Wer hier seit einiger Zeit mit liest, wird mein Interesse an Technik und Kultur, auch an „Technikkultur“ (welch merkwürdiger Ausdruck) mitbekommen haben, desgleichen auch meine Skepsis, die jüngsten Entwicklungen in der digitalen Welt nunmehr als Vorstufe zum Paradies zu feiern. Ich kann nicht umhin, hier immer wieder zu mehr Nüchternheit und Distanziertheit zu mahnen, denn immer wieder gibt es neue Hypes und neue Schlagworte, welche die ganz neue und bisher noch nie erreichte Qualität der Entwicklung der glorreichen Humanitas einschließlich ihrer phantastischen Aussichten unterbreiten und unterstreichen wollen.
Was haben wir nicht schon alles gehört und gelesen? Also erst einmal die Liste all der Dinge, Einrichtungen und Verhaltensweisen, die vom digitalen Fortschritt auf den Müllhaufen der Geschichte gekehrt werden, oder um es feiner auszudrücken, die „obsolet“ geworden sind. Es mag sie noch geben, aber eigentlich sind sie schon von gestern, gänzlich überholt, also in Wahrheit schon gar nicht mehr richtig da, und wenn doch, dann nur in letzten Zuckungen.
Da ist das traditionelle Fernsehen als aller erstes zu nennen, bekanntlich ohne Rückkanal, nicht sozial vernetzt, also völlig unidirektional und damit eindimensional und in unserer multidimensionalen Medienwelt völlig out. Die zig Millionen, die noch immer sei es tagsüber nebenher, sei es allabendlich die Glotze laufen haben, befinden sich halt auf dem zukunftsunfähigen Abstellgleis. Dass sich das TV schon längst erheblich gewandelt hat, Filme auf Abruf bietet, Sendungen in Mediatheken (ÖRR) jederzeit auch im Internet verfügbar macht, dass dank Tablets der „second screen“ zur realen und sozialen, also sozial-medialen Kategorie wird und praktisch mehr und mehr von Bedeutung ist, wird dabei geflissentlich übersehen.
Zeitungen sind das nächste Medium, das dem Fortschrittstod geweiht ist. Wird ein Blatt eingestellt (FTD), so ist das ein willkommenes Menetekel für diejenigen, die Blogs, Facebook und Twitter als die wahren Nachrichtenkanäle der Zukunft sehen. Dass auch früher schon mal Zeitungsverlage Pleite gingen, dass hier auch Missmanagement ursächlich sein könnte, wird gerne übersehen. Keine Frage, die Tageszeitungen, verächtlich „Holzmedien“ genannt, müssen ihr Geschäftsmodell bezüglich der gedruckten Werbung und aufgrund veränderten Verhaltens hinsichtlich des Nachrichtenkonsums (Netz-News) ändern und anpassen. Lief die Cross-Finanzierung der aufwändigen Redaktionen bisher eben über Anzeigenwerbung, so sind heute neue Modelle der Crossfinanzierung gefragt – und die viel gescholtenen großen Zeitungsverlage sind alle schon recht fleißig dabei. Dass hier manches langsam und vielleicht zu wenig phantasievoll vonstatten geht – geschenkt. Das gilt aber in fast allen Wirtschaftsbereichen. Wirkliche Knall-Ideen gibt es immer nur wenige – und die müssen auch zur rechten Zeit kommen, wenn sie sich durchsetzen sollen. Ich behaupte mal, die regionalen wie überregionalen Zeitungen sind schon längst in der digitalen Welt angekommen, man merkt es nicht sogleich und übersieht die stetigen Veränderungen leicht.
Das nächste Feld, das als digital obsolet gebrandmarkt wird, sind – die Bibliotheken. Kaum dass sich eBooks richtig durchsetzen, wird bereits das Totenglöckchen der öffentlichen Bibliotheken geläutet, wie ich gelesen habe durchaus von solchen Nerds, die zugeben, nie eine Bibliothek von innen gesehen zu haben. Das ist ungefähr so, als wäre das Kino der Tod des Theaters gewesen. Wie wir sehen, gibt es beides noch in wachsender Lebendigkeit und zu allseitigem Nutzen und allseitiger Freude. Ich bin sicher, das wird auch für Bibliotheken künftig gelten.
