[Netzkultur]
In einem taz-Interview gestern hat Herfried Münkler formuliert:
95 Prozent unserer Handykommunikation ist Informationsmüll. All die Gespräche, die ich in der U-Bahn höre, muss kein Mensch verschlüsseln. Die Leute sprechen so laut, dass der ganze Waggon es versteht. Und was die Leute da sagen, ist zumeist banal, überflüssig und Zeitverschwendung. Jeder Euro zum Schutz dieser ausgetauschten Informationen wäre rausgeschmissenes Geld. Wir würden in einen teuren Rüstungswettlauf eintreten für nichts. Strategisches Denken ist Konzentration auf zentrale Ziele bei begrenztem Ressourceneinsatz. Wir sollten das schützen, was als Geheimnis wirklich wertvoll ist. (taz 19.11.2013)
Mir geht es jetzt nicht darum, ob Münklers Beurteilung insgesamt zutreffend ist oder nicht (NB: Ich halte sowohl die Analyse als auch die Folgerungen für richtig), sondern um die Beurteilung, um welche Kommunikation es sich bei den fraglichen Abhöraktionen überhaupt handelt. Seine Aussage über den 95 % Handy-Informationsmüll ist provozierend, aber wahrscheinlich (SMS!) zutreffend. Wenn man auf die Sozialen Medien insgesamt schaut (Facebook, Twitter, Google+), dann dürfte ebenfalls zutreffen, dass das Meiste einfach Gelegenheitsäußerungen sind, emotionale Feedbacks, überflüssige Mitteilungen, die eigentlich niemanden interessieren („esse gerade Pizza“), spontane Reaktionen aus dem Bauch heraus, also insgesamt ohne viel Gehalt, Sinn und Verstand. Ich würde es das soziale Geblubber oder Rauschen nennen, zum großen Teil ohne wirklichen Informationswert und ohne festen Adressaten. Es ist jedenfalls weniger, als es ein zufälliges Gespräch beim Treffen eines Bekannten auf dem Markt hat.

Es ist dieses Blubber-Phänomen, das mir die Kommunikation auf sozialen Plattformen immer wieder verleidet. Ich schließe die häufig gelobten Communities bei Google+ ausdrücklich ein. Jedenfalls was die nicht rein technisch orientierten betrifft. Ebenso die Masse der Kommentare bei Zeitungsartikeln wie bei der FAZ oder SZ – und die sind sogar moderiert. Sie bringen selten eine neue Information oder auch nur einen neuen Gedanken. Meist drücken sie subjektive Befindlichkeit, Vorurteile, Zustimmung oder Ärger aus.
Auch viele Blogs und Blogbeiträge gehören zu dem informationsarmen „Datenmüll“, und ich will selbstkritisch dieses eigene Blog nicht von der Prüfung ausschließen, ob das, was ich hier schreibe, nun wirklich gehaltvoll und lesenswert ist. Das möge der Leser beurteilen. Manchmal reicht es ja schon, ein Gegengewicht zu sein. Jedenfalls ist vieles, was ich andernorts lese, völlig belanglos und bringt einen, wenn man es denn gelesen hat, nicht wirklich weiter. Anders gesagt: Wenn ich es nicht gelesen hätte, wäre es genauso gut.
Münkler führt dieser „Befund“ (wenn diese provokante Formulierung denn ein solcher ist) zu einer bestimmten Einschätzung der NSA-Schnüffelei bzw. dem Erfordernis, eigene Kommunikation zu verschlüsseln. Darüber könnte man nun diskutieren, ob nicht gerade auch dieser „Müll“ für die komplexen Analysen der NSA (profiling) äußerst ergiebig ist. Jedenfalls ist es richtig, die Art der Kommunikation im Internet zu differenzieren, zu gewichten und nach bestimmten Kriterien zu bewerten. Dabei dürfte, so meine Vermutung, heraus kommen, dass ein großer Teil der privaten Netz-Kommunikation eher unter sozialpsychologischen Kategorien zu fassen ist („Psychohygiene“) als unter sachlich-inhaltlichen. Man tauscht aus („share“) und fühlt sich dabei gut. Insofern trüge das Netz viel weniger zu Bildung und Information bei als oft behauptet, sondern, zumindest in den sozialen Medien, zu einem kommunikativen Wohlfühl-Rauschen. Das ist nicht nichts und auch nicht weniger wert, sondern es hat nur eine ganz andere Funktion als die oft behauptete.
