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Obszöne Technik

[Kultur]

Kann Technik obszön sein? Obszön bedeutet im allgemeinen Sinne „das Moralgefühl verletzend“ (so Langenscheidt). Moral und Anstand verletzen kann aber nur ein Verhalten, keine Sache. Sofern bei Technik nur an Gegenstände, Artefakte, gedacht wird, kann das nicht obszön genannt werden. Meint Technik hingegen in einem weiteren Sinne die technische Lebenswelt, ist menschliches Verhalten darin eingeschlossen. Dann sind Wertungen eines Verhaltens als obszön, anstößig, die allgemeinen Werte und Sitten betreffend, möglich.

Ist Technik im Sinne der technischen Lebenswelt obszön? Es mag sinnvollen und weniger sinnvollen Gebrauch von Technik geben, es mag technische Einrichtungen geben, deren Nutzen unmittelbar auf der Hand liegt und für alle ersichtlich und darum erstrebenswert ist (z. B. Waschmaschinen) ebenso wie es technische Apparate gibt, deren Funktion und Zweck fast ausschließlich negativ bewertet werden müssen (z. B. Atombombe, selbst wenn US-Militärhistoriker es noch als positiv anführen, einen für die eigene Seite verlustreichen Krieg schnell beendet zu haben). Man könnte nun fast alles moderne Kriegsgerät anführen, dessen technische Perfektionierung stets der Vernichtung und Zerstörung dient, deren „Verbesserung“ allenfalls in der größeren Zielgenauigkeit, effektiveren Wirkungsweise oder der Vermeidung bzw. Herbeiführung bestimmter verheerender Nebenwirkungen besteht.

Schon hier könnte es nahe liegen, von obszöner Technik zu sprechen. Meine Anführungsstriche beim Wort „Verbesserung“ zeigen das an. Verbesserte Waffen sind solche, deren Vernichtungsfähigkeit verbessert wird, die also letztlich tödlicher, zerstörender, grausamer sind (z. B. Streubomben). Streubomben sind zwar von einigen Staaten geächtet, aber nicht von den Großmächten und von keinem Staat im Nahen Osten. Selbst bei einer völkerrechtlichen Ächtung einer bestimmten Waffenart (z. B. Landminen) wird weder deren heimliche Produktion noch tatsächlicher Einsatz verhindert. Außerdem hat bisher die technologische Weiterentwicklung der Waffenarsenale eher dazu geführt, dass für eine geächtete bzw. überholte Art längst modernere und effektivere Alternativen zur Verfügung stehen.

Solange Menschen, Gruppen, Staaten existieren, die um Macht und Einfluss konkurrieren, wird es auch Waffen zur Durchsetzung eigener Interessen und zur Bekämpfung und Vernichtung der Gegner geben. Zu Feinden erklärt entbehren Individuen sogar oft jedes menschenrechtlichen Schutzes (Folter, Tötung). Technik steht zu einem großen (größten?) Teil im Dienst der Militärs und der Waffenindustrie. Der militärisch-industrielle Komplex ist eine mächtige Realität (Geheimdienste, Rüstungsforschung, Waffenexporte). Die Stichworte zeigen, dass kein Land davon aus zu nehmen ist, auch Deutschland nicht. Dass technischer Fortschritt dem Leben dient und bessere Lebensverhältnisse schafft, klingt demgegenüber wie Hohn. Kann man Kriegstechnik darum nicht zu Recht als obszön bezeichnen?

Monokultur

Unangenehmes Thema. Wir lieben doch Technik und unsere technischen Spielzeuge. Was soll an einem E-Mobil oder Smartphone schon verwerflich sein? Nun ja, so einfach ist das leider auch hierbei nicht. Nicht allein dass die Bedingungen der Produktion problematisch sind (Auslagerung in Billiglohnländer ohne Sozial- und Umweltstandards), sondern auch der verstärkte Einsatz Seltener Erden insbesondere bei Schlüsseltechnologien (IT, Chemie, Feststoffe) ist grundsätzlich  problematisch. Seltene Erden sind überwiegend giftige „Metalle“, deren Auswirkungen auf Organismen nur wenig erforscht sind. Hinzu kommen erhebliche Probleme beim Abbau und Umgang mit diesen Elementen.

