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Gesellschaft Moderne

Zeiterscheinungen

Es ist schwierig, die gegenwärtige Zeit in Gedanken zu fassen. Das liegt weniger daran, dass die Gegenwart so schwierig wäre, sondern verweist auf ein grundsätzliches Problem. Die unmittelbare Nähe und Distanzlosigkeit des Erlebens der jeweils aktuellen Zeit macht es nahezu unmöglich, in der Gegenwart etwas „objektiv“ zu sehen, denn das hieße ja: aus der Distanz, mit Abstand. „Mit Abstand von einigen Jahren“ sieht bekanntlich alles ganz anders aus. Der subjektive Gesichtswinkel, aus dem heraus man jeweils seine Zeit wahr nimmt und beurteilt, ist ebenfalls unvermeidbar, solange die unmittelbare Mitbetroffenheit im Verlauf gegenwärtiger Ereignisse und Erscheinungen die neutrale Position aus der Perspektive eines Dritten unmöglich macht. Es ist das oft zitierte Problem, den Vogel aktuell im Fluge zu zeichnen. Ohne die Richtung und das Ziel zu kennen, ist das ein schier unmögliches Unterfangen. Völlig anders ist die Situation, wenn man die mediale Aufzeichnung desselben Vogelfluges betrachtet. Da ist dann jegliche Beschreibung und Analyse sehr leicht möglich, weil der Gesamtverlauf bekannt ist.

Wiewohl die Beurteilungen von Zeiterscheinungen also stets und prinzipiell schwierig sind, gibt es doch Dinge und Erscheinungen, deren „Gegenwart“ sich bereits eine Zeit lang hin dehnt, die also rückblickend einen Verlauf aufweisen. Hier ist es schon leichter, zu Beurteilungen zu gelangen, da ihre jeweilige Gegenwart bereits einen Teil (naher) Vergangenheit und somit Distanz enthält. Offensichtlicher sind daneben solche Phänomene der Gegenwart, die sich leicht als Modeerscheinung, als ‚Hype‘, erkennen lassen, weil sie vielfach medial verstärkt gleichsam von allen Dächern zugleich herab tönen und in vielen gesellschaftlichen Bereichen zugleich auftreten. Ihre mediale Verstärkung macht sie nur scheinbar übermächtig. Zwischen noch unklaren Ereignissen der Gegenwart mit ungewissem Ausgang und unsicherer Bedeutung einerseits und klar erkennbaren Modeerscheinungen der Alltagsöffentlichkeit andererseits liegen Trends. Trends können eine tatsächliche Richtung, ein wirkliches Gefälle (‚bias‘) der Entwicklung anzeigen, sie können aber auch ganz in die Irre gehen oder in eine Sackgasse führen. Da ist man erst hinterher schlauer. Wer einen ‚richtigen‘ Trend erkennt (zum Beispiel an den Börsen, in der kulturellen oder auch technologischen Entwicklung), gilt dann im Nachhinein als ein besonders schlauer oder genau analysierender Zeitgenosse, – dabei hat er wahrscheinlich in einem konkreten Fall nur Glück gehabt. Über erfolgreiche Trends wird berichtet, – falsch erkannte Trends werden schnell vergessen.

Mit dieser vorsichtigen Annäherung und durch Hinweis auf die möglichen inkludierten Schwierigkeiten einer Zeitbeschreibung möchte ich nun doch ein paar Beobachtungen über die Gegenwart aus versuchter Distanz heraus mitteilen. Es gibt eine Reihe von Dingen und Zuschreibungen, die zwar wieder und wieder geschrieben und verbreitet werden, die also so etwas wie eine öffentliche Übereinkunft über den Zustand der Gegenwart darstellen, die aber nichts desto weniger fragwürdig und bezweifelbar und also keineswegs selbstverständlich sind.

