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Die Vergangenheit der Nation

Die Fixierung der Gegenwart auf die Gegenwart ist oft erstaunlich. Die „Normativität des Faktischen“ (Georg Jellinek) hat eine kaum hoch genug einzuschätzende Kraft. Allenfalls ein wenig in die Zukunft reicht der Blick, aber nur, soweit sie abzuschätzen ist. Und das ist nicht allzu weit. Karl Valentin wird bekanntlich die Äußerung zugeschrieben: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“. Das Handeln im Alltag ist durchweg von recht kurzfristigen Überlegungen geleitet. Große Firmen denken sich gelegentlich langfristige Strategien aus, und die klappen allenfalls teilweise, siehe Valentin. Etwas anders liegt es bei Zielen, die man sich steckt, individuell wie generell. Über ihre Erreichbarkeit ist damit aber noch überhaupt nichts gesagt. Großer Elan im Blick auf die Zukunft ist stets von Wunschbildern geprägt. Dies alles gilt sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Letztere ist wahrscheinlich noch viel stärker auf Beharrung und Idealisierung fest gelegt.

Der Blick zurück in die Vergangenheit gilt als wenig verlockend, wenn es um gegenwärtiges Handeln geht. Selbst Erlebnisse von katastrophalen Ausmaßen verblassen spätestens in der nächstfolgenden Generation. Die politisch oft zitierte Aufforderung „Niemals vergessen!“ ist durchweg von einem speziellen Bild einer bestimmten Vergangenheit geprägt und wird instrumentell im Blick auf gegenwärtige Ziele benutzt. Die Mahnung, nicht zu vergessen, sagt meist mehr über die Gegenwart dessen aus, der ein bestimmtes Bild der Vergangenheit beschwört, als über die Vergangenheit selbst. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass ‚der Mensch‘ (sorry für diese Pauschalierung) so schrecklich wenig aus der Geschichte und so gar nichts aus der nahen Vergangenheit lernt. Der heutige Umgang mit dem Nationalsozialismus und den Weltkriegen ist davon nur vordergründig eine Ausnahme.

Ein Beispiel. Die gegenwärtigen globalen politischen Verhältnisse sind von Nationalstaaten geprägt. Die Basis stabiler (welt-) politischer Verhältnisse ist der geregelte Umgang der Staaten miteinander, und diese Staaten sind weitgehend national definiert. Die gesamte Idee der UNO beruht – nach dem gescheiterten Völkerbund – darauf, dass Nationalstaaten ihre Verhältnisse nach innen souverän (keine Einmischung) und nach außen gemäß dem Völkerrecht (also Nationenrecht) gestalten. Grenzen liegen ein für allemal fest. Ausnahmen (Kosovo) werden als solche deutlich gekennzeichnet und gerechtfertigt. Der Zusammenbruch der UdSSR verlief in weiten Teilen als eine verspätete Bildung von Nationalstaaten auf dem Territorium der UdSSR. In China wäre wohl Ähnliches zu erwarten, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – zu seinem Zerfall der Zentralmacht käme, wie es schon so oft in der chinesischen Geschichte der Fall war. Im Grunde ist es die Globalisierung eines europäischen Modells: die Bildung von Staaten auf der Basis eines einheitlichen Staatsgebietes, Staatsvolkes und einer effektiven Staatsgewalt (dreifach Definition von Jellinek). Dieses Modell ist in Europa als Ergebnis Jahrhunderte langer Machtkämpfe und Revolutionen entstanden (vom dreißigjährigen Krieg ab 1618 über den Westfälischen Frieden 1648 und die Französische Revolution 1789 bis zum Wiener Kongress 1814/15). Die daraus erwachsenen Nationalstaaten wurden dann besonders auf dem Hintergrund der Erfahrungen zweier „Weltkriege“ zu Blaupausen für die internationale Staatlichkeit, verfasst in der UNO, und der Ausbildung eines „Völkerrechts“, also eines Rechtes der Nationen. Das entsprach dem Bedürfnis nach internationaler und nationaler staatlicher Stabilität und ist bisher auch einigermaßen erfolgreich gewesen.

UN Building (wikiarchitectura)
UN Building (wikiarchitectura)

Das Problem steckt schon in der Definition des Begriffes „national“. Inwiefern sind die Deutschen (nur als Beispiel) eine Nation? Sprachlich würden auch die Österreicher dazu gehören und ein Teil der Schweizer – die alte Idee eines „Großdeutschland“ wurde bekanntlich zuletzt von Nazi-Deutschland gewaltsam durchexerziert. Aber schon die Reichsgründung 1871 bezog sich auf eine nationalstaatliche Lösung, die unter der Dominanz Preußens einige Kleinstaaten (deutsche Fürstentümer) und sogar das Königreich Bayern integrierte. Das geschah also keineswegs auf der Grundlage eines klaren Nation-Begriffes, sondern aus machtpolitischen Zweckmäßigkeiten und ambivalenten Möglichkeiten. Die Zweistaatlichkeit (1949 – 1989) auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches entsprach viel eher früheren geschichtlichen Erfahrungen. Wie schwierig auch unter anderen europäischen Nationalstaaten die Definition des Staatsvolkes auf nationaler Basis ist, zeigen einerseits die nationalen Minderheiten (zum Beispiel die Basken) wie auch die nationalen Eigenständigkeiten selbst unter dem Dach einer konstitutionellen Monarchie (Great Britain aus England, Schottland, Wales und überseeischen Gebieten). Zuletzt hat auf mitteleuropäischem Boden der Zerfall Jugoslawiens in zerbröckelte Nationalstaaten zu Krieg und instabilen Verhältnissen geführt bis auf diesen Tag. Normal, ’natürlich‘, unveränderlich ist da gar nichts. Die Beispiele aus Indien (Trennung Bangladeschs 1971), Indochina (Vietnam) und erst recht Afrika (Somalia) lassen sich leicht ergänzen. Nationalstaatlichkeit ist offenbar keine allgemein gültige Gegebenheit mit Ewigkeitswert. Der Streit über Minderheiten, Sprachen, Kulturen inklusive unterschiedliche Religionen haben Nationalstaaten heutiger Prägung immer wieder zu einem Pulverfass gemacht. Es sind meist nicht mehr als momentan ‚eingefrorene‘ Staatlichkeiten aufgrund konkreter veränderlicher Machtverhältnisse.  Aktuelles Beispiel: Syrien. Es gibt übrigens auch keinerlei Gewähr, dass es sich in Europa im Prinzip anders verhält. Nichts ist hier sicher und von Ewigkeitswert, ganz gewiss auch nicht durch den Euro.