Aus meiner Sicht ist dies ein Hinweis auf die verbreitete Überschätzung der Netz-Kommunikation und des Internet im Alltag. Abgesehen von den Nerds und Freaks lebt niemand „im Internet“. Die Wichtigkeit des Gebrauchsmittels Internet ist unbestritten. Aber die hervor gerufenen Veränderungen sind doch sehr viel zäher und langwieriger als oft beschrieben. So hat das eBook bisher zwar fabelhafte Zuwächse (ich nutze es in bestimmten Fällen gerne), kann das gedruckte Buch aber keineswegs in allen Bereichen ersetzen. Mir fehlt z.B. die Möglichkeit, ein eBook weiter zu verschenken oder antiquarisch zu verkaufen. Ich nutze also nur dann ein eBook, wenn ich den Preis dafür als reinen Leasing-Preis für angemessen halte. Das ist aber meist, zumal bei Neuerscheinungen, nicht der Fall. Interessante wissenschaftliche Literatur ist als eBook überhaupt nicht verfügbar.
Ebenso wenig teile ich Martin Weigerts jüngst geäußerten Enthusiasmus über die bargeldlose Gesellschaft und das Ende von Geld, wie wir es kennen – eine typische Überschätzung oder Fehleinschätzung. In den USA ist bargeldloses Zahlen längst Standard. Dass es bei uns anders ist, liegt nicht an den fehlenden technischen Möglichkeiten, sondern schlicht am Verhalten der Käufer in Deutschland / Europa, die bisher im Alltag Bargeld vorziehen. Ob das durch „Coin“ oder ähnliche Dienste anders wird, wage ich zu bezweifeln. Zu sehr hat gerade durch die NSA-Schnüffelei der Vorzug anonymen Bezahlens mittels Bargeld wieder an Bedeutung gewonnen. Darauf weist Weigert auch selber hin. „Bitcoin“ andererseits ist eine völlig eigene Geschichte und hat zunächst mit normalem Geld nicht viel zu tun, eher mit einem Spekulationsobjekt wie einem Hedgefond.
Bis dato haben auch Musik- und Video-Streamingdienste die Lust am „monologen“ Fernsehen kaum gemindert. Wie so viele andere Unterhaltungsangebote sind die neuen Streamingdienste einfach hinzu gekommen, eher zu Lasten der CD / DVD. Damit wird eine weitere Funktion des Mittels Internet deutlich: Es schafft andere Verteilwege. Es schafft neue Möglichkeiten des Audio- und Videokonsums, aber es schafft aus sich heraus keine neuen Inhalte. Auch neue Formate sind nur in sehr geringem Maße zum Transport wirklich neuer Inhalte geeignet. Auf YouTube und Vine ist davon gelegentlich etwas zu sehen.
Trotz sehr parteilicher und vorurteilsbehafteter Fragen seitens Martin Kaul hat sich Münkler in dem taz-Interview nicht beirren lassen, seine Beurteilung des Verhaltens der US-Geheimdienste und eventuell zu ziehender Folgerungen aus der NSA-Affäre nüchtern darzustellen. Diese Nüchternheit ist auch der Beurteilung der politischen Konsequenzen nicht nur der gängigen Abhörpraxis, sondern auch des Internets insgesamt mit Brauch und Missbrauch (Cyber-Kriminalität) anzuempfehlen. Wir sollten es geschickt nutzen („Industrie 4.0“) und seine Grenzen erkennen. Der produktive Nutzen ist groß und wird allenfalls unterschätzt. Die Bedeutung der Netzkommunikation aber ist meist genauso groß wie das, was wir sonst jeden Tag zu sagen haben. Im Grunde ist das nicht viel. Nicht viel Wichtiges und Wesentliches jedenfalls. Geblubber und Rauschen.