Ein Beispiel ist die Aussage, die gegenwärtige Zeit sei besonders „beschleunigt“. Das bezieht sich dann auf gesellschaftliche Veränderungen einerseits und auf technologische  Entwicklungen andererseits. Oft wird die Feststellung einer Beschleunigung auch mit dem Hinweis auf die Hektik des Alltags begründet. Das aus meiner Sicht einzig konkret fassbare Datum (=Gegebene) aber ist die zunehmende Verdichtung von mancherlei Arbeits- und Produktionsprozessen. Hier ist die Aussage einer Beschleunigung sicher zutreffend. Ob das aber im Blick auf das Leben insgesamt gilt, ist für mich eher zweifelhaft. Konkrete Alltagsbeobachtungen sprechen eher dagegen. Ob man sich gerne in jeden Trubel stürzt und möglichst viel mit bekommen will oder ob man bedächtiger und behutsamer Schritt für Schritt an Dinge und Entscheidungen heran geht, ist eine Frage der persönlichen Einstellung, der Mentalität. Die angeblich so verbreitete Beschleunigung der Lebensverhältnisse und ihrer Veränderungen besteht zum einen aus der Verwechslung von Beschleunigung mit selbst induzierter Hektik (man macht sich Stress) vermittels übersteigerter Ansprüche, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erleben, zum anderen darin, dass der erlebnishafte Vergleich mit der Vergangenheit fehlt. Liest man zeitgenössische Berichte zum Beispiel aus den „goldenen Zwanzigern“ des vorigen Jahrhunderts in Berlin, so ist die Klage oder Freude über eine übergroße Hektik („Jubel, Trubel, Heiterkeit“) kaum zu übersehen. So neu scheint das Phänomen der Beschleunigung also gar nicht zu sein. Dass die jeweilige Zeit hektisch und überstürzt sei, wurde eigentlich zu vielen Zeiten gesagt (vgl. Renaissance). Darüber hinaus zeigt uns die Sozialforschung, dass sich Einstellungen und Mentalitäten nur sehr allmählich, im Grunde nur von Generation zu Generation wirklich ändern und verschieben. Was also ist heute so „beschleunigt“?

Times Square NY
Times Square NYC

Am ehesten scheint das auf die technologischen Entwicklungen zuzutreffen. Die Taktzahl der allfälligen Neuerscheinungen hat sich gewaltig erhöht; alle halbe Jahr gibt es neue technische Geräte, insbesondere im Bereich von Medien und Kommunikation (Handys!). Doch marktgetriebene Neuerungen sind selten eine wirkliche Beschleunigung, entpuppen sich doch die meisten Neuheiten als nur geringfügig verbesserte Altversionen. Auch technologische Entwicklungsschübe bleiben weitaus seltener, als es die medialen promotions (PR!) glauben machen. Wie das Automobil in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die künftige Entwicklungen verändernde und bestimmende Neuerung war, so dürfte wohl die Verbreitung des Mediums Internet zu den wegweisenden Neuerungen dieses Jahrhunderts gehören. Ein neues iPhone allerdings macht wie eine Schwalbe noch längst keinen ‚beschleunigten‘ Sommer. In diesem Sinne sind konsumorientierte Neuheiten eigentlich nichts, was eine Beschleunigung des Lebens des Einzelnen bewirken könnte. Auch hier zeigt sich beim näheren Hinsehen, dass sich Verbraucherverhalten nur sehr allmählich ändert und auf neue Verhältnisse einstellt. Hier muss man manche „Internetfuzzis“ bei aller Begeisterung einfach mal auf den Boden der Tatsachen zurück holen.

Ein anderes Phänomen ist der Burn-Out. Unter Medizinern ist es nach wie vor umstritten, ob es sich dabei um ein eigenes Krankheitsbild handelt, und wenn ja, um welches, oder ob es sich um eine unscharfe Bezeichnung für ein Art von Depressionen oder depressivem Verhalten handelt. Schaut man in die Medien, bekommt man allerdings den Eindruck, es handele sich um eine neue Volksseuche. Nun ja, vor einhundertfünfzig Jahren gehörte es in der Damenwelt zum guten Ton, regelmäßig in Ohnmacht zu fallen. Mir scheint das, was man mit Burn-out-Syndrom bezeichnet, eher ein symptomatischer Ausdruck für ein Gefühl der Selbstüberforderung zu sein. Die kann natürlich auch handfeste klinische Befunde verursachen. Die Leidenserfahrung Betroffener will ich weder klein reden noch ignorieren. Nur könnten die Ursachen und Zusammenhänge von anderer Art sein, als es die „Modekrankheit“ Burn-Out anzeigt. Das Ausgebranntsein hat zwar auch etwas mit Selbstüberschätzung bzw. Selbstüberforderung zu tun, vor allem aber verweist es auf eine Desorientierung und vielleicht sogar Desillusionierung innerhalb der umgebenden Lebenswelt.

