Religiöse Intervention in Bio- und Medizinethik. Bericht über einen Vortrag von Prof. Dr. Thomas Gutmann, Rechtswissenschaft, Universität Münster
Im Rahmen des Forums Offene Wissenschaft der Universität Bielefeld hielt der Münsteraner Rechtswissenschaftler und Bioethiker Prof. Dr. Thomas Gutmann einen bemerkenswerten Vortrag: klar gegliedert, konzentriert auf wesentliche Punkte, eindeutig in der Zielrichtung. Es geht darin um die Frage der Begründung rechtlicher Normen im liberalen Rechtsstaat.
Gutmann skizziert die jüngere Geschichte der Säkularisierung des Rechts, die mit dem Prozess der Säkularisation und der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft einher ging. Das säkularisierte Recht transformierte das Erbe der christlich-abendländischen Tradition zum Beispiel hinsichtlich der universellen Gültigkeit des Rechts und der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Das Recht musste sich von seinen religiösen Verankerungen lösen und auf der Autonomie der Vernunft und der durch sie bestimmten freien Person gründen. Die Formulierung von Menschenrechten und die Behauptung einer allgemein gültigen Menschenwürde wurden dabei gegen das bis dahin herrschende kirchliche Rechtsverständnis durchgesetzt, das noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Gültigkeit autonom begründeter Menschenrechte bestritt. Der Prozess der Säkularisierung lässt sich generell auf dem Hintergrund der Erfahrungen verheerender Religionskriege und des Zerfalls der selbstverständlichen Gültigkeit religiöser (christlich-kirchlicher) Normen beschreiben. Die aufgeklärte Vernunft trat an die Stelle eines religiösen Absolutheitsanspruchs. Im säkularen Staat haben alle Bürger gleiche Rechte unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung. Religiöse Normen können nicht mehr aus sich heraus Normen des Rechts sein. Am Beispiel der Gotteslästerung (§ 166 StGB) zeigt sich, wie das Rechtsverständnis aus einem ursprünglichen Schutzrecht Gottes, wie fragwürdig auch immer, nun ein Schutzrecht des inneren Friedens konstruiert. Es erhebt sich die Frage, ob diese Begründung rechtlich konsistent oder nur als ausweichendes Hilfsargument verstanden werden kann. Klarer liegt der Fall bei der Begründung der Sittenwidrigkeit der Körperverletzung bei Einwilligung der verletzten Person (§ 228 StGB). Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war dieser Paragraph das „Einfallstor für das katholische Naturrecht“. Mit ihm wurde zu Beispiel das Verhalten eines Arztes, der dem frei geäußerten Wunsch einer über dreißig jährigen Mutter von drei Kindern nach Sterilisation nachkam, wegen „Sittenwidrigkeit“ mit Strafe bedroht. Erst in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 2005 wird das Recht ausformuliert, über sich und seinen Körper autonom zu bestimmen – mit Einschränkungen, wie die weiter unten beschriebene Debatte zeigt.
Auf dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung fragt Gutmann nach der Funktion religiöser Argumentation zur Begründung von Normen im liberalen Rechtsstaat. Bezugnehmend auf John Rawls und Jürgen Habermas verweist er auf die Entkoppelung des Rechts von religiösen Normen. Im liberalen Rechtsstaat kann allein der öffentliche Vernunftgebrauch als Maßstab für ein Recht gelten, das für alle gilt und von allen vernünftig nachvollziehbar ist. Rawls spricht hier vom „vernünftigen Pluralismus“, der um des Friedens willen gute Gründe habe, im öffentlichen Raum nur relative und keine absoluten Wahrheiten gelten zu lassen. Rechtliche Normen müssen daher in einem vernünftigen Diskurs mit Gründen vertreten werden. Auch eine Mehrheit unterliegt dieser Grenze der Rechtfertigung durch die allgemeine Vernunft und darf im liberalen Rechtsstaat nicht einfach religiös oder anderweitige weltanschaulich begründete Normen durchsetzen. Zwar sind sich Rawls und Habermas darin einig, dass der öffentliche Vernunftgebrauch den Anspruch der Religionen auf normative Wahrheiten begrenzt, beide weisen aber etwas unterschiedlich auf das Übersetzungsproblem hin. Rawls möchte religiöse Sprache und Gründe im öffentlichen Diskurs solange gelten lassen, wie sie für alle verständlich und nachvollziehbar sind. Er denkt dabei an die Erfahrungen mit der (US-) amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und deren Anführer Pastor Martin Luther King. Habermas betont mehr das Übersetzungsgebot, das religiös fundierte Bürger im pluralistischen Staat auferlegt, ihre Anliegen und normativen Vorstellungen in solche Worte und Werte zu übersetzen, dass sie für den allgemeinem Vernunftgebrauch nachvollziehbar und einsehbar sind. Er unterscheidet hinsichtlich der institutionellen Trennung von Kirche und Staat zwei unterschiedliche Bereiche von Öffentlichkeit: Die „offizielle“, institutionelle Öffentlichkeit (z. B. Parlamente, Gesetze) darf ihren Diskurs nur mit Gründen der Vernunft führen; für sie kann Normativität nur säkular begründet werden. Die allgemeine Öffentlichkeit aber könne religiöser Argumentation durchaus zugänglich bleiben, solange das „Abstinenzgebot“ des Staates gegenüber den Religionen beachtet werde und solange der Diskurs auf das wechselseitige Verständnis abziele. Für einen Ethikrat beispielsweise, der von einer Landes- oder der Bundesregierung eingerichtet werde, gelte aber in jedem Falle das strikte Gebot weltanschaulicher Neutralität durch Beteiligung unterschiedlicher religiöser bzw. weltanschaulicher Gruppen. Dies sei derzeit nicht der Fall.