Mining, refining, and recycling of rare earths have serious environmental consequences if not properly managed. A particular hazard is mildly radioactive slurry tailings resulting from the common occurrence of thorium and uranium in rare earth element ores.[60] Additionally, toxic acids are required during the refining process.[15] Improper handling of these substances can result in extensive environmental damage. [Wikipedia, engl.]

Auch bei der Verbesserung der Batterieleistung von E-Mobilen spielen Seltene Erden eine große Rolle. Offenbar handeln wir uns da Probleme ein, deren Auswirkungen bisher kaum bekannt geschweige denn öffentlich diskutiert und angemessen bewertet sind, ganz zu schweigen davon, dass Seltene Erden eben selten sind und damit eine strategische Bedeutung gewinnen. Damit ist klar: Weder E-Mobilität noch IT-Technik ist eindeutig und nur positiv zu bewerten. Dass die negativen Implikationen und Folgen so wenig bekannt sind und kaum diskutiert werden, macht die Gefahren eher noch größer. Die bisweilen von technikverliebten Zeitgenossen skandalisierte Zweiteilung der Gesellschaft in IT-Besitzer und IT-Habenichtse (oft verkürzt auf eine Online- bzw. Offline-Generation) ist nun wirklich das geringste Problem. Es ist ein typisches sekundäres Luxus-Problem, das von den primären Problemen allenfalls ablenkt.

Man könnte nun weitere Technologien (im Sinne von Technik-Systemen) durchgehen und auf deren jeweilige Ambivalenz (vorsichtig gesagt) hinweisen: Der drohende Mangel an lebenswichtigem Phosphat, der in der Phosphatdüngung bislang hemmungslos (wörtlich: ohne Hemmung, weil ohne Problembewusstsein) eingesetzt wird, siehe die Infos bei ARTE Futur. Oder das weltweit in den Ozeanen vagabundierende Plastik, das in die Nahrungsketten eindringt und dem man bisher außer Achselzucken nichts entgegen setzt. Oder die bislang nur recht verschwiegen behandelten Langzeitgefährdungen durch den massiven Einsatz von Pestiziden (neueste Technik: „gebeiztes“, d. h. mit Pestiziden imprägniertes Saatgut) und da besonders durch Neonicotinoide. Wer nach so viel Negativem noch mag, schaue sich die gestrige Sendung von NetzNatur (SRF, 3sat) an. Das Bienensterben ist nur die Spitze des Eisberges; das Verschwinden der Biodiversität in unseren agrotechnischen Lebensräumen ist offenbar eine biologische Zeitbombe – und keineswegs ein Anlass zu romantischer Naturschwärmerei.

Von den Folgen und Auswirkungen der sog. Ersten Technischen Revolution, also der klassischen Industrialisierung, habe ich noch gar nicht geredet und will es auch nur als Stichwort erwähnen. Dieser Themenbereich ist zumindest weitgehend bekannt und gut dokumentiert. In Geschichte sind wir gut, in Zukunft weniger.

Beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass unsere durch Technik geprägte Lebenswelt vorsichtig gesagt ambivalent ist, allerdings ambivalent nur der Sache nach. Denn technische Instrumente haben ja an sich keinen positiven oder negativen Wert. Den gewinnen sie erst durch ihren Zweck und ihren Gebrauch. Allenfalls eine eher positive oder eher negative Möglichkeit steckt in den Apparaten, weil sie bereits durch den menschlichen Geist und dessen Interessen und Absichten konstruiert sind. [Die möglicherweise weit reichenden Implikationen dieses Gedankens möchte ich hier nicht weiter verfolgen.]

