Eine Wertegemeinschaft bezeichnet einen ganz einfachen Sachverhalt. Zwei oder mehr Einzelne oder Gruppen teilen gemeinsame Wertvorstellungen, haben einen gemeinsamen Bestand an Normen und Rechten und sind sich in bestimmten Leitlinien ihres Handelns einig. Eine politische Partei oder eine religiöse Gruppierung können solch eine Wertegemeinschaft sein. Für diese beiden Teilsysteme der Gesellschaft ist sie sogar konstitutiv.
Sprechen wir von der „atlantischen Wertegemeinschaft“, so wird der Begriff zusätzlich mit bestimmten politischen Vorstellungen und Wünschen aufgeladen. Zum einen mag er weiterhin einen einigermaßen klaren Sachverhalt beschreiben, wenn insbesondere Europa und die USA sich als westliche Demokratien begreifen, die aus einem gemeinsamen Schatz historischer Erfahrungen und kultureller Orientierung schöpfen (z.B. Aufklärung, bürgerliche Revolution, Marktfreiheit). Darüber hinaus hat die Rede von der speziellen atlantischen Wertgemeinschaft noch eine ideologische Konnotation als idealtypische Zielvorstellung. Die so verstandene Wertegemeinschaft wird dann von der Wirklichkeit der politischen Tatsachen abgelöst und zu einem Idealbild verklärt, das allenfalls ein immer weiter in die Ferne gerücktes Ideal , sozusagen ein ideologischer Deckel ist, statt eine tatsächliche Handlungsgrundlage auf der Basis gemeinsamer Gesetze und Normen.
Es gibt inzwischen im Verhältnis von Deutschland und den USA eine Vielzahl von Bereichen, in denen diese gemeinsamen Werte und Normen nur noch nominell oder stark eingeschränkt oder gar nicht mehr gegeben sind. Dies betrifft die Bereiche Rechtsstaat, internationales Recht, Menschenrechte und Wirtschaftsverantwortung.
Das Verständnis und vor allem die Praxis der Rechtstaatlichkeit waren in Europa und den USA immer etwas unterschiedlich akzentuiert, weil die angelsächsische Tradition der checks & balances der staatlichen Gewalten von einem konstitutionellen Staats- und Rechtsverständnis wie in Frankreich und Deutschland erheblich unterschieden ist. In den letzten fünfzig Jahren hat sich in den USA das Machtgefälle deutlich zugunsten der Exekutive verschoben, schon zu Zeiten des Kalten Krieges, erst recht nach 9/11. Hans Ulrich Gumbrecht weist in einer interessanten Überlegung zur derzeitigen Überwachungspraxis darauf hin, dass schon die Gründungsakte der Vereinigten Staaten weitreichende Eingriffe der Exekutive in die Privatsphäre vorsahen: für den Kriegsfall. Das Kalte Krieg war ein Krieg (siehe McCarthy), und die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist von den Regierungen der USA nicht zufällig als „Krieg gegen der Terror“ gekennzeichnet worden, für europäische Ohren etwas überraschend, übertrieben gar. Damit ist aber exakt der Ermöglichungsrahmen bezeichnet, den die USA zu einer weitreichenden Machtverlagerung hin zur Exekutive, zum Staat, ermächtigt. Das Recht dient nun der Aufrechterhaltung der staatlichen Macht und der Durchsetzung der eigenen US-Interessen gegen ihre Feinde im Inneren und im Äußeren – Terrorismus ist ja keine isolierte Frage der Außenpolitik.
Diesem Zweck dienen alle staatlichen Mittel – und heiligen sie. Die USA sehen sich in dem Maße von internationalen Verpflichtungen und internationalem Recht (siehe Int. Strafgerichtshof, den die USA nicht anerkennen) dispensiert, wie die Verfolgung eigener Macht und eigener auch wirtschaftlicher Interessen in dem erklärten Krieg (war on terror) dadurch gefährdet wird. Einseitige kriegerische Handlungen (Irak, Koalition der Willigen), Geheimdienstoperationen (Nicaragua, Iran), militärische und wirtschaftliche Interventionen (Chile, Kuba, Iran) gehörten und gehören zum als angemessen erachteten Instrumentarium US-staatlichen Handelns nach außen. Da der Krieg gegen den Terror dem kalten Krieg fast nahtlos gefolgt ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Praxis militärischer Stärke und aggressiver Außenpolitik (wer nicht für uns ist, ist gegen uns) als Normalzustand der US-Politik eingestellt. Innenpolitisch wurden die Weichen durch den Homeland Security Act gestellt, der Grundrechte weitreichend außer Kraft setzte. Wie weit das reichte und reicht, wird heute nicht zuletzt durch die Snowden-Enthüllungen nach und nach bekannt. Dies ist kein Exzess staatlicher Macht, sondern liegt auf der Linie der US-Politik der letzten fünf oder sechs Jahrzehnte. Innenpolitisch erregt das in den USA nur geringe Aufmerksamkeit.

