Der Tunnelblick ist ein bekanntes Phänomen. Der Begriff stammt zunächst aus der Augenheilkunde und meint dort die „konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes auf einen zentralen Rest“ (Wikipedia). Umgangssprachlich bezeichnet der Begriff aber eher „im übertragenen Sinne die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, Dinge wahrzunehmen, die außerhalb dessen liegen, wofür sich der Betroffene aktiv interessiert“ (ebd.). Man sagt dann auch mit einem veralteten Bild, einer habe Scheuklappen auf. Mir scheint allerdings, dass der Tunnelblick ein recht allgemeines Phänomen der Wahrnehmung ist, das die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten, für wichtig erachteten Gegenstandsbereich kennzeichnet. Wenn diese Konzentration auf einen einzigen Bereich sehr stark und die Verengung der Wahrnehmung länger anhaltend ist, dann wird daraus eben das, was man mit dem „Tunnelblick“ zutreffend bezeichnen kann. Es handelt sich um eine eingeschränkte Wahrnehmung meiner Umwelt.
Dass diese Einschränkung durchaus sinnvoll sein kann, zeigt die Bewegung im Straßenverkehr oder das Verhalten bei Gefahr. Alles kommt dann darauf an, sich auf das Wesentliche und Wichtigste zu beschränken. Damit liegt man im Allgemeinen richtig. Es kann aber durchaus passieren, dass man dabei einen plötzlich seitlich auftauchenden Fußgänger übersieht oder dass man einen etwas „abwegigen“ Ausweg aus einer Gefahr nicht erkennt. Die Konzentration der Wahrnehmung auf einen engeren Bereich, der durch unsere Alltagserfahrung definiert ist, hat also Vor-, aber auch Nachteile. Im Alltag dürften die Vorteile bei weitem überwiegen, sonst wäre diese evolutionäre Fähigkeit unseres Wahrnehmungsvermögens kaum so entwickelt, wie sie jetzt ist. Bei der Arbeit ist es wichtig, sich zu konzentrieren und nicht ablenken zu lassen. „Multitasking“ ist gut für Computer, offenbar weniger gut für Menschen.
In der öffentlichen Diskussion politischer Themen ist die Lage aber etwas anders zu beurteilen. Denn hier sollte es doch darum gehen, wichtige Themen umfassend und unter vielerlei Aspekten zu diskutieren. Außerdem sollte ein einzelnes Thema nicht andere, ebenso wichtige Themen verdrängen. Beides aber geschieht praktisch nicht. Themen werden möglichst vereinfacht und mit einer Schwarz-weiß-Schablone erklärt, und das Thema im Vordergrund lässt andere Themen in den Hintergrund treten oder ganz vergessen. Dieses Phänomen einfach mit der Funktionsweise der öffentlichen Medien zu erklären, die jeweils nur einen Fokus in den Mittelpunkt stellen und meist auch wenig differenziert darstellen (das zu tun wäre aber die erwartbare Leistung eines „Qualitätsjournalismus“), greift aus meiner Sicht zu kurz. Medien tun dies nur, weil die Aufmerksamkeit der Kunden und Nutzer – also von uns – meist nur auf einen einzigen Themenkomplex beschränkt ist. Sie tragen damit dem „Tunnelblick“ unserer Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung Rechnung.
Man kann das am Beispiel vieler Themen der letzten Zeit fest machen. Ohne dass jeweils ein bestimmtes Thema endgültig geklärt oder gar gelöst wäre, gerät es doch durch andere Themen in Vergessenheit. Oft reicht ein konkreter, spektakulärer Anlass, um solch eine Änderung des öffentlichen Fokus auszulösen. Derzeit ist das Thema Internet-Sicherheit und Belauschtwerden durch die Amerikaner dran (schon dies ist eine verkürzte, undifferenzierte Kennzeichnung). Die Person Snowden ist bereits aus dem Blickfeld. Aber andere große Themen sind völlig in der Versenkung verschwunden, als ob sie gar nicht existierten – bis zum Zeitpunkt irgend eines aktuellen Anlasses, wo man sich dann plötzlich daran erinnert: Ja, da war doch schon mal was…
Nehmen wir das Thema Klimaveränderung und Erderwärmung. Es ist der Sache nach so dringend und aktuell wie eh und je, eher noch stärker, da sich viele Prognosen bestätigen, – es interessiert derzeit nur niemanden (abgesehen von den damit befassten Profis). Auch das Thema Energieversorgung ist ja mit dem Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland keineswegs erledigt, befriedigend gelöst und in nachhaltige Modelle umgewandelt. Bisher ist Deutschland hier eine Insel, und Insellösungen sind eben keine globalen Lösungen. Der vermehrte Einsatz von (billiger) Energie aus Kohle, Gas und Öl weltweit (Stichworte fracking, Ölschiefer etc.) treibt den CO2-Ausstoß jährlich auf neue Rekordhöhen. Von einer Umkehr der Richtung in Sachen Energie und Klima kann überhaupt nicht die Rede sein. Dennoch: Das Thema ist völlig weg, und zwar schon lange vor dem Sommerloch. Zu beobachten ist dabei auch, wie ursprüngliche Ein-Thema-Parteien (Grüne, Piraten) sehr schnell ihr Profil-Thema verlieren können.
