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Fundamentalismus als Antimoderne

In einem Vortrag des Forums Offene Wissenschaft der Uni Bielefeld sprach der linke Altmeister der deutschen Politologen Arno Klönne zum Thema „Christliche Fundamentalisten in Deutschland – Konsequenzen des Abschieds von der Volkskirche“. Er legte dar, wie die wachsende Zahl „fundamentalistischer“ Gruppierungen innerhalb und außerhalb der christlichen Großorganisationen (evangelische und katholische „Volkskirchen“) als eine Reaktion auf die Moderne, nämlich als deren Ablehnung und Abwendung von ihr, verstanden werden kann. Dabei unterstrich Klönne, dass der Begriff „Fundamentalismus“ recht unscharf gebraucht und oftmals mit Terrorismus verbunden werde und darum näher bestimmt werden müsse. Er markierte vier Kennzeichen christlich-fundamentalistischer Gruppen und Strömungen:

  1. Enthistorisierung des eigenen Weltbildes
  2. Abkehr vom pluralistischen Wertesystem
  3. Unfähigkeit zum Dialog
  4. Aggressiver Hang zur „Missionierung“

1. Enthistorisierung meint, dass die eigenen Glaubensinhalte und Wertvorstellungen, die das jeweilige religiöse Weltbild prägen, als unverrückbar und dem historischen Wandel entzogen gelten. Die eigenen Glaubensaussagen werden entweltlicht und haben quasi Ewigkeitscharakter. Dementsprechend sind auch die Wertvorstellungen unhinterfragbar vorgegeben, zum Beispiel in der Familienethik oder Sexualmoral.

2. Dieser Herauslösung der eigenen Glaubensinhalte und Wertvorstellungen aus dem Fluss des geschichtlichen Wandels hypostasiert diese zu über- oder ungeschichtlichen Größen. Sie sind damit auch der gemeinschaftlichen Diskussion oder auch der gesellschaftlichen Kommunikation entzogen. Es geht allenfalls um die zeit- und situationsgerechte Anwendung dieser unverrückbaren Wahrheiten. Gleichrangige andere Glaubens- und Wertsysteme sind damit undenkbar geworden. Die eigenen Glaubensinhalte und Wertsysteme werden zur ewigen Wahrheit erklärt, die aus pluralistischen Denk- und Lebensweisen heraus fallen.

3. Aus dieser hochgradigen Selbstbezogenheit und Selbstgewissheit, im Besitz der allein richtigen und unwandelbaren Wahrheit zu sein, ergibt sich die Unfähigkeit zum Dialog. Ein Gespräch mit Andersgläubigen (auch ‚andersgläubigen‘ Christen und Mitgliedern der eigenen Kirchen) kann nur nach taktischen Gesichtspunkten erfolgen, um den „Dialogpartner“ für sich zu gewinnen. Der eigene Standpunkt steht dabei niemals ernsthaft zur Disposition. So wird das Gespräch letztlich nur monologisch geführt unter der taktischen Hülle eines „Dialogs“.

4. Glaubt man sich selber im Besitz letztgültiger Wahrheiten, eingeschlossen in vorgegebenen Glaubensgrundlagen und Grundsätzen (Fundamenten), dann kann sich mit der eigenen Haltung ein massiver Drang zur Missionierung verbinden, um „die Welt“ vom „falschen“ Weg zu retten und die Anerkennung der Wahrheit und der Wirklichkeit der als allmächtig verehrten eigenen Gottheit zu erzwingen. Spätestens hier werden fundamentalistische Glaubensgruppen politisch bedeutsam.

5. Zusammenfassend kann man diese so bestimmten „fundamentalistischen“ Gruppierungen innerhalb und außerhalb der christlichen Großorganisationen als eine Reaktion auf den pluralistischen Wertewandel der Moderne begreifen und sie als antimodernistische Reaktion verstehen. Durch die Enthistorisierung allgemein gültiger Wahrheiten sieht man sich dem nivellierenden Wandel der Zeiten entzogen.

