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Anthropologie Philosophie

Ein zweibeinig federlos Geschöpf

Der Mensch sei „ein zweibeiniges, federloses Geschöpf“, so habe Platon gesagt. Diogenes habe ihm daraufhin einen gerupften Hahn vorgehalten, das sei also Platons Mensch. Dieser habe dann ergänzt, „mit platten Nägeln“, was aber auch nicht ganz überzeugte, zumal in dieser Ergänzung ein Wortspiel mit dem Namen Platons enthalten war. Also wurde korrigierend noch einmal erweitert „der Vernunft und Wissenschaft teilhaftig“ – und damit haben wir den Salat. Auch wenn dieser aus kynischer Tradition überlieferte Wortwechsel zwischen Platon und Diogenes wohl nur legendarischen Charakter hat (eine entsprechende ‚Definition‘ findet sich nirgendwo in den Werken Platons, 1), so ist sie zumindest gut erfunden, macht sie doch genau das Problem deutlich: Was zeichnet den Menschen gegenüber den übrigen Lebewesen, insbesondere den Tieren, aus?

„Was ist der Mensch?“ Diese Grundfrage hat insbesondere die Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt. Sie liegt aber auch aller Wissenschaft unausgesprochen zugrunde, wenn man durch Forschung und Wissen Aufschluss zu erhalten sucht über das, was einen selbst und die gesamte „Welt im Innersten zusammen hält“. Nun gut, könnte man meinen, da haben doch Biologie, Chemie, Physik, Medizin, aber auch Metaphysik, Anthropologie und nicht zuletzt die Überlieferung der Religionen einiges zusammengetragen. Besonders die neuzeitlichen Naturwissenschaften (science) haben inzwischen recht genau analysiert, wie sich der Mensch evolutionär entwickelt hat und wie er daraufhin physiologisch zu beschreiben ist. Die Neurowissenschaften bemächtigen sich derzeit mit erstaunlichen Fortschritten des menschlichen Gehirns, um seine basalen Zustände und Funktionsweisen zu erklären. Wenn auch längst noch nicht alles an und in unserem Gehirn verstanden ist, so kann man doch getrost davon ausgehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die letzten Lücken geschlossen und neurophysiologisch und kognitionswissenschaftlich erkannt und verstanden sein werden. Die Frage ist nur: Hat man dann auch „automatisch“ die Frage beantwortet, was der Mensch eigentlich als besonderes Wesen ist? Wie steht es mit dem erklärenden Zusatz „der Vernunft teilhaftig“? Kurz – was hat es mit dem Geist des Menschen auf sich?

Da haben wir den Salat deswegen, weil über die Beantwortung der Frage nach dem Geist, nach den mentalen Fähigkeiten und „mentalen Phänomenen“, unter den Wissenschaftlern und Philosophen allergrößte Uneinigkeit besteht. Und es kann hierbei auch keineswegs die Zuversicht geben, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch darüber Einvernehmen hergestellt ist. Das Problem beginnt schon bei der näheren Bestimmung des zu untersuchenden Gegenstandes „Geist“. Ist das Denkvermögen gemeint, der Verstand, die Vernunft, die Urteilskraft, die Logik? Ist das alles ein und dasselbe oder wodurch unterschieden? Ist es mehr die Fähigkeit, sich zu erinnern, sich etwas vorzustellen, zu planen, absichtsvoll zu handeln? Und wie verhält sich das Bewusstsein, zumal das „phänomenale Bewusstsein“, zum Bereich des Geistigen, insbesondere das Selbstbewusstsein? Oder ist es nur so etwas wie ein „Aggregatzustand“ des Gehirns? Was ist mit Phantasie, Imagination, Intuition, und dann erst mit Empfindungen, Ahnungen, Gefühlen, die wir kennen und benennen? Was ist im Bereich des Geistigen das Objektive, was das Subjektive, oder ist schon diese Unterscheidung falsch? Was geschieht, wenn man die Frage „Was ist der Mensch“ umformuliert zu der Frage „Wie fühlt es sich an, ein Mensch zu sein?“

Menschen - Bilder (Vancouver)
Menschen – Bilder (Vancouver)

