Es hat nicht viel gebraucht, und die dünne Hülle der ach so auf abgeklärten Postmoderne ist zerrissen. Dabei war man sich doch sicher, dass die ideologischen Grabenkämpfe vorbei sind, dass Pluralismus und kulturelle Vielfalt zu den Grundgegebenheiten unserer Gesellschaft geworden sind, dass das Internet mitsamt dem damit einhergehenden technologischen Fortschritt uns (zumindest den westlichen Gesellschaften) dem Glück, wenn nicht gleich dem Reich der Freiheit ein Stück näher bringt. Manche beklagen zwar den Verfall traditioneller Werte oder deren Nivellierung, aber das sind dann doch erfreulicherweise klar identifizierbare Agenten des Gestrigen wie die Kirchen. Die Gewerkschaften haben dagegen den Umschwung in die Postmoderne irgendwie doch noch geschafft, wenn auch mit Blessuren (in den Mitgliederzahlen).
Und dann kommt ein Edward Snowden mit seinen Enthüllungen, und die schöne neue Welt freier Kommunikation im grenzenlosen Netz schmilzt dahin wie Frühjahrsschnee an der Sonne. Das Netz ist längst von Unternehmen, Regierungen und Geheimdiensten in Besitz und unter vollständige Kontrolle genommen worden. Der so oft beschworene Wertepluralismus kommt schnell an seine Grenze, wenn es um die (Ideologie der) Hochschätzung der Familie geht. Ziert sich die Kanzlerin, dem Adoptionsrecht schwul/lesbischer Paare uneingeschränkt und locker zuzustimmen, erfährt das postmoderne Selbstverständnis einen Knacks: Das ist ein Verstoß gegen die politisch korrekte Gleichheit. Letztere, die Gleichheit, ist flugs von einem formal-juristischen Prinzip der bürgerlichen Revolution zu einem material-sozialen Prinzip der Postmoderne geworden – und dann doch nicht allen recht und billig.
Schließlich ist da noch die Sache mit Trittin. Dank taz ist die Pädophiliedebatte der frühen Grünen nun zum Hauptthema der letzten Wahlkampfwoche erkoren worden. Trotz mancher Anstrengungen der einschlägigen Zeitungsmedien findet sie doch mehr am Rande statt / soll aus dem Wahlkampf heraus gehalten werden. Dabei zeigt sich, wie jung die letzte Vergangenheit noch ist, denn es geht um den Zeitraum der achtziger bis hinein in die neunziger Jahre. Wohl weils voriges Jahrhundert ist, scheint es weit weg zu sein. Doch geschwind tauchen da die Flugschriften der Stadtindianer wieder auf und holen manchen Akteur der gesitteten = politisch korrekten Postmoderne wieder ein. Und schon ereifern sich manche über die perfide „moralische Keule“ der Konservativen und rufen nach „kulturgeschichtlicher Einordnung“. Dabei merken sie gar nicht, wie sehr sie hier auf einmal mit zweierlei Maß messen, weil ihr eigenes Denken, vielleicht auch ihre eigene Vergangenheit betroffen ist und nicht die derjenigen, auf die traditionell gerne mit dem Finger gezeigt wird.
Der Firnis der unideologischen, wertneutralen und multikulturellen Postmoderne ist dünn. Er ist besonders dünn, seit das große Projekt „Freiheit im Netz – digitale Selbstverwirklichung“ in den Rechenzentren und Algorithmen der NSA, Google etc. dahin geschieden ist. Die Allmacht von BIG DATA ist zum Bumerang geworden. Diese Hoffnung aber auf ein neues Paradies auf Erden, nein, im unergründlichen Cyberspace, der Vorstufe zum digitalen Nirwana, hielt aber die postmoderne Avantgarde zusammen. Nerdaktivisten und post-neoliberale (ups, was für ein Wort) Business-Freaks und deren Spindoktoren stimmten ja trotz aller Gegensätze darin überein, dass Freiheit und Glück des künftigen Menschen („Mensch-Maschine“ als Idealkonstrukt der Digitalkultur) nirgendwo anders als im Netz, in den Wolken entgrenzter Kommunikation und ubiquitären Wissens und Konsums liege. Womöglich wurde da mehr verwechselt als nur die Vernetzung von Datenbanken und die Aneignung von Wissen und Erfahrung.
Diese Brüchigkeit der postmodernen Selbstgefälligkeit ist ein gutes Zeichen. Der Übergang in eine Zeit nach der Postmoderne (Post-Postmoderne? Spät-Postmoderne? Neue Moderne?) hat die Chance, von den ungedeckten Versprechungen der Digital- und Derivate-Nerds Abstand zu nehmen. Es könnte ein wohltuender Abstand werden, wenn die kritische Betrachtung dieser jüngsten vorgeblich unideologischen, aber mit den 80ern und 90ern noch ach so tief verbundenen Neo-Ideologen (Neo-Liberale wie Netz-Gurus) einiges wieder nüchterner ins Licht setzt. Techniken und Strategien sind stets Mittel zu einem Zweck, nie Selbstzweck. Algorithmen werden nicht wertfrei entwickelt und eingesetzt. Macht bleibt Macht und möchte noch mächtiger werden. Ökonomie mag mal mehr die „unsichtbare Hand“, mal den rationalen homo okonomicus hätscheln, ihr essentielles Interesse bleiben Gewinn und Monopol. Regierung und ihre Dienste streben Kontrolle an, möglichst vollständig. Der vollmundige Pluralismus und die kulturelle Vielfalt verdecken oft vorhandene Machtstrukturen und Interessenlagen – und verdecken dunkle Seiten der jüngsten Vergangenheit.
Kurz gesagt: Auch die Postmoderne hat nur mit Wasser gekocht, auch das Netz ist nicht das Evangelium, auch die Neue Moderne (oder wie immer man die Zeit nach der Postmoderne nennen wird) wird ihrerseits mit Wasser kochen, ihre Interessen, Träume, Ideologen und Versäumnisse haben. Schön menschlich ist das. Schön zu sehen, wie manch vollmundige Großsprecher und Gender-Aktivistinnen, wie manch Prophet grüner Heilslehren am Ende doch nur auf dem Teppich der Tatsachen landen. Als Tiger gestartet – als Bettvorleger gelandet? Nein, das habe ich nicht gesagt…
Kleine ausgewählte Linkliste als Hintergrund des hier Geschriebenen:
Twitter-Gespräch mit MusikBÄRchen @musicaloris (siehe Bild im Text)