Nun kommt die Pädagogik dran, das Lernen. Nein, nicht der PC im Klassenzimmer ist gemeint (welch digitale Steinzeit-Vorstellung) oder das Schulbuch oder Arbeitsblatt in elektronischer Form auf dem Notebook bzw. Tablet, sondern um das Lernen selbst geht es. Die Internetwelt voll von Wikis neben der einen großen Wikipedia (in diesem Wort selbst steckt ja schon ein pädagogisches Programm), voller Links zu eLearning, MicroLearning, MOOC (hier wirds erklärt), Bildung nicht nach Wissensgebieten aufgefächert, sondern, da Wissen ja „tot“ sei bzw. stets im Netz abrufbar steht, als Prozess der Vermittlung von – ja was denn eigentlich? sozialen Dimensionen? Howto? technische Erweiterung der Kapazitäten unseres beschränkten „brains“? Prozess „massiver“ Vernetzung, sprich Rückkopplung an die Erfahrungen, Einstellungen und Gefühle anderer Online-Teilnehmer/innen? Und was wird da gelernt? Wie man Probleme löst? also nicht das berühmte Was, sonder das ebenso berühmte Wie? Nur zu dumm, dass ich meist das Wie erst mittels der Möglichkeiten des Was heraus finden kann. Es scheint denn doch kaum eine Alternative zum eigenen Sach- und Fachverstand zu geben, der sich heute allerdings in ganz anderer, vieldimensionaler „digitaler“ und sozialer Weise nutzen, erproben, bewähren und verändern = entwickeln kann. Das allein ist doch eine feine Sache. Ich schätze die Wissens- und Erkenntnismöglichkeiten durch das Netz und manchmal auch durch soziale Medien. Aber sie ersetzen in keiner Weise das eigene Denken, Beurteilen, die Fähigkeit (beruht auf Befähigung, also einem Lernprozess) zu Kritik und Weiterführung, zu „Genius“ und Erfahrungspraxis. Vielleicht sollten einfach die Apostel der „neuen“ Lernerfahrungen, am liebsten noch verschränkt und begründet mit Schlagwortwissen aus der Hirnforschung, den Mund ein bisschen weniger voll nehmen und ihre Beiträge in aller Bescheidenheit als Vorschläge zu einem effektiveren wie humaneren Wissenserwerb („Fähigkeiten, Fähigkeiten, Fähigkeiten“…) vorbringen. Ich jedenfalls würde ihnen dann auch lieber zuhören.

Der digitale Mensch wird erfunden: nicht mehr Herr seiner selbst, also seiner Existenz in Form seiner Daten, öffentlich und gläsern – oder borniert und sich der digitalen Zukunft „verweigernd“; ständig vernetzt, multitasking, ohne Kontrolle dessen was um ihn herum abläuft, aber selber Teil der großen neuen Gemeinde derer, die im weltweiten Spinnennetz zappeln. Es gibt ihn, diesen neuen Menschen, als Phantasieprodukt oder auch als Horrorprojektion. Nur mit der Wirklichkeit hat er recht wenig zu tun. Nicht die „Freiheit des Netzes“ steht auf der Agenda der Weltpolitik, nicht der neue, digital selbst bestimmte Mensch, frei, kritisch, sozial, morgens Handwerker, mittags Fischer, abends Dichter (frei nach Marx), nicht die Befreiung und Befriedung der Welt dank einer allseits verwirklichten Transparenz -, nein eher das Gegenteil. Zumindest lassen sich auch diametral andere Tendenzen erkennen: Die Netzfreiheit wird zur Freiheit, sich zu Tode zu amüsieren; das Netz selbst wird immer stärker politisch und staatlich kontrolliert und fragmentiert (die vergangene Tagung der ITU in Dubai war ja wohl erst der Auftakt, ein Vorgeschmack künftiger Interessenkämpfe), die Parole des „Kampfes gegen den Terrorismus“ öffnet auch die letzten Schleusen zur Total-Erfassung und Total-Überwachung; die digitale Schere öffnet sich durchaus weiter, indem große Teile der Welt vom freien Zugang zum Netz abgeschnitten sind (nicht nur in China wird zensiert, auch in den USA, siehe die Zensur „unangemessener“ Suchbegriffe und Buchtitel durch Google, Amazon usw.), so dass auf der anderen Seite auch die Haltung bewusster Verweigerung gegenüber der Allgegenwart des Netzes, der digitalen Erfassung und automatisierten Erkennung („big data“), eine immer größere Plausibilität gewinnt. Zumindest sollte man darüber nachdenken dürfen.
Denn der Mensch, so meine Erfahrung, darum auch meine These, bleibt im Wesentlichen, wie er ist. Evolutionäre Anpassungen verlaufen aus der Sicht des individuellen Lebens im absoluten Schneckentempo. Im Grunde hat sich die psychische Struktur des Menschen seit der Steinzeit kaum verändert. Die jauchzenden Römer bei der Tier- und Menschenhatz in den Zirkussen des Reiches sind genau solche homines sapientes gewesen, wie wir es sind. Nur unsere Formen des Auslebens von Gewalt und Schmerz, von Leid und Mitleid, von heilsamem Schrecken und Angst vor der Leere sind andere geworden. Wir gehen dazu ins Kino oder reagieren uns beim Sport oder, wenns gut geht, an Computerspielen ab. So what, nicht viel Neues unter der Sonne. – Ich finde es viel spannender, diesen doch immer noch recht im Verborgenen wirkenden Strukturen des Menschlichen auf die Schliche zu kommen, also die Fragen der Anthropologie (psychisch, neurologisch, sozial, religiös, ethisch, meW kulturell) neu zu stellen und wieder und wieder zu beantworten suchen. Man kann sich daran abarbeiten, denn diese Aufgabe erledigt sich niemals. Und dafür können wir wunderbar die Möglichkeiten des Netzes, der „digitalen Welt“ zur Hilfe nehmen. ZUR HILFE! Das ist das Beste, was menschliche Erfindungen und Entdeckungen sein können: eine praktische Hilfe zum Verstehen, zum besseren Leben für möglichst viele. Das Netz ist also kein Evangelium und braucht keine Missionare. Nüchterne Pragmatiker sind gefragt.