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Politik der Mitte – Ruhe im Karton

 [Politik]

Die Bundestagswahl ist einige Wochen her, die schwarz-rote Koalition scheint immer gewisser zustande zu kommen, die Regierungsbildung einschließlich Wahl der Kanzlerin steht noch vor Weihnachten auf dem Programm. Schaut man auf den gestern Abend veröffentlichten Deutschlandtrend von Infratest dimap, dann ist das Verhandlungsergebnis genau das, was die klare Mehrheit der Deutschen will. Nur ein einziges Härchen ist bei den Befragungen von Infratest zu entdecken: Fast zwei Drittel der Jungen sehen in den Rentenbeschlüssen eine zu große Belastung der künftigen Generation. Eigentlich auch klar. Dagegen halten die repräsentativ Befragten die Beschlüsse im Einzelnen (Rente mit 63, Mütterrente, Mindestlohn, PKW-Maut und doppelte Staatsbürgerschaft) in dieser Reihenfolge mit großer Mehrheit quer durch die Parteien für richtig. Sogar die in der künftigen Regierung vermuteten „Köpfe“ und Ressorts finden deutliche Zustimmung. Also alles bestens. Das Volk hat gewählt, das Volk bekommt die gewünschte Regierung mit ein paar Reformpunkten und ohne Steuererhöhung – versprochen. Wie gewünscht bleibt möglichst alles so (gut), wie es ist.

Liest man aber in den Kommentaren der Zeitungen und der sozialen Medien, dann konnte man schon beim Wahlergebnis ein verhalten verständnisloses Kopfschütteln bemerken. Das ungeliebte Wahlergebnis hätte man ja noch mit der angeblich „linken Mehrheit“ zurecht rücken können. Dabei wurde allerdings geflissentlich übersehen, dass das Wahlergebnis mitnichten eine linke Mehrheit in der Wahlbevölkerung offenbart. Nur durch die einmalig hohe Zahl von Wählerstimmen (9 %), deren Parteienpräferenz nicht im Parlament vertreten ist (FDP, AfD), ist es bei den Parlamentssitzen zu einer hauchdünnen Mehrheit jenseits der Union gekommen. Die hat bekanntlich die absolute Mehrheit knapp verpasst. In  Bayern war es der CSU eine Woche vorher noch gelungen, eine absolute Mehrheit wieder zu gewinnen.

Und nun auch noch die Große Koalition, #GroKo. „Verrat“ rufen viele SPD-Mitglieder, die nun über die Annahme des Koalitionsvertrages abstimmen sollen; die Vertreter eines „rot-grünen Projektes“, was offenbar mehr zu sein verspricht, als es nur eine rot-grüne Koalition wäre, ballen enttäuscht die Faust in der Tasche. Spätestens seit Hessen und der dort verabredeten schwarz-grünen Koalition ist das einst beschworene „rot-grüne Projekt“ endgültig zu den Akten gelegt. Ernst zu nehmen sind die Bedenken mancher Stimmen, die im Parlament nur noch eine Mini-Opposition mit wenig Wirkungsmöglichkeiten sehen. Die breite parlamentarische Mehrheit von über Zweidrittel der Stimmen drückt die parlamentarische Opposition an den Rand. Opposition als potentielle Regierungsalternative kann da kaum statt finden. Dies ist tatsächlich eine Besonderheit, vielleicht sogar eine Gefahr bei der zu erwartenden Konstellation im Bundestag.

Plenarsaal
Bundestag Plenarsaal (Wikimedia)

Bei all den (aus meiner Wahrnehmung) überwiegend negativ-kritischen Kommentaren in Presse, TV und Netzmedien zur im Koalitionsvertrag verabredeten Regierungspolitik wird viel zu leicht übersehen, welche erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen und Auswirkungen sich im Wahlergebnis und in der künftigen Großen Koalition abzeichnen. Die jüngsten Umfragen bestätigen das Wahlergebnis immer wieder, Neuwahlen würden kaum etwas anderes ergeben. Das ist kein Zufall, eher kann man schon das knappe Verpassen der absoluten Mehrheit der Union als erstaunlich bewerten. Was ist da eigentlich im Wahlvolk geschehen? Was hat sich bestätigt, was muss man korrigieren?

