Kategorien
Gesellschaft Internet

Der fehlende Aufschrei

Letztens ging ein #aufschrei durchs Netz. Es war zwar fast nur ein Twitter-Hype, aber er schaffte es sogar, kurzzeitig in die Aufmerksamkeitszone der herkömmlichen Medien zu gelangen. Diese Protestaktion gegen Sexismus im Alltag hat den Grimme-Online-Preis gewonnen. Das wars dann aber auch. Der unerwartete Aufschrei fiel glatt ins Sommerloch.

Der eine oder andere erwartbare Aufschrei fand dagegen überhaupt nicht erst statt. Das Abschlachten in Syrien geht unvermindert weiter, und niemand weiß, wie es mit halbwegs kalkulierbarem Risiko zu stoppen ist. Ganz abgesehen von den politischen Verwicklungen und divergenten Interessenlagen (immerhin findet in Syrien derzeit ein Stellvertreterkrieg statt mit Iran / Russland auf der einen Seite, Saudiarabien und dem Irak auf der anderen Seite, den USA recht hilflos irgendwo dazwischen) – also ganz abgesehen von dem menschlichen Elend, der völligen humanitären Katastrophe hält sich in unserer Öffentlichkeit ein Protest, ja nur ein näheres Interesse deutlich in Grenzen. Es ist hier jetzt wie zu allen Zeiten: Was einem nicht auf die Pelle rückt, betrifft uns nicht wirklich. Da gilt wie ehedem das Zitat aus Goethes Faust (1. Teil Kap 5 Vor dem Tor):

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Von Aufschrei keine Spur. Allenfalls die steigenden Zahlen von Asylbewerbern beunruhigen – wieder einmal. Ansonsten ernste, wortreiche Erklärungen des / der Außenminister – das wars. Business as usual.

Journalisten und viele im Netz Aktive (um den elenden Begriff Netzgemeinde zu vermeiden) sind von #PRISM, #SNOWDEN und #NSA, zuletzt gar dem Vorgehen der britischen Behörden gegen den #GUARDIAN aufgewühlt und empört. Ich selber schrieb vor einigen Tagen, die erste Veröffentlichung des Guardian über #XKEYSCORE am 31. Juli („7/31“) könnte so etwas wie ein Menetekel, wie eine Zeitenwende bedeuten. Offenbar habe ich mich getäuscht, zumindest was das öffentliche Interesse betrifft. Es gibt nämlich keines, nur das Interesse einer Minderheit. Von einem Aufschrei keine Spur.

Schlacht vor Wien 1683
Schlacht vor Wien 1683 (Fr. Geffels, Wikimedia)

Das Thema Datenschnüffeln und Datensicherheit bewegt weder den Normalbürger noch ist es im Wahlkampf von irgend einer Relevanz. Das zeigt zumindest alle bisherige Meinungsforschung dazu. Auch hier wird offenbar nur dasjenige in die eigene Meinungsbildung übernommen, was unmittelbare Bedeutung für den Alltag hat: Die Reserviertheit gegenüber dem Online-Banking wächst wieder. Kein Wunder. Aber die Willkürmaßnahmen gegenüber Whistleblowern (Manning, Snowden) und Journalisten (Greenwald, Miranda, Rusbridger), das Außerkraftsetzen des Rechtes auf freie Meinung durch Sicherheitsbehörden, das Umdeuten von Aufklärern über Rechtsverletzungen durch Staaten zu nationalen Verrätern und Kriminellen berührt tatsächlich nur die Interessen und die Aufmerksamkeit einer Minderheit. Keinerlei Aufschrei, wie von vielen erhofft.