Der Forschungsstand der Lebenswissenschaften und die erweiterten technischen Möglichkeiten lassen heute den Ruf nach „absoluten Grenzen“ wieder legitim erscheinen. Es sind hierbei aber deutlich „Restbestände theologischer Figuren“ des Denkens und Begründens erkennbar. Die umfassendste Diskussion hat es zum Thema Abtreibung gegeben. Heute stellt die humane Reproduktionsmedizin eine Herausforderung dar. Gilt die Autonomie der freien Person im liberalen Rechtsstaat auch gegenüber dem (eigenen) Leben? Die kontroverse Diskussion um das Thema Sterbehilfe (sie zeigte bekannte „Versteinerungen“) hat erneut das ursprüngliche Selbstbestimmungsrecht zur Geltung gebracht, indem nach freier Willensbezeugung die Unterlassung von lebenserhaltendem Zwang als rechtlich erlaubt gilt, insbesondere auf der Grundlage einer Patientenverfügung. Kritischer zu beurteilen ist die Rechtsdiskussion bei der aktiven Sterbehilfe. Die strafbewehrte „Tötung auf Verlangen“ (§ 216 StGB) sieht Gutmann als „religiöses Relikt“, das in bestimmten Fällen eindeutig nicht haltbar sei. Dieser Paragraph sei die „christliche Endmoräne“ einer rechtlich nicht fassbaren Schöpfungstheologie gegenüber der personalen Autonomie. Der Rekurs auf einen gesetzlich zu schützenden „Respekt vor dem Leben“ oder seiner „Unverfügbarkeit“ ist ein argumentatives Relikt, das einer „aufgeklärten, beständigen, freiwilligen Entscheidung zum Sterben“ nicht entgegen gesetzt werden darf.
Das aktuellste Beispiel dieser Diskussion um die Begründung rechtlicher Normen liefert der Bereich der Humangenetik. Deutschland hat sich mit seiner restriktiven Entscheidung zur Stammzellenforschung weitgehend ins Abseits gestellt. Aber die Forschung am menschlichen Genom verursacht „theologische Phantomschmerzen“, die zur Erfindung einer „Gattungswürde“ (Grimm u.a.) geführt haben, die nun in Art 1, 1 GG hinein interpretiert wird. Dies ist nicht nur eine rechtliche Wiederbelebung des Schöpfungsbegriffs, sondern stellt letztlich den unbedingten Schutz des Individuums vor allgemeinen Zwecken des Staates oder eben der Gattung infrage und zerstört damit den Sinn des Artikel 1 GG. Gutmann ermutigte dazu, weltanschaulich unverkrampfter und damit vernünftiger an den Bereich der Humangenetik heranzugehen, statt sich in religiös oder naturrechtlich begründete Rückzuggefechte zu verlieren.
***
Es ist deutlich geworden, dass der Prozess der Säkularisierung des Rechts keineswegs abgeschlossen ist. Angesichts einer behaupteten „Rückkehr der Religionen“, angesichts des Erstarkens eines christlichen wie islamischen Fundamentalismus, angesichts des Geltungsanspruchs theologischer Rechtsnormen zum Beispiel durch die Scharia auch in unserem kulturellen Bereich ist es notwendig, die Diskussion um den Wert des liberalen, pluralistischen Rechtsstaates offensiv zu führen. Die Befreiung von der Vormundschaft durch die Religionen (die ursprüngliche Bedeutung von „Aufklärung“) ist eine Errungenschaft, die es wert ist und lohnt, im öffentlichen Diskurs verteidigt und behauptet zu werden. Religiöse und weltanschauliche Fundamentalismen führen zu weit Schlimmerem als nur zur Gefährdung des inneren Friedens.
zur Person Prof. Dr. Thomas Gutmann:
2006 Habilitation an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München („Iustitia Contrahentium. Zu den gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen des deutschen Schuldvertragsrechts“; venia legendi für Bürgerliches Recht, Medizinrecht, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Neuere Privatrechtsgeschichte und Juristische Zeitgeschichte). Rufe an die Universitäten Münster, Bremen und Gießen.
Seit 2006 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Seit 2007 Mitglied (Principal Investigator) des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Seit 2009 Sprecher der Kolleg-Forschergruppe 1209 „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik / Centre for Advanced Study in Bioethics“ an der WWU Münster.