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Mut zur Un-Gleichheit

„Arme sterben früher“ titelte die Süddeutsche Zeitung gestern. „Die Lebenserwartung sinkt mit dem Einkommen“ hieß es bei derwesten.de. Schlussfolgerung des Ärztetages laut Süddeutscher Zeitung: „Die Ärzteschaft will Verantwortung für die schlechter gestellten Patienten übernehmen – handeln müsse aber zunächst einmal die Bundesregierung.“ Klarer Fall von Ungleichheit, von Ungerechtigkeit. Menschen der sozialen Unterschichten rauchen mehr. Rauchen sei besonders unter Jugendlichen ein „Unterschichtsproblem“ geworden: „Arme Raucher im Abseits – Nichtrauchergesetze sind erfolgreich, Rauchen ist nicht mehr schick. Doch die weiter qualmende Unterschicht fühlt sich nicht angesprochen – und wird sozial ausgegrenzt.“ So formuliert  Die Zeit den ‚Skandal‘. Fettleibigkeit, Fehlernährung, mangelnde Bewegung, Diabetes, hohes Infarktrisiko, Alkohol, psychische Störungen, – all dies tritt in der Unterschicht geballt auf. „Rauchen und Fettleibigkeit sind inzwischen Schichten- und somit Bildungsprobleme“, sagt Ärztevertreter Montgomery.  Darum sterben dann Arme eben früher. Die negative Entwicklung beginne meist schon in der Schwangerschaft, wenn Unterschichts-Mütter sich nicht „gesund“ genug verhalten, betont die Ärzteschaft. Um diesem Skandal abzuhelfen, muss die Gesellschaft her, ist die Politik gefragt, natürlich auch die Ärzteschaft, die sich dabei ihrer „besonderen“ Verantwortung bewusst sei.

Die diskriminierte Unterschicht war bislang meist ein Skandalthema hinsichtlich der Bildungschancen. Schlechte Lese- und Schreibfähigkeiten, fehlende Förderung durch die Eltern, Konzentrationsschwächen, unterdurchschnittliche Schulleistungen – all dies wurde und wird als spezifisches Unterschichtsproblem gekennzeichnet und skandalisiert. Eine schreiende Ungerechtigkeit, die sich unsere reiche und auf Wissen angewiesene Gesellschaft nicht leisten dürfe. Wenigstens Chancengleichheit muss für alle erreichbar sein. Nun wird der Skandal auf die Spitze getrieben: Arme müssen früher sterben, also mit dem Leben für ihre unverschuldete Armut bezahlen. So tönt es aus den Medien – und die Faust des Gerechtigkeitssinns ballt sich in der Tasche und formuliert zumindest zeitweise mediale Entrüstung, die von Sozialpolitikern, die es ja schon immer besser wussten, dankbar aufgegriffen und in Wahlkampfrhetorik umgemünzt wird. Die Gesellschaft, die Politik, die Ärzteschaft, Sozialarbeiter: MACHT endlich was! Diese Ungleichheit, diese Ungerechtigkeit hält doch keiner mehr aus!

Nichtraucher Kampagne 1984
Nichtraucher Kampagne 1984

Arme Menschen, insbesondere Jugendliche, werden übrigens nicht so groß wie der Durchschnitt. Auch die Tendenz zur Kleinwüchsigkeit ist klar ein diskriminierendes Kennzeichen der Unterschicht. Kinder aus dem „Prekariat“ sind doch schlecht ernährt und bewegen sich zu wenig, klar. Davon haben Sie noch nie gehört? Nun, von einem Zusammenhang zwischen Körpergröße und Sozialschicht habe ich bisher tatsächlich auch noch nichts gelesen, aber es wäre doch denkbare. Welcher Aufschrei wäre da fällig.

Es beleidigt heutzutage offenbar unsere „Gerechtigkeitskultur“, in der Natur wie im normalen Leben so viel Ungleichheit anzutreffen. Nicht einmal zwei Individuen können restlos gleich sein! Untersuchungen und Statistiken suggerieren dagegen, dass all diese Ungleichheiten sozial bedingt und von Menschen verursacht sind. Nur sind Korrelationen noch lange keine Kausalitäten. Mit Statistiken kann ich vieles so manipulieren, wie ich es gerne lesen möchte. In der Bildungspolitik, in der Gesundheitspolitik sind solche Statistiken wohlfeile Anlässe für Entrüstung und Bestätigung des vorgefassten Weltbildes, dass die Gesellschaft wenn nicht schuld, so doch verantwortlich ist für die Herstellung von möglichst viel Gleichheit und Gerechtigkeit. Die „Diskriminierung“ der „sozial Benachteiligten“ ist das Dogma gesellschaftlich „korrekten“ Denkens. Ich halte das für den Wahn unserer Zeit.