Klönne wies darauf hin, dass solche christlichen Gruppierungen dann und dadurch eine besondere Problematik begründen, dass sie sich immer öfter mit spezifisch „rechtem“ politischen Gedankengut verbänden (Rettung des christlichen Abendlandes) und ihrerseits von rechten Gruppen und ihren Organen („Junge Freiheit„) für sich vereinnahmt würden (Rettung vor Islamisierung und Überfremdung). Gerade die sich bürgerlich gerierende Wochenzeitung „Junge Freiheit“ spielt hierbei eine bedeutende Rolle als intellektueller Türöffner. Von den Piusbrüdern bis zu bestimmten evangelikalen Kreisen eröffnet sich in Deutschland ein Feld christlich-fundamentalistischer und zugleich rechts-reaktionärer Strömungen, die besonders dann gefährlich verführerisch werden können, wenn soziale Verwerfungen in unserer Gesellschaft zunehmen. Klönne nannte die wachsende Schere zwischen Arm und Reich und ging davon aus, dass sich Deutschland mittelfristig kaum von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der übrigen Europäischen Union abkoppeln könne. Genau hier erkannte er die gesellschaftliche und politische Gefahr, die von christlichen Fundamentalisten und ihren rechten Gesinnungsgenossen ausgehen können, wenn sie mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft drängen.

Pfingstler
Pfingstler

Man kann der Meinung sein, dass dieses gezeichnete Bild aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich und zu negativ akzentuiert sei, – ganz von der Hand zu weisen ist diese Perspektive allerdings nicht. Gerade dem bürgerlichen und biederen Deckmäntelchen der „christlichen Rechten“ kommt einige Bedeutung zu, auch wenn die Verhältnisse bei uns in Deutschland noch meilenweit von der politischen Aggressivität der christlichen Rechten in den USA verschieden sind. Zumindest scheint mir die Aufforderung Klönnes gut begründet zu sein, diesen Gruppierungen in unserer Gesellschaft mehr kritische Aufmerksamkeit zu schenken.

Auch der Hinweis darauf, dass sich manche „fundamentalistischen“, insbesondere evangelikalen Gruppen völlig unpolitisch begreifen und sich und die Ihren „nur“ von den verderblichen Einflüssen des modernen Wertepluralismus fernhalten und abschotten wollen, macht deren Einfluss nicht weniger brisant. Zum einen betonte Klönne, dass sich gerade auch rechte Gruppen im kommunalen Umfeld bewusst scheinbar „unpolitisch“ verhielten, zum anderen zeigen die Konfliktfelder der evangelikalen Abgrenzung (Schulausflüge, Klassenfahrten, koedukativer Sportunterricht, Verweigerung der Teilnahme am Sexualkundeunterricht, Kreationismus) durchaus gesellschaftspolitische Sprengkraft. Werden hier um des lieben (Schul-) Friedens willen vorschnell und übereifrig Kompromisse im Sinne von Zugeständnissen gemacht, gibt man diesen antimodernistischen Strömungen de facto mehr und mehr Raum mitten in der Gesellschaft. Allein diese Auswirkung sollte von all denen, denen Pluralismus, Individualismus und Liberalität als Kennzeichen der Moderne lebenswichtig sind, genauestens beobachtet werden, um dem fundamentalistischen Anspruch angemessen begegnen zu können.

Leider fehlten in dem klaren und anregenden Vortrag Arno Klönnes (ich habe ihn aus meiner eigenen Sicht paraphrasiert) Zahlen: Wie groß sind diese fundamentalistisch genannten Gruppen, gibt es belegte Zahlen des Wachstums oder nachprüfbare Untersuchungen über ihren gesellschaftlichen Einfluss? Eine erste Übersicht über christliche Gruppen („Kirchen“ und „Sekten“) verschaffen die Aufstellungen des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes. Will man hier aber weder einem selbst gebastelten Feindbild noch der Euphorie eines interreligiösen / interkulturellen Dialogs aufsitzen, sind belastbare Zahlen und wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse vonnöten. Das von Klönne skizzierte Szenario möglicher christlich-fundamentalistischer Gefährdungen reicht für sich genommen noch nicht zur Beurteilung der Tragweite dieser Phänomene aus, wenngleich von ihm wertvolle und weiter zu verfolgende Analysen und Hinweise gegeben wurden.

Ferner ist nach Parallelen und Übereinstimmungen mit den Fundamentalismen anderer Religionen zu fragen. Vieles oben Skizzierte ließe sich sicher auch über den islamischen Fundamentalismus aussagen. Dem steht aber zum Beispiel die Interpretation von Olivier Roy entgegen, der den fundamentalistischen Islamismus als eine spezifisch moderne Erscheinung analysiert, nämlich als eine besondere Form der postkolonialen Aneignung der Moderne. Das lässt eine spannende Ambivalenz des Phänomens „neuzeitlicher Fundamentalismus“ erkennen und regt zu weiteren Überlegungen und Forschungen an.

Insgesamt war es ein erfrischend klarer und anregender Vortrag dieses zweiundachtzig jährigen Großmeisters der deutschen Politologie.