Damit kommen wir zu einem dritten Bereich, der als letztes Beispiel dienen soll. Es handelt sich um die viel beschworene zunehmende Komplexität unserer Gesellschaft und Lebensverhältnisse. Dabei ist es zunächst einmal gleichgültig, ob diese Zunahme der Komplexität real abbildbar ist, oder ob sie als solche lediglich erlebt wird. Letzteres ist offenkundig der Fall, bei Ersterem bin ich mir nicht so sicher. Meine These ist dabei, dass es weniger die objektiven Verhältnisse unseres Lebens sind, die so viel ‚komplexer‘ geworden sind, als vielmehr die Art und Weise, wie wir mit den Gegebenheiten und Zufälligkeiten der Ereignisse des Lebens umgehen. Leben ist immer und an sich von großen Zufälligkeiten und überraschenden Veränderungen geprägt, eine Allerweltsweisheit. Dem sollten in früheren, zum Beispiel eher ständisch organisierten Gesellschaften, klare Orientierungsrahmen entgegenwirken, die als Lebensordnungen bestimmten Werten folgten und einigermaßen klare Verhaltensweisen in den Unfällen des Lebens ermöglichten. Der Aufbruch in eine offene Gesellschaft der individuellen Freiheit, der Auswahl eigener Werte ohne vorgegebenes Wertesystem, die zunehmende Eigenverantwortlichkeit für die Gestaltung des eigenen Lebensverlaufs, sind große neuzeitliche Errungenschaften für die Selbstwerdung als freie Person, werden aber mit einem Verlust an selbstverständlicher Stabilität und Systemorientierung  erkauft. Ein guter Teil dessen, was heute als Zunahme objektiver Komplexität beschrieben wird, ist viel mehr der subjektiven Seite des Umgangs mit stets unsicheren und wechselhaften Lebensverhältnissen zuzuschreiben. Wenn es keine oder kaum selbstverständliche Verhaltensweisen im Umgang mit den Zufälligkeiten und Wechselfällen des Lebens gibt, muss sich jeder einzelne stets aufs Neue damit für sich auseinandersetzen und einen Ausweg finden. Das ist der Preis der Freiheit, der Offenheit und der Individualisierung unserer Lebensverhältnisse. Wer sie nicht missen möchte (ich gehöre jedenfalls dazu), muss damit leben, dass die Verhältnisse und Gegebenheiten jeweils eine eigene Entscheidung erfordern, dass eigene Werte und Verbindlichkeiten gesucht und freiwillig befolgt werden wollen und dass diese Freiheit und Offenheit in unserer modernen Gesellschaft der Individuen eben auch anstregend sein kann. Sich Übersicht zu verschaffen über die eigenen Lebensumstände und Ziele und hierbei eigene Prioritäten zu setzen fernab von gesellschaftlich verbindlichen Konventionen muss erlernt und geübt werden. Was Wunder, wenn sich da bisweilen das Gefühl der Überforderung und der „Überkomplexität“ der Lebensverhältnisse breit macht. Die offene Gesellschaft freier Individuen in der modernen Zeit („everything goes“) gibt es tatsächlich nicht zum Nulltarif.

Dies sind nur einige Aspekte der Betrachtung unserer Gegenwart. Vor allem was den Blick auf die Entwicklung der modernen Gesellschaft betrifft,  ist hier nur ein einziger, wenngleich grundsätzlicher Aspekt genannt worden. Selbstverständlich sind die politischen Verhältnisse, Machtstrukturen, kulturelle Bindungen und Verflechtungen, globalisierte Entwicklungen usw. usw. in eine genauere Analyse einzubeziehen. Hier geht es nur um einige Beobachtungen und Anregungen, die gegenwärtige Zeit und einige ihrer Entwicklungen ruhig in den Blick zu nehmen. Das Bild ließe sich um viele Aspekte ergänzen, erweitern, korrigieren. Nur der Versuch der vorsichtigen Distanzierung (Abstand gewinnen) kann hierbei weiter helfen.