Die bestehende und sich verschärfende Ungleichheit der Vermögensverhältnisse in der Welt scheint auch niemanden zu beunruhigen. Das Thema taugt allenfalls gelegentlich im Wahlkampf, wenn es um die Forderung nach Mindestlöhnen oder um die Begrenzung des Niedriglohnsektors geht. Passieren tut aber trotz klarer Erkenntnisse nichts, weder in der öffentlichen Diskussion noch im Handeln der Regierungen. Dabei müsste uns nicht nur die weltweite Verschuldung (also das Spiel mit dem Computer-Börsen-Geld) bzw. die konkrete Verschuldung einzelner Länder beunruhigen, sondern die Konzentration der exponentiell wachsenden Vermögen in immer weniger Händen. Ich nenne hier bewusst nicht die Einkommen, denn die sind eine ganz andere Frage. Das weltweite Kapital ist aber in den Händen einer recht kleinen Gruppe von Menschen in unglaublicher Menge verdichtet. Zwar war schon im Alten Rom der Hauptteil der Vermögenswerte in Form von Ländereien in den Händen weniger Patrizier, aber die heutigen Verhältnisse sprengen offenbar jede Vorstellung. Durch die Verzinsung wird dieses Kapital weiter wachsen – und no chance auf irgend eine Korrektur. Mögen auch die Ärmsten tendenziell besser gestellt werden, so laufen die Einkommen der Vermögenden in eine eigene Welt davon. Was dies für die soziale Wirklichkeit bedeutet, und zwar nicht nur national, sondern global, darauf machen nur ganz wenige aufmerksam. Mich wundert, wie das brisante Thema Reichtum – Armut (siehe derzeit Papst Franziskus in Brasilien) schon beim nächsten wirtschaftlichen Aufschwung und bei der nächsten Lohnerhöhung gänzlich vom Tisch ist.
Es gibt zahlreiche weitere unbestritten wichtige Themen: Die Bevölkerungspyramide (Schrumpfung bei uns – Wachstum weltweit), das Gesundheitssystem (industrielle Gesundmacher, die krank machen), die Erhaltung von Lebensräumen und Arten (Überfischung, Schutz der Ozeane, Regenwälder) oder auch die Frage nach der Machbarkeit und Wünschbarkeit technischer „Errungenschaften“ (Genmanipulation, Künstliche Intelligenz, Vernetzung, Langzeitwirkung von Plastikmüll). All diese Themen bezeichnen Probleme unserer heutigen Lebenswelt, die keineswegs nur eingebildet oder randständig sind. Sie betreffen samt und sonders unser alltägliches Leben und insbesondere das der künftigen Generationen. Aber auch da wirkt der Tunnelblick-Mechanismus geradezu perfide: Wir nehmen nur das wahr, was uns heute betrifft, nach uns die Sintflut. Keiner gibt das gerne zu, aber wir leben so. Über den Tellerrand zu schauen, diese Themen immer wieder an sich ran zu lassen, den Tunnelblick mit unserer Vernunft zu sprengen und sich auf eine öffentliche Diskussion der vielfältigen Aspekte unserer Lebenswelten einzulassen, all dies verlangte von uns wohl Übermenschliches. Eigentlich verlangte es nur ein kühles, vernünftiges Denken, ein ehrliches Anerkennen der offenkundigen Probleme und die Bereitschaft zu einem Handeln, das nicht bei den Anderen, sondern bei uns selbst beginnt.
Änderung der Wahrnehmung bedeutet Änderung der Lebenspraxis. Und das ist offenbar das Problem. Niemand verlässt gerne ohne Not den alten Trott. Und mit Scheuklappen und Tunnelblick kann man die „Not“, sprich Notwendigkeit schön ausblenden. Ehe wir auf andere (die Politik, die Medien, die Wirtschaft) mit dem Finger zeigen, sollten wir einfach auf uns selbst weisen. Das wäre ein Anfang.