Bestätigt hat sich die Meinung einer relativen Mehrheit schon vor der Wahl, die sich eine Koalition aus CDU/CSU und SPD wünschte. Offenbar sind die Erinnerungen in der Wahlbevölkerung an die Große Koalition 2005 – 2009 keineswegs so negativ gewesen, wie es manche Politprofis, vor allem Mitglieder der SPD wegen des „Absturzes“ 2009, gesehen haben und wie es medial oft vermittelt wurde. Die Bewältigung der Finanzkrise 2008 durch Merkel / Steinbrück, durch die Deutschland recht glimpflich hindurch gekommen ist, hat dabei gewiss eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Insgesamt wurde offenbar auch das Verhalten der Regierung Merkel in der Eurokrise gut geheißen. Deutschland ist dank eigener Wirtschaftskraft gestärkt aus der Krise hervor gegangen – so die durchaus begründete Wahrnehmung. Schließlich hat die SPD 2013 erneut ein Ergebnis eingefahren, dass nahe am Ergebnis 2009 liegt, trotz Opposition, – Volkspartei sieht anders aus. Sie wurde demnach als Juniorpartner der Unionsparteien „gewünscht“.

Nur scheinbar bestätigt hat sich eine politische Zweiteilung der Gesellschaft, deren Gewichte sich aber völlig verschoben haben. Parlamentarisch gibt es nur noch die Union – und den Rest. Wenn man diesen Rest traditionell als links bezeichnet, dann teilt er sich auf SPD, Grüne und Linke auf. Nach dem alten Erklärungsmuster, nach dem Wahlen in der Mitte zwischen den „Blöcken“ entschieden werden, haben auch diesmal wieder wenige Prozentpunkte den Ausschlag gegeben. Aber das Ergebnis ist nur vordergründig so einfach zu interpretieren. Selbst wenn man die frühere und inzwischen korrigierte Ausgrenzung der Linken berücksichtigt, dabei aber auch die außerparlamentarischen Parteien FDP und AfD mit zusammen mehr als 9 % Stimmenanteil in die Betrachtung einbezieht, dann ist doch eine recht deutliche Mehrheit außerhalb der traditionellen Linken festzustellen. Mit Verhältnissen wie in den USA oder auch in Frankreich ist das überhaupt nicht zu vergleichen.

Fraglich geworden ist die Rechts-Links-Einordnung in der Politik insgesamt; sie sagt analytisch eigentlich nichts mehr aus, eher verdeckt sie erhebliche Veränderungen im Wählerverhalten. Zum einen wird von einer „Sozialdemokratisierung“ der Union gesprochen. Gemeint ist damit eine Verbreiterung des Politikangebots der CDU/CSU jenseits vom traditionell konservativen, katholischen Milieu. „In die Mitte gerückt“ passt schon besser, wenn man unter „Mitte“ die soziologisch bedeutsame Ausbildung einer spezifisch (groß-) städtischen, weltoffenen und eher liberalen Soziokultur versteht. Dieses neue Milieu ist aber vom traditionellen CDU-Milieu ebenso verschieden wie vom traditionellen SPD-Milieu der „Arbeiterkultur“. Beide Parteien mussten sich diesem neuen städtisch geprägten aufgeschlossenen Wählertyp und seinen Erwartungen stellen. Der CDU ist das unter Merkel (und der CSU unter Seehofer) offenbar sehr viel besser gelungen als der SPD. Der hängen die ideologischen Traditionsstücke aus ihrer 150 jährigen „Arbeitergeschichte“ noch stärker als Klotz am Bein. Das Klientel der sozialen Randgruppen bedient ohnehin die Linke entschieden besser. Der vermeintlichen „Sozialdemokratisierung“ der Union entspricht also eine ebenso plakative „Verbürgerlichung“ der SPD. Beide Begriffe in Anführungszeichen sind aber irreführend und analytisch obsolet. Es geht um das großstädtisch gebildete und aufgeschlossene Reservoir einer breiten soziokulturellen und politischen Mitte, die beide großen Parteiengruppen, CDU/CSU und SPD jeweils mit den ihnen eigenen traditionell „rechten“ oder „linken“ Rändern abdecken. Bisher gelingt das der Merkel-Seehofer-Union offenbar am besten mit deutlich über 40 % Wählerzustimmung.

Am ehesten treffen häufiger geäußerte Einschätzungen die Grünen betreffend zu: Die Einsortierung dieser Partei unter „links“ ist immer fragwürdiger geworden. „Linksbürgerlich“ oder „linksliberal“ sind da schon passendere Kennzeichnungen, wenn nicht das Rechts-Links-Schema ohnehin überholt wäre. Insofern orientiert sich auch diese Partei weniger am Ökobauern als vielmehr an der jüngeren, städtisch gebildeten, liberalen und weltoffenen Elite. Ihr Stimmenanteil in Universitätsstädten ist seit vielen Jahren weit überdurchschnittlich. Sie deckt in derselben weit gefassten Mitte der Gesellschaft das bürgerlich-emanzipatorische Element ab mit einer stark moralisierenden („veggy day“) Komponente. In einer Tortengrafik stünde demnach der Kuchen „neue Mitte“ für ca. 78 % der Wahlbevölkerung. Die jeweiligen Ausfransungen ins bisherige Stammwählermilieu (Stammwähler gibt es bekanntlich kaum mehr) bestimmen für CDU/CSU, SPD und Grüne jeweils den Ort oder die Ausrichtung des Tortenstücks innerhalb des Kuchens „neue Mitte“. Allerdings müsste man auch die außerparlamentarischen Parteien FDP und AfD noch hinzu rechnen; auch sie streben nach einem Segment in der neuen Mitte. Obs dafür noch Platz gibt, wird sich zeigen.