Diese letzte Frage nimmt das etwas provokante Thema des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel auf, der 1974 in einem berühmten Aufsatz fragte „What is it like to be a bat?“, was man übersetzen muss mit „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“ Damit wurde mit einem Paukenschlag die bis heute andauernde Diskussion um die „Qualia“ eröffnet, die, wie die einen meinen, sich jedem pysikalischen Reduktionismus entziehen, was die „Reduktionisten“ oder „Emergentisten“ energisch bestreiten – mit einer Vielzahl an differenzierenden Zwischenpositionen. Qualia (Plural, Singular: Quale, abgekürzt für „mentale Qualitäten“ bzw. Qualitäten des phänomenalen Bewusstseins), scheinen sich einer biophysischen oder neurologischen Erklärung zu entziehen. Zwar kann man exakt angeben, was es elektrodynamisch und neurophysiologisch bedeutet, die Farbe Rot zu sehen, also zu beschreiben, welcher Vorgang beim Auftreffen des Lichtes auf die Zäpfchen in der Retina ausgelöst wird und schließlich an einer bestimmten Stelle optischer Wahrnehmung im Gehirn ankommt und „verarbeitet“ wird, man kann also erklären, was passiert, wenn man Rot sieht, aber damit, so die entscheidende Zuspitzung, ist noch längst nicht gesagt, wie es sich im Innern des Sehenden anfühlt, rot zu sehen. Ebenso kann man alle Funktionen und Eigenschaften einer Fledermaus genauestens beschreiben bis hin zu einem denkbaren molekularen Nachbau (Kopie) eines solchen Tieres, ohne je zu wissen, wie es sich als Fledermaus anfühlt, eben eine Fledermaus und nicht ein Mensch oder sonst ein anderes Lebewesen zu sein. Wenn man sich in dieses Problem vertiefen will, tun sich einem Bücherschränke an Literatur aus den jüngst vergangenen Jahrzehnten auf. An der Charakterisierung dieser Qualia scheint so viel zu hängen, weil man darin einen irreduziblen „Rest“ einer rein mentalen Fähigkeit erkennen will, die nicht von einem physikalischen Zustand verursacht ist. Hier scheinen also die hehren Retter der Unabhängigkeit des Geistes gegen die plumpen Naturwissenschaftler und Physikalisten zu stehen.

Ich betone „scheinen“, denn beim näheren Hinsehen sind auch die monistischen Positionen (im Gegensatz zu den Dualisten) weder plump noch geistesfremd. Es ist doch in der Tat die Frage, ob wir bei der Beschreibung dessen, was uns wissenschaftlich erkennbar ist, von einem einheitlichen, in sich kausal geschlossenen Weltbild ausgehen wollen, oder ob wir zwei verschiedene Ontologien, eine physikalische und eine geistige, meta-physische (darum Dualismus) behaupten wollen. Fragt man sich nun, warum der ganze Terz, ist das denn so wichtig? Kann man nicht einfach von zwei unterschiedlichen Wirklichkeiten (Ontologie = Seinslehre) ausgehen, wenn  einem eine einzige „rein“ physikalische nicht auszureichen scheint? Das Problem ist dann nur anzugeben, wie sich diese beiden Seinsweisen denn aufeinander beziehen, da sie doch im Menschen offenkundig gemeinsam versammelt sind. Damit sind wir flugs bei Platon, Aristoteteles, und und und. Will man aber ein einheitliches „konsistentes“ Weltbild zugrunde legen, wie es die naturwissenschaftliche Forschung de facto tut, dann bekommt man spätestens dann Schwierigkeiten, wenn  man die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten beschreiben (um nicht zu sagen erklären) will, die für unverwechselbare Kennzeichen des Geistigen gehalten werden: Selbstbewusstsein, Erleben, Empfindung, Intuition, – von all dem, was man unter „Mystik“ zusammen fasst, einmal ganz zu schweigen. Woher kommt „Neues“ in die Welt? Was ist (nicht nur künstlerische) Kreativität? Wie verhält sich die Sprache zu unserer Erkenntnisfähigkeit? Wie soll man denjenigen Bereich des menschlichen Daseins verstehen, den Karl Popper so schön als „Welt 3“ kategorisiert, womit er die Welt geistiger „Gegenstände“ (Gedanken, Ideen, Kultur) meint? Kann ich das alles im Ursprung „reduktionistisch“ auf biophysische Vorgänge zurück führen, und wenn ja, was würde das genau bedeuten? Reduktion heißt ja nicht, verschwinden lassen, es bedeutet vielmehr eine Rückführung oder besser Verknüpfung der Erklärung und des Verstehens auf basale oder wenigstens vorgängige Strukturen und Funktionen, die unsere Welt, belebt und unbelebt, im Ganzen bestimmen und die wir unter anderem als Naturgesetze kennen. Dem unterliegt der Mensch doch auch sonst. Da kommen dann Begriffe wie Emergenz, Supervenienz und Epiphänomenalismus zur Geltung, die genau einen positiv gefüllten Begriff einer physikalistischen, monistischen Ontologie entfalten und erweitern wollen. Allein diese drei Begriffe zu erklären würde schon wieder einen längeren Aufsatz erfordern. Der Hinweis auf sie mag hier anzeigen, dass auch auf der Basis eines nicht-dualistischen Weltbildes die Dinge keineswegs einfacher liegen, als sie sich vermeintlich aus dualistischer Perspektive ergeben.