Natürlich weiß ich, dass der Mensch kein Wesen ist, dass sich aus eigenen Willen und Möglichkeiten heraus selbst erschafft. Jeder Einzelne ist von Geburt an eingebunden in vielfältige soziale und naturhafte Zusammenhänge. Man könnte zu recht von unserer „sozialen Natur“ sprechen, die uns prägt, ausstattet und uns Möglichkeiten eröffnet und Grenzen setzt. Pure Natur gibts beim Menschen nicht, alles ist sozial vermittelt. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Einzelnen darum alle Verantwortung auf das „Soziale“, auf die Gesellschaft, auf die Umstände, auf die schlechten Startbedingungen abschieben darf. Betrachtet man den Menschen als ein zur Freiheit und Selbstverantwortung bestimmtes soziales Wesen, so ist jeder zu aller erst für sich selbst verantwortlich, und zwar in jeder Hinsicht. Was mich selber als Individuum innerhalb einer Gemeinschaft angeht, so muss ich stets zuerst fragen, was ich selber tun kann, um meine Lage zu verbessern und um meine Ziele zu erreichen im Kontext der Gemeinschaft, ehe ich die umgekehrte Frage stelle, was denn die Gemeinschaft, die „Gesellschaft und Politik“, für mich tun können. Ich erkenne auch an, dass beide Fragerichtungen wohl entgegen gesetzt, aber nicht gegensätzlich, i.e. widersprüchlich sind; sie ergänzen einander in der dargestellten Reihenfolge.

Zuerst aber sollte es in Bildung und Erziehung darauf ankommen, jeden Einzelnen und jede Einzelne zu ermutigen, zu unterstützen und zu ermahnen, für sich selber Verantwortung zu übernehmen, also kurz: sein / ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Selbstbewusstsein und Mut sind dafür die wichtigsten Tugenden, die gilt es zu fördern. Nur wer immer darauf wartet, dass andere ihm helfen, dass andere für ihn denken und entscheiden, dass sich andere schon um ihn kümmern werden, dass ihm „der Staat“ oder „die Gesellschaft“ schon seinen rechten Platz zuweisen würden, dass eben auch „die Schule“ für die eigene Bildung und „die Ärzte“ für die eigene Gesundheit verantwortlich sind, nur ein solcher Mensch braucht lebenslang paternalistische Begleitung und Führung. Unser Sozialstaat hat bisweilen solche paternalistische Bestrebungen. Sie widersprechen jeglicher Freiheit, gerade auch der Freiheit zur Ungleichheit, zur Verschiedenheit, zur „Diversität“. Nur derjenige ist zu bedauern, der meint, nichts für sich selber tun zu müssen und alles von anderen erwarten zu sollen. Dass es Hilfe und Unterstützung geben sollte für die, die danach suchen, ist auch klar, aber nur die Hilfe zum Selbergehen, den Anschub also. Wie dann jeder lebt, ob auf der Couch vorm Computer oder TV oder draußen auf dem Mountainbike, das ist schlicht eines jeden private Entscheidung (Jaja, ich lese und höre schon: „Gesundheitsaufklärung ist nur von der Mittelschicht für die Mittelschicht.“ Man muss die Info-Häppchen also hübsch kindgerecht verpacken für den sozialen HonK sprich Trottel. Welche Anmaßung und Bevormundung!) Und jeder wird natürlich auch die Konsequenzen für sein eigenes Verhalten bzw. für seine eigene Bequemlichkeit zu tragen haben.

Don Alphonso bringt es in seinem Wochenend-Blog schön auf den Punkt:

„Jeder kann arm bleiben.
Jeder kann ärmer werden.
Aber nicht jeder kann reich werden.

So isses. Die Frage ist nur, ob es ein veränderbarer Skandal ist, oder eine Gegebenheit, die so alt ist wie die Menschheit. Dass auch der Reichtum sozial verpflichtet, steht dabei außer Frage.

 

UPDATE 03.06.2013

Gestern erschien in der FAS ein längerer Artikel zum Thema Chancengerechtigkeit „Die neue Klassengesellschaft„. Die Tendenz des Artikels entspricht heute bekannten Positionen und ist ein recht diffuser Mix aus dünnen Daten und einseitigen Interpretationen, – für mich kein Beispiel von „Qualitätsjournalismus“. Man lese und bilde sich sein eigenes Urteil.