Platz gibt es auf jeden Fall im Bereich der Linken als Interessenvertreterin der sozialen Randgruppen bzw. der sozial Benachteiligten (stabiler Wähleranteil bundesweit bei ~ 9%, überdurchschnittlich bei Hartz-IV-Empfängern). Im Osten sieht das etwas anders aus, weil die Linke dort direkt mit dem Potential der SPD konkurriert. Das wird sich aber vermutlich in Zukunft nivellieren. Bleibt die Frage nach dem entgegengesetzten, national-konservativen Rand. Dort ist für populistische Parteien durchaus ein Reservoir wie in anderen europäischen Ländern zu vermuten. Bisher ist in Deutschland noch keine Partei zu erkennen, die diese mögliche Lücke austesten könnte. Am ehesten käme dafür wohl die AfD infrage. Aber auch eine national gewandelte FDP wäre nach dem Beispiel Österreichs denkbar, allerdings kaum unter Lindner. Hier bleiben offene Fragen und vermutete Potentiale.

Was sagt uns das nun alles? Unsere Gesellschaft ist insgesamt offenbar sehr viel homogener und konsensorientierter als oft behauptet. Erstaunlich ist dieser Befund ja durchaus. Die Polarisierungen des Wahlkampfes wirken eher als überflüssiger Theaterdonner. Dass die Große Koalition so viel Zustimmung findet, ist ebenfalls bemerkenswert. Immerhin bleiben im Koalitionvertrag eine Vielzahl großer gesellschaftlicher Fragen ausgeblendet. Ich nenne nur einige Stichworte für Politikbereiche, die im Regierungskonzept der künftigen schwarz-roten Bundesregierung kaum eine weiterführende und problemlösende Beantwortung finden:

Europa – Euro – Bankenregulierung – Energiewende – generationensichere Rentenreform – generationensichere Gesundheits- und Pflegevorsorge – Bildungspolitik – Industriepolitik – IT- und Medienpolitik – Außenpolitik und Sicherheit – uam.

Man darf vermuten, dass hier auch künftig die Handschrift der Bundeskanzlerin deutlich sichtbar sein wird: Kühl kalkulierend, sachlich bedächtig und wohl begründet, auf konkrete Situationen und Herausforderungen reagierend, die Linien der bisherigen erfolgreichen Wirtschafts-und Finanzpolitik fortsetzend – und keine weiteren großen Veränderungen (nach Bundeswehrreform und Energiewende) mehr anstrebend (z. B. Steuerreform). Kein Koalitionsvertrag bindet ihr in diesen Politikfeldern die Hände. Man könnte auch sagen: Alles, was wirklich wichtig ist für die Zukunft unseres Landes, bleibt im Koalitionsvertrag ausgespart. Eine taktische Meisterleistung der Kanzlerin und ihres Koalitionspartners Gabriel. Dass dabei auch noch die SPD wie eine Gewinnerin aussieht, macht das Ergebnis perfekt: eine Win-Win-Situation.

Aus den tief greifenden Veränderungen der politischen Milieus in den letzten Jahren ergibt sich damit eine Gewichtsverschiebung in der politischen Konstellation, die als Ergebnis der Wahlen und den daraus folgenden Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildungen im Bund, in Bayern und in Hessen offenkundig geworden ist und die kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Die große Siegerin ist bislang Angela Merkel als diejenige, die die Zeichen der Veränderung offenbar am besten erkannt, in ihrer Partei durch gesetzt und in politisches Handeln umgesetzt hat. Man mag dies im Konkreten begrüßen oder kritisieren, insgesamt ist es ein Faktum. Noch hat das nicht jeder Kommentator und nicht jede Kommentatorin in Presse, Funk und Netz „verinnerlicht“. Wenn die Gesellschaft als Ganze von diesen Veränderungen im Politikbetrieb ebenfalls profitieren würde, könnte es einem ja recht sein. Statt mediale Aufgeregtheit ist Ruhe angesagt. Ruhe im Karton – vielleicht ein Erfolgsrezept.