Langsam kommt eine Diskussion in Gang, die über den Tellerrand der skandalösen Affäre um den Whistleblower Snowden hinaus blickt. Bisher wird sie in den Medien überwiegend als ein Thema der Datensicherheit, der Schnüffelpraxis der Geheimdienste, inbesondere der NSA, des Belauschens und Verwanzens wahr genommen. Das sind Begrifflichkeiten und Bilder, die man aus Spionagefilmen kennt und die einem irgendwie bekannt und vertraut sind. Nur sehr allmählich wächst die Erkenntnis, dass es sich bei den Dingen, die durch die Veröffentlichungen Snowdens an den Tag gekommen sind, insgesamt um etwas grundsätzlich Neues handelt.
Gewiss, vieles ist bisher schon bekannt gewesen. Die im Grunde grenzenlose Abhörpraxis der NSA ist bereits vor Jahren wiederholt beschrieben worden (siehe Echelon), die Arbeitsweise auch der europäischen Nachrichtendienste (zumindest) am Rande der Legalität wird ebenfalls nicht zum ersten Mal thematisiert. Insbesondere die weltweite Ausweitung der Überwachungsaktionen nach 9/11 („war on terror“) ist bekannt und wird auch in Europa und anderswo unter dem Stichwort Terrorismusbekämpfung geteilt. Selbst die ‚beschränkte ‚Souveränität‘ Deutschlands auch nach Beendigung der Viermächteverantwortung im Rahmen der Verträge, die die Vereinigung 1990 ermöglichten, wurde zuletzt vom Historiker Josef Foschepoth detailliert beschrieben. Als sein Buch „Überwachtes Deutschland“ 2012 veröffentlicht wurde, hat das so gut wie niemanden interessiert (Ausnahme: FAZ-Rezension von Rainer Blasius). Heute ist es in der 2. Auflage top aktuell. Man ist also über die Überwachungs- und Abhörpraxis der Geheimdienste in der Vergangenheit (z.B. Stasi) bestens informiert. Es hat darüber kaum eine breite politische oder gesellschaftliche Diskussion gegeben. Mit dem Satz „Ich hab nix zu verbergen“ fühlen sich Otto und Lisa Normalo einfach nicht betroffen. Und Hacken schien eine Sache der Computer-Freaks und Netz-Nerds zu sein. Alles, was war, ist aber mit dem, was heute Praxis ist, offenkundig in keiner Weise zu vergleichen.
Die heutigen Dimensionen der Datenerfassung und Datenverarbeitungen schaffen eine neue Wirklichkeit und verändern die Welt. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass schon derzeit und erst recht nach Inbetriebnahme des neuen Data-Centers der NSA im Herbst 2013 (Yottabyte – Kapazität) jede digitale Verbindung, jede digitale Spur weltweit erfasst und mit entsprechenden Analyseprogrammen durchsucht und verarbeitet wird.
[Bei Maybrit Illner erklärte] Jacob Appelbaum gestern im deutschen Fernsehen: Drohnen wählen ihre Ziele heute anhand von Datensignaturen, die aus anlasslos gespeicherten Datensätzen gewonnen werden. Das allerdings findet auf der anderen Seite der Welt statt. In der westlichen Hemisphäre ist dieses „Targeting“ nur aus der Werbebranche bekannt. Die Diskussion darüber, dass es Supercomputern egal ist, ob sie gezielte Werbung auf Bildschirme ausliefern oder tödliche Drohneneinsätze steuern, weil sie bei beiden Aufgaben neutrale Rechenschritte absolvieren, wird im Fernsehen allerdings noch nicht geführt.
Gleichzeitig wird durch Veröffentlichung im Guardian am Beispiel von Microsoft und seinen Diensten (Skype) bekannt, wie weit die Zusammenarbeit von US – Firmen mit der NSA von Anfang an gegangen ist und noch geht. Nichts bleibt je privat. Stefan Schulz schreibt in dem zitierten FAZ-Frühkritikartikel weiter:
Dass es sich bei dieser geheimen Ausforschung der Weltbevölkerung um ein Verbrechen gegen die Menschheit handelt, deutete Appelbaum gestern kurz an. Dass die Politik darüber allerdings keine öffentliche Diskussion führen will, zeichnet sich derzeit ab. Darüber, dass Menschen heute in Datensätze zerstückelt in Datenbanken aufbewahrt werden und nur dann wieder als vollständige Menschen zur Geltung kommen, wenn ein Algorithmus sie als potentielle Täter zusammengesetzt hat, wird in den kommenden Jahren aber vielleicht im Fernsehen besprochen.
