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Techniken vor dem „turn“

Während sich das digital interessierte Deutschland monatelang über das Leistungsschutzrecht (LSR) zerriss und sich in einer typisch deutschen Art ideologisch hinter Verlegern oder Netzverteidigern verbarrikadierte (ein Nebenkriegsschauplatz des Schlachtfeldes „Urheberrecht“, auf dem schließlich ein Nonsens-Gesetz verabschiedet wurde), deuten sich weit reichende Veränderungen auf zwei ganz anderen Feldern an. Das, was sich da im Bereich „Digitale Fabrikation“ und „Biotechnologie“ tut und offenbar kurz vor dem entscheidenden „turn“ steht, wird hierzulande öffentlich kaum wahrgenommen. Die sogenannte „Netzelite“ tummelt sich lieber auf den quasimetaphysischen Höhen von „Mensch-Maschine“-Spekulationen.

Der eine Bereich ist der 3D-Druck. Ich habe das bisher eher als eine Spielerei nach Art des 3D-TV abgetan. Das ist es aber mitnichten. 3D-Drucker, die bisher nur aus einem einzigen Material (Kunststoff) aus digitalen Vorlagen schichtweise räumliche Gegenstände produzieren, sind allererst der Anfang einer völlig neuen Produktionsweise: der ubiquitären digitalen Fertigung, um „Daten in Dinge und Dinge in Daten zu verwandeln“. Sehr erhellend ist dazu ein Interview mit dem MIT-Wissenschaftler Neil Gershenfeld neulich in der FAZ. (Weiteres findet man bei Heise.) Ein „digital fabricator“ wird in der Lage sein, komplexe Werkstücke herzustellen, weit mehr, als es bisher 3D-Drucker können. „Im MIT haben wir einen Prototyp entwickelt, den PopFab, einen tragbaren 3D-Drucker, der in einen Koffer passt und mit dem man schneiden, fräsen und bohren kann, wenn man ihn mit einem Computer verbindet.“ Die Umwälzung liegt darin, dass langfristig die Herstellung von Gebrauchsgegenständen aller Art auf ein digitales Muster schrumpft, das an beliebigen Orten der Welt beliebig oft von einem „digital fabricator“ materiell hergestellt werden kann – oder auch nur in einem einzigen Exemplar, wenn ich mein persönliches Design in die Produktionsdaten eingegeben habe. So wie sich das entwickelte und gedruckte Foto in eine digitale Vorlage verwandelt hat, deren Zahlencode keine Unterscheidung von Original und Kopie mehr zulässt, genau so wird auch die Herstellung von Möbeln, Fahrrädern, Gebrauchsgegenständen nur noch in der handgreiflichen Umsetzung aus einer digitalen Vorlage bestehen. Wie beim digitalen Foto, Buch oder MP3-Musikstück sinkt der Wert der einzelnen Reproduktion gegen Null, weil aller Wert im digitalen Muster selber enthalten ist. Dieses kann man nicht mehr eigentlich „haben“, sondern nur noch „nutzen“. Das, so kann man jetzt schon absehen, wirft Fragen des Urheberrechtes von ganz neuer Tragweite auf.

Digitale Fertigung scheint das Zeug zu haben, die Produktionsweise von Gütern aller Art über die bekannten CAD-Verfahren hinaus gründlich zu verändern. Was bisher allenfalls für die Herstellung von hoch spezialisierten Elektronikbauteilen galt (Displays, Chips: das „Original“ ist beispielsweise das reine Prozessor-Design, das mit entsprechenden Fertigungsanlagen an beliebigen Orten beliebig oft „produziert“ werden kann, siehe das Geschäftsmodell von ARM), könnte durch die weiter entwickelten 3D-Drucker zu „fabbern“ die Herstellung von Gebrauchsgegenständen, Ersatzteilen, Einzelstücken aller Art völlig umwälzen. Jedenfalls weisen die 3D-Drucker den Weg in diese Richtung. Mit der Veränderung der Produktionsweise und der Produktionsmittel würden sich wohl auch die Produktionsverhältnisse tief greifend verändern können. Gershenfeld spricht von der Möglichkeit einer „Demokratisierung der Produktion“. Nun, das wird sich zeigen, denn diese Veränderung könnte auch ebenso sehr zu einer Kannibalisierung von Produktion und Produkten führen: Wer schafft und „verdient“ dann noch welche Werte? Insofern ist offenbar das, was wir bisher als „Digitalisierung“ kennen und feiern, der allererste Anfang einer sehr viel weiter gehenden Veränderung unseres Verhältnisses zu den „Dingen“: nämlich die konsequente Verwandlung der Dinge in Daten und der Daten in Dinge.

Stammzelle (Wikipedia)
Stammzelle (Wikipedia)

Ein anderes technologisches Feld, auf dem man ebenso vom Erreichen des „turns“ spricht, ist die Biotechnologie: Hier werden in Bioreaktoren aus Stammzellen beliebige eigene Körperzellen gewonnen, zum Beispiel Herzzellen, die den biologischen Muskelzellen vollkommen gleichen und sich dem entsprechend selbständig rhythmisch zusammenziehen und so „arbeiten“. Der Stammzellenforscher George Kensah von den „Leibniz Forschungslaboratorien für Biotechnologie und Künstliche Organe“ in  Hannover, spricht hier davon, dass es bereits jetzt schon „ganz klar Richtung Massenproduktion“ geht. Die Transplantations- und biotechnische Molekularmedizin steht vor einem gewaltigen Schritt zur Regeneration defekter Organe aus bestenfalls eigenem Gewebe. Man lese hierzu den eindrücklichen Artikel jüngst in der FAZ. Auch hier deutet sich eine Veränderung an, die zu bewältigen noch einiger ethischer Diskussion bedarf, die über die bisherige Stammzellendiskussion weit hinaus führt.

Es geht tatsächlich um die Fähigkeit, durch „bio-engineering“ organisches Gewebe neu zu schaffen und medizinisch anzuwenden – keine Zukunftsmusik, denn es geschieht schon in der Forschungspraxis. An dieser Stelle schürzt sich übrigens der Knoten der beiden von mir vorgestellten Entwicklungsfelder: „In Schottland hat man unlängst embryonale Stammzellen mit einem schonenden 3D-Drucker „ausgedruckt“ und damit kleine definierte Kugelzellhaufen geschaffen.“ Gerade diese Möglichkeit zur einfachen Vervielfältigung unterstreicht den Trend zur Massenproduktion. Es geht dabei schlicht um die Umprogrammierung körpereigener Zellen, um dann dort eingesetzt zu werden, wo krankes Gewebe ersetzt werden muss. Die Biotechnologie rund um die Stammzellenforschung ist offenbar das andere Standbein innerhalb der Molekularbiologie, dem neben der spektakulären Entschlüsselung des menschlichen Genoms vor gut zehn Jahren kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt. Überhaupt scheint mir die Biotechnologie durch erfolgreiche Zellprogrammierung ein in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes Feld umwälzender Veränderungen zu sein. Vielleicht ist es auch gut so, dass hier nicht marktschreierische Schlagzeilen und Verkürzungen Verunsicherung schaffen.

Es geht in beiden Bereichen der Entwicklung neuer digitaler und biologischer Technologien in aller Ruhe Schritt für Schritt voran – bis jenseits des „turns“ eine neue Realität da ist. Wir brauchen dann nur noch die Augen auf zu machen.