Eines allerdings, und darin sind sich fast alle Gegenwartsphilosophen einig, ist ‚verbotenes Land‘, zumindest vermintes Gebiete: die Metaphysik, gerne mit dem Adjektiv „traditionell“ versehen. Alle bisher beschriebenen Bemühungen sind in dem Bereich der Philosophie angesiedelt, den man als „analytisch“ bezeichnet, mit oder ohne  „linguistic turn“. Die analytische Philosophie wollte und will sich als Alternative zu metaphysischen Spekulationen anbieten, die man zum Beispiel im Deutschen Idealismus kulminieren und zu überwinden sieht. Ganz klar, zu Hegel & Co. gibt es kein zurück, und das ist auch gut so – aus meiner Sicht. Aber die Verheißungen der analytischen Philosophie, die Phänomene von Geist und ‚Sinn‘ einfacher, klarer und konsistenter zu beschreiben und zu verstehen, haben sich definitiv nicht erfüllt, fast möchte man sagen: eher im Gegenteil. Aber wenn auch neben vielen sehr guten Ergebnissen (wie die genauere Bestimmung von Qualia, Emergenz, Supervenienz, epistemischer oder nomologischer Ontologie und vielem anderen mehr) auch Abwege und Sackgassen deutlich werden, so ist damit auch viel gewonnen. Mir scheint besonders die extensive Diskussion der Qualia inzwischen in einem unergiebigen Abseits gelandet zu sein. In der Verlagsbeschreibung eines neueren Buches von Michael Pauen zum Thema Qualia heißt es sehr schön:

Wie kann das phänomenale Bewusstsein in unser naturwissenschaftliches Weltbild integriert werden, wenn doch, wie viele Philosophen des Geistes heute glauben, auch seine Abwesenheit mit allen naturwissenschaftlichen Tatsachen logisch vereinbar ist? Hier haben sich in der jüngsten Diskussion zwei Strategien heraus kristallisiert: Erstens die Strategie der phänomenalen Begriffe, derzufolge die explanatorischen Rätsel des phänomenalen Bewusstseins nichts mit einer ontologischen Kluft zwischen dem Physischen und dem Phänomenalen zu tun haben, sondern sich allein aus den Besonderheiten unserer phänomenalen Begriffe ergeben. Zweitens die Strategie des verfehlten Erklärungsmodells, derzufolge die gegenwärtigen Schwierigkeiten mit reduktiven Erklärungen phänomenaler Eigenschaften nichts mit unerklärbaren Besonderheiten des Bewusstseins zu tun haben, sondern einfach mit falschen Vorstellungen darüber, wie reduktive Erklärungen funktionieren.

Ja, an „verfehlten Erklärungsmodellen“ könnten viele der genannten Probleme wirklich liegen. Es geht also wieder einmal darum, die Spreu vom Weizen zu trennen. Und dazu war in der Philosophie oft genug Anlass und ist immer eine besondere Anstrengung nötig.

Was also ist der Mensch, dieses „zweibeinig federlos Geschöpf, plattnägelig, der Vernunft und Wissenschaft teilhaftig“? Spannende Frage. Wir werden dran bleiben müssen.

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1) siehe in Margaret Billerbeck (Hrg.), Die Kyniker in der modernen Forschung, 1991, den Beitrag von C.W. Goettling, Diogenes der Kyniker, S. 43 (Google books)