Verbrechen gegen die Menschheit. Das ist eine harte, aber reale Bezeichnung für einen wahrlich monströsen Tatbestand. Dies so zu erkennen und so zu benennen kann der Anfang sein, sich wirklich ernsthaft und entschlossen mit diesen Folgen des digitalen Zeitalters auseinander zu setzen. Wenn big data neue Wirklichkeit produziert und der Code Gesetz ist (code is law), spätestens dann muss die Frage nach dem Recht und nach neuer Rechtsetzung und nach der Durchsetzung dieses Rechtes gestellt werden.
Jacob Appelbaum hat in der ZDF-Sendung (übrigens derzeit in der ZDF-Mediathek abrufbar) fast lapidar auf diese notwendige Handlungsmaxime hingewiesen:
Überzeugende Beiträge lieferte der junge amerikanische Hacker Jacob Appelbaum … stellte Appelbaum fest, man könne doch Edward Snowden nach Deutschland holen, um sich bei ihm direkt über den Sachstand der Überwachungsgesellschaft zu erkundigen. Ebenso könnte man in Europa Gesetze beschließen, die das Sammeln und Weitergeben von Daten verbieten. Man könnte Gerichten neue Handlungsspielräume geben und dafür sorgen, dass nicht nur hochrangige Politiker abhörsichere Kommunikationstechnik bekämen, sondern jedermann. Dass der Ahnungslosigkeit, der sich die Politiker heute selbst bezichtigten, nun noch Tatenlosigkeit folge, dafür zeigte Appelbaum kein Verständnis.
Der von der Politik bisher gerne vor allem gegen Kinderpornografie benutzte Satz, das Internet sei kein rechtsfreier Raum, muss nun in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt werden und sollte ein ganz neues Gewicht bekommen: Es geht um die Durchsetzung von Menschenrechten, Bürgerrechten, Privatheit im Netz, – generell unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters. Thomas Stadler, IT-Fachanwalt und Blogger, hat vor einigen Tagen in einem knappen, aber absolut klaren Blog-Beitrag die Forderung eines Nachholprozesse in Sachen Demokratisierung aufgestellt, die eine neue Rechtsgestaltung verlangt:
Die aktuelle öffentliche Diskussion erfasst die Tragweite und Bedeutung dieses Aspekts noch nichts ansatzweise. Wir müssen die Rolle der Geheimdienste vor dem Hintergrund der Funktionsfähigkeit desjenigen Staatswesens diskutieren, zu dem sich alle westlichen Staaten formal bekennen. Verträgt sich das Grundkonzept von Geheimdiensten mit der Vorstellung von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung? … Wir müssen letztlich erkennen, dass unser Demokratisierungsprozess noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr ins Stocken geraten ist. Auf dem Weg zu einer vollständigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung müssen Fremdkörper wie Geheimdienste beseitigt werden. Sie sind Ausdruck eines archaisch-kriegerisch geprägten Denkens, das es zu überwinden gilt. Man kann durch nationales Recht den Bruch des Rechts eines anderen Staates nicht legitimieren. Das ist vielmehr nur die Fortsetzung von Krieg mit anderen Mitteln.
Es geht tatsächlich um einen weltweit wie national zu gestaltenden Prozess, um einen Kampf um Grundrechte der Weltbürger wie der nationalen Bürger im digitalen Zeitalter. Big data und die Algorithmen gestützte automatisierte Analyse aller individuellen Daten und Spuren verändern die Wirklichkeit derart, dass darauf mit einem veränderten Recht, national wie international, geantwortet werden muss. Letztlich wird das nur über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg gelingen. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, nicht national mit all den Anpassungen und Rechtsetzungen zu beginnen, die hier möglich sind. Appelbaum hat da auf einiges hingewiesen. Beschwichtigung und Verharmlosung bis hin zum völligen Unverständnis über die Tragweite der neuen Verhältnisse in einer durch digitalisierten, komplett vernetzten Welt („intelligente Stromnetze“ usw.), sind nur ein Zeichen der Ahnungslosigkeit und fehlender Handlungsbereitschaft. Unsere Politik ist über diesen Status offenbar noch nicht hinaus. Erfreulich, dass das Fernsehen erste Schritte macht. Um die Geltung und Durchsetzung demokratischer Bürgerrechte in der heutigen Welt muss gekämpft werden. Es muss darüber informiert werden. Die chinesisch-bleierne „große Harmonie“ ist absolut keine Lösung, die Beschwörung traditioneller (atlantischer) Partnerschaft unangemessen. Der Weg dieser weiter gehenden Demokratisierung und Einhegung der Datenmacht durch das Recht ist noch lang.