Wird Technik aber verwirklicht, „gebaut“ und eingesetzt, verliert sie einen großen Teil der Ambivalenz. Sie dient nun dem für sie bestimmten Zweck, bisweilen bringt sie auch noch Folgezwecke und Folgenutzen – und unerwartete Folgewirkungen mit sich. Diese Zwecke technischer Instrumente sind fast durchweg ideologisch verbrämt. Technik, so hört man, dient der Erleichterung von schwerer menschlicher Arbeit. Technik dient der Mobilität, dem Komfort und damit (unterstellt) höherer Lebensqualität. Technik ermöglicht bessere Kommunikation und Beteiligung usw. Irgendwo stimmt das ja auch. Aber es ist nur die halbe Wahrheit, oft, so vermute ich, weit weniger als die halbe Wahrheit. Und genau da beginnt es obszön zu werden. Denn die Kosten im Bereich der Biosphäre und im Bereich „Arbeit & Soziales“ werden regelmäßig und absichtlich unterschlagen. Das konnte nicht nur die Atomindustrie gut.

Der Einsatz von technischen Mitteln dient nüchtern betrachtet zum größten Teil einem lebensbedrohenden Vernichtungspotential (Militär) oder einer massiven Gewinnmaximierung bzw. Kapitalvermehrung (Monopole und monopolähnliche Firmenkomplexe, weniger Google als vielmehr z. B. Monsanto, Syngenta uva.). Der jeweilige Technik-Nutzen dient in erster Linie macht- und wirtschaftpolitischen Zwecken, was oft genug zusammen fällt. Man muss wahrlich kein Marxist sein, um dies zu erkennen. Jede noch so abwegige technische Spielerei wird als lebensdienlich oder Komfort erhöhend verkauft („life companion“). Die sozialen und vor allem auch ökologischen Folgelasten werden tunlichst verschwiegen oder klein geredet. Da das Ausmaß der Schäden durch unsere technisch-industriellen Lebenswelten noch kaum zu ermessen, aber in der Klimaveränderung bereits mehr als nur zu ahnen ist, da dieses Ausmaß aber die menschliche Lebensbasis, die Lebenstauglichkeit unseres Planeten für künftige Generationen angreift und gefährdet, da die Lernfähigkeit und die Bereitschaft und Willigkeit für entscheidende Änderungen der Lebensstile, insbesondere unserer westlichen Überflussgesellschaften kaum vorhanden ist, da also die rasant wachsenden Möglichkeiten der Technik das Potential der Gefahren Weltzerstörung und Selbstvernichtung des Menschen ebenso rasant vergrößern, da – – – ich halte ein.

Ich kann es kaum anders denn als obszön bezeichnen, was sich vor unseren Augen und in unserer Lebenswirklichkeit abspielt. Die Verklärung von Technik, Technikkultur und technologischen Zukunftsvisionen steht in schreiendem Gegensatz zur tatsächlichen Gegebenheit, Produktion und Indienstnahme von Technik. Dazu braucht es nicht erst die NSA. Die Obszönität, die Unmoral liegt im Auseinanderklaffen von vorgespiegelter Glücksverheißung und welt- wie selbstzerstörerischer Wirklichkeit. Vielleicht ist es tatsächlich ein faustisches Problem: Der Geist der technischen Weltveränderung geht nicht, geht nie wieder in die Flasche zurück. Es könnte ein heilender Geist sein, die Möglichkeit zum Guten und zum Nutzen für das Leben sind ja da. Für einen kleineren Teil der Menschheit haben sich die Lebensbedingungen durch den Einsatz moderner Technologien drastisch verbessert (Gesundheit, Wohlstand), aber zu einem hohen Preis für die große Mehrheit und zu Lasten der Biosphäre. De facto haben sich bisher stets die zerstörerischen Kräfte durchgesetzt. Gewalt, Macht und Gier sind einfach zu real, zu dominant. Solange der Mensch Mensch ist, wird sich das kaum ändern. [Absatz update 29.11.]

[Update 21.12.: Link zum Thema Seltene Erden ]