Die Auswirkungen dieses Regierungsverhaltens auf die Gültigkeit und Beachtung der Menschenrechte seitens der USA sind gravierend und ebenfalls inzwischen vielfach bekannt. „Vielfach“ soll anzeigen, das wir nicht wissen, wie viel wir nicht wissen. Folter, geheime Foltergefängnisse, dauerhaftes Einsperren ohne Gerichtsverfahren, Entführungen, Tötungen außerhalb der Legalität (Drohnen), Beschlagnahme von Eigentum ohne Angabe von Gründen, weltweites Abhören und Infiltrieren von Computersystemen und das Anwachsen der Geheimdienstapparate innerhalb und jenseits der Legalität sind seither zur umfassenden Praxis staatlichen Handelns der USA geworden. Internationale Proteste haben bisher wenig daran ändern können, dass sich die USA mit dieser Praxis völlig im Recht und in Übereinstimmung mit den eigenen Normen („exceptionalism“) sehen. Dieses „Recht“ ist aber von dem, was wir bei uns als Recht und Norm erkennen, inzwischen grundverschieden.
Europa und speziell Deutschland hat in seiner Geschichte erfahren und (hoffentlich) gelernt, wie wertvoll und unverzichtbar das Recht eben nicht nur seitens des Staates, sondern vor allem auch gegenüber dem Staat ist. Rechtsstaatlichkeit schützt zuerst den Bürger vor dem mächtigen Staat und zwingt diesen zu ständiger Legitimation seines Handelns gegenüber dem geltenden Recht und im Einzelfall vor den Schranken eines Gerichts. Dass auch bei uns in der Praxis die staatliche Gewalt zu Grenzüberschreitungen tendiert und im Übrigen, wie wir derzeit lesen, an der amerikanischen Abhörpraxis inklusive Drohneneinsatz eifrig mitgewirkt hat, wird bei uns, wenn es so der Fall ist, als eindeutige Verletzung von Recht und Gesetz und Außerkraftsetzung grundlegender anerkannter Normen gesehen und kritisiert. Sofern man bei diesen aktuellen Themen von einer Skandalisierung sprechen will, ist sie hier berechtigt: von unserem Rechtsempfinden her ebenso wie gegenüber den gesellschaftlich anerkannten Normen für das staatliche Handeln. Unsere Regierung weiß (und fürchtet) das. Die USA sollten es wissen.
Die fortwährende Verletzung von Menschenrechten, wie es sich bei den USA aus europäischer und deutscher Sicht darstellt, ist schon für sich gravierend und lässt an einer gemeinsamen Wertebasis zweifeln. Offenbar stimmt doch etwas mit den gemeinsamen Grundüberzeugungen nicht, wenn die USA in den meisten Bundesstaaten gegenüber der internationalen Ächtung der Todesstrafe völlig taub sind. Dies sei hier nur erwähnt, um auf eine weitere Thematik hinsichtlich der Dissonanz in Werten und Normen hinzuweisen. Es gibt deren noch mehr. Über all diesem kommt erschwerend hinzu, dass sich in letzter Zeit der Verdacht erhärtet, hinter allen Proklamationen eines war on terror steckten vor allem wirtschaftliche Machtinteressen. Die fast völlig Missachtung der internationalen Klima-Diskussion, die Ineinssetzung von Demokratie und kapitalistischer (Markt-) Wirtschaft, die globale Militärpräsenz zum Schutz der Handelswege und Wirtschaftsräume lassen die amerikanische Sicht einer Wirtschaftsverantwortung als sehr einseitig und machtorientiert erscheinen. Wirtschaft und Macht funktionieren so, auch bei uns. Gerade darum sind Recht und Normen umso wichtiger, um die unkontrollierte Gewalt wirtschaftlicher Interessen an eine soziale und ökologische Verantwortung zurück zu binden. Genau dazu dienen Werte und Normen, die eben verhindern sollen, dass einfach alles gemacht wird, was möglich ist. Eine Zustimmung zu einer solchen normativen Selbstbeschränkung darf man seitens der USA nach ihrem Selbstverständnis („exceptional“) derzeit kaum erwarten.
Der politische Rekurs auf die atlantische Wertegemeinschaft erweist sich dadurch als eine Beschwörungsformel, als eine hohle Phrase, die in der Wirklichkeit kaum mehr eine politische Entsprechung findet. Das sieht kulturell noch etwas anders aus, aber das wäre eigens zu untersuchen. Wer bis hierher gelesen hat und dem Beitrag nun das Etikett „Antiamerikanismus“ anheften möchte, verkennt doch meine Zielrichtung. Es geht mir darum, auf vorhandene Unterschiede, auf tatsächliche Diskrepanzen, auf wesentliche Differenzen im politischen Verständnis der das Handeln leitenden Werte und Normen zwischen Europa und den USA aufmerksam zu machen. Die Beschwörung einer gemeinsamen Vergangenheit (wenn es denn je eine solche gab und nicht auch diese nur ein ideologisches Versatzstück ist, siehe „Demokratieexport“) hilft nicht bei der Bewältigung gegenwärtiger sehr unterschiedlicher Interessenlagen. Dass sie so unterschiedlich sind, ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei den USA um die einzige imperiale Großmacht und bei Europa und Deutschland um Klein- und Mittelmächte ohne eigenes militärisches Potential.
Vielleicht stimmt die Zuspitzung von Stefan Kornelius, dass „wer so viel Speicherplatz hat, keine Freunde braucht“. Oder umso mehr. Die bleibende Faszination durch die Ausstrahlung und Dynamik einer Gesellschaft wie derjenigen der USA hat die Bemühung um gemeinsame Werte und um eine bessere Verständigung wohl verdient.