäraktion de facto dafür zuständig, in seinem frankophonen Interessengebiet spätkolonial präsent zu sein bis hin zum militärischen Eingreifen. Andere wollen nicht, können nicht (finanziell!), verstehen nicht. Insofern trägt Europa insgesamt zur Instabilität im arabisch-afrikanischen Raum bei: Niemand hat dort eine konsistente Politik zu bieten. Das bisherige Durchlawieren im Fall Mali zeigt eigentlich nur eines: den Bankerott einer Süd-Ost-Politik, einen Bankerott einer konstruktiven Außenpolitik, die diesen Namen wirklich verdient. EURO-Stabilität ist eben noch lange nicht alles.