Große Reiche waren in der Vergangenheit stets „Vielvölkerstaaten“, d.h. Staatsgebilde, deren konstitutives Element nicht eine Nation (nicht einmal den Begriff gab es), sondern die Machtausübung einer bestimmten aristokratischen Herrschaftsgruppe / Clan war. Das gilt noch bis zum Osmanischen Reich und ebenso für die habsburgische „Donaumonarchie“ Maria Theresias. Die Probleme und das Ende dieses letzten Vielvölkerstaates auf europäischem Boden sind eng mit dem Entstehen des Nationalismus verbunden. Aber auch ganz andere Staatsgebilde wie die griechischen Poleis waren keineswegs auf einer Nation aufgebaut, sondern eben auf die Lebens- und Wirtschaftsform einer Stadtkultur. Nicht einmal das Recht musste in einem Staatsgebiet einheitlich sein. Für die Ostgoten (Theoderich) in Italien galt stets deren eigenes Recht nur für die eigenen Leute, während die eroberte Region ihr altes Recht behielt. Was hieß überhaupt ‚Eroberung‘? Zunächst Plünderung und dann Tributpflicht als Anerkennung der neuen Oberherrschaft. So jedenfalls hielten es die ‚Römer‘ in ihren Reichen. Interessant ist insbesondere bei den Römern, dass im Verlauf des Römischen Reiches die „Romanitas“ immer stärker als Idee und viel weniger als Volks- oder Herkunftsbezeichnung verstanden wurde. Die meisten römischen Kaiser vor allem der Spätzeit waren mitnichten ‚Römer‘ von Geburt. – Noch ein Hinweis auf die Vielfalt des Rechtes, die in einem Territorium gelten konnte: Im Mittelalter bis zur Neuzeit konnte in deutschen Ländern / Fürstentümern unterschiedliches Recht gelten: ein Hamburger, der in Köln vor Gericht stand, konnte nach hanseatischem Recht beurteilt zu werden beanspruchen. Erst unter Napoleon setzte sich ein einheitliches Recht für alle „Bürger“ durch, der Code Napoleon (Bürgerliches Recht und Strafrecht + weitere). In summa: Das, was uns als selbstverständliche Gegebenheit staatlicher Organisation erscheint, der Nationalstaat (selbst innerhalb der EU), ist weder selbstverständlich noch vorgegeben. Unsere heutige ‚Normal-Staatlichkeit‘ ist ebenso geschichtlich geworden und veränderlich wie alles Geschichtliche überhaupt. Insofern sind auch Nationalstaaten nur eine Episode.

Und was kommt danach? Multipolare, technokratische Großmacht-Staaten, wie in Ansätzen die USA, China und – mit Einschränkung – in Russland, Indien, Brasilien? Zerfall der bisherigen Nationalstaaten in kleinere quasi staatliche Verbände von Volksgruppen bzw. Machteliten (Afrika, aber auch Spanien, Balkan, Kaukasus, EU)? Neuartige Hypermacht-Kontrollorganisationen, die ein technisch geschlossenes System informeller Herrschaft etablieren (weit entwickelte Ansätze dazu im US-Einreiseverfahren und dem Datenaustausch mit ähnlichen Verfahren in Europa (geplant) und Australien; weltweites „Homeland Security Office“; ebenso die Totalüberwachung des Netzes und dadurch der Menschen in China)? Tendenzen zu einer neuen antagonistischen Dualität von „Cyber-Gov’s“ in Washington und Peking, dem sich der Rest der Welt entweder unterordnet oder chaotisch-terroristisch entzieht? Nobody knows. Was immer sich entwickeln wird, welche neuen machtpolitischen Konstellationen Bedeutung erlangen, inwiefern neue Technologien zu neuen effektiveren Formen von Dominanz und Herrschaft führen werden, ist offen. Ob auch die freiheitliche Demokratie westlichen Zuschnitts nur eine weltgeschichtliche Episode bleibt, ist ebenfalls offen, aber nicht unwahrscheinlich. Demokratisch verfasste Nationalstaaten leiden an einer doppelten historischen Relativität: westlich-demokratisch und national zu sein. Soviel ist sicher: Die Welt der Staaten, so wie sie heute ist und Ewigkeitswert beansprucht, ist nur eine Übergangsform aufgrund der besonderen politischen Konstellationen nach 1945. Das ist lange her. Umso wahrscheinlicher, dass sich etwas Neues ankündigt.