Dass Google, Yahoo, Amazon und Facebook, dass aller Emailverkehr erklärtermaßen der lückenlosen geheimdienstlichen Nachforschung und gegebenenfalls Zensur unterliegen, wird irgendwie als schicksalhaft und unabwendbar, wenn nicht als erwartbar / befürchtbar und für den Alltag irrelevant hingenommen. Dieses Faktum als solches ist irritierend. Dass bei hochkomplexen Zusammenhängen nicht alles verstanden und erklärt werden will, sondern man sich allenfalls auf die unmittelbaren Auswirkungen auf das eigene alltägliche Leben beschränkt, ist eine nachvollziehbare und praktisch erfolgreiche Reaktion. Ehe man dagegen den moralischen Zeigefinger erhebt, möge man im Blick auf die jeweiligen Lebensverhältnisse prüfen, ob man sich das anders überhaupt zeitlich und existenziell leisten kann und will. Die im Faust beschriebene Haltung des „anderen Bürgers“ ist lebenspraktischer Alltag. Ich möchte es wohl anders, aufgeklärter, engagierter und mutiger, kanns aber durchaus verstehen, dass es so ist, wie es ist.

Weniger Verständnis habe ich allerdings für Äußerungen und Positionen, die die ersichtliche Gleichgültigkeit zumindest einer Mehrheit in der Bevölkerung nun wiederum ideologisch interpretiert und der Verdummungsstrategie des Staates / des Kapitals / der Mächtigen / der Medien zuschreibt. Da wird die erlebte Ohnmacht umgedeutet in eine infame Strategie der Einlullung durch „Brot und Spiele“. Als ob die Menschen gezwungenermaßen zu Tausenden in die Fußballstadien gingen oder SKY guckten. Die seltsamste Blüte ist es, wenn dafür nun ganz unkritisch und wenig soziologisch begründet der angeblich themenlose, konturlose Wahlkampf Merkels verantwortlich gemacht wird. Psychologisch könnte man dies Verhalten als Verschiebung vom nicht greifbaren, anonymen Big Brother (NSA und Big Data) auf eine konkrete Einzelperson bezeichnen. Das ist allzu durchsichtig und wirklich keinerlei Beachtung wert.

Es bleibt das mulmige Gefühl, dass da in der Welt derzeit einiges vor sich geht, das wenig zu fassen, zu begreifen, zu kontrollieren und in seinen Folgen abzusehen ist. Die natürliche Reaktion darauf ist Verunsicherung. Verunsicherung kann aber nur dann den Status einer intellektuellen Haltung verlassen, wenn bestimmte Verhältnisse als für den Alltag bedrohlich eingeschätzt werden. Das gilt für die Stabilität des EURO und die Schuldenkrise offenbar in viel stärkerem Maße als für alle anderen bisher behandelten Themen. Und auch dabei kann man ja fest stellen: So lange das eigene Konto und die eigenen Kredite sicher und unter Kontrolle bleiben, ist auch hier nur mäßige Aufregung angebracht. Das bekommt die AfD zu spüren. Kein Aufreger, ganz zu schweigen von Aufschrei.

Als Hintergrund dieser Grundhaltung in der mehrheitlichen Öffentlichkeit kann ich weniger die private Desinteressiertheit des „deutschen Michel“ entdecken, als einen sehr pragmatischen Umgang mit sogenannten Aufreger-Themen. Katastrophenalarme gibt es ja zuhauf: Energie, CO2, Klima, Fleisch, Grippe usw. Da ist es durchaus rational, statt jeweils dem Aufschrei einer Gruppe von Aktivisten, Netzgemeinde oder intellektueller Öffentlichkeit zu folgen (und seien deren Motive wie die der Menschenrechtsgruppen noch so ehrenwert), sich ganz pragmatisch auf das zu besinnen, was man vor Augen hat: Es geht wirtschaftlich gut, die Löhne steigen, der Export brummt, die Wirtschaftsaussichten sind gut. Natürlich, es könnte alles ganz schnell ganz anders sein. Aber jetzt ist es nun einmal so, Wahlkampf hin, Wahlkampf her. Keine Veränderung angesagt. So what?

Und – wer wollte diesen Pragmatismus und diese Gelassenheit verdammen? Allzu viel Aufschrei macht eher gleichgültig. Auch wenn man dann vielleicht den Moment, wo es wirklich einen Aufschrei geben müsste, verpasst.