[Politik]
Die Entwicklung in der Ukraine hat schon jetzt mehr verändert, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Dabei ist bis heute noch gar kein neuer, einigermaßen stabiler Zustand erreicht, allenfalls ein Zwischenstand. Bisher gab es die elliptische Ereignisfolge mit den beiden Brennpunkten #euromaidan und #crimea mit den jeweiligen „vorläufigen Endergebnissen“ neue prowestliche Regierung in Kiew und Aufnahme der Krim in die russische Föderation. Noch ist unklar, wie die Entwicklung weiter geht und wohin sie führen wird. Es ist ein Machtspiel mit vielen Faktoren und ohne einheitliche Regie, Reaktion erzeugt Gegenreaktion, es gibt Abrechnungen und Nutzen von Gelegenheiten, Fakten-Schaffen und Position-Beziehen. Die rational choice einer Kosten-Nutzen-Rechnung ist bei manchen Regierungen derzeit wohl eher zweitrangig.
Die jeweiligen Argumente und Begründungen auf der medienpolitischen Ebene haben stark ideologische und (selbst-) rechtfertigende Motive mit jeweils unterschiedlichen Adressaten (die eigene Bevölkerung – die Gegenseite). Das macht die sachliche Beurteilung so schwer, zusätzlich zum Wechselspiel von Information und Desinformation, Urteil und Vorurteil, was bei solchen Krisen stets dazu gehört. Es ist auch kaum möglich, „neutral“ zu urteilen, weil man durch den jeweiligen Blickwinkel bereits in der Meinungsbildung bestimmt wird. So gibt es wohl tatsächlich nur eine eher europäische oder eine eher russische Sicht der Dinge, tertium non datur. Denn auch in der Ukraine selber ist die Meinung zwischen östlich und westlich geteilt. Die diplomatische Kunst besteht wie immer darin, dennoch Wege und Möglichkeiten zu finden, die für beide / alle Seiten gangbar sind.

Aus europäischer, zumal deutscher Sicht gibt es einige wahrscheinlich langfristige Folgen, die Politik und gesellschaftliche Stimmung erheblich verändern werden.
1. Die Rückkehr eines (macht-) politischen und kulturellen Blockdenkens zwischen Ost und West, speziell zwischen „Russland“ und „dem Westen“, reaktiviert einige seit den neunziger Jahren obsolet gewordene Beurteilungen und Einstellungen. Dass Deutschland und Europa „nur noch von Freunden umgeben“ sei, war ein viel zitierter Satz, der das neue Lebensgefühl nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs kennzeichnete – und sich bundespolitisch auswirkte. Seit militärische Optionen innerhalb Europas undenkbar geworden waren, wurde auch die Bundeswehr als Armee zur Landesverteidigung obsolet. Statt dessen verlangten neue Perspektiven und Ansprüche der Partner eine Interventionsarmee, um gegebenenfalls nicht nur am Hindukusch, sondern weltweit für die Verteidigung demokratischer Freiheit und Schutz der Menschenrechte auftreten zu können – zunächst humanitär, doch bei Bedarf auch durchaus „robust“, d. h. bewaffnet. Die neue Lage in Europa angesichts einer mit militärischen Mitteln drohenden und intervenierenden russischen Armee dürfte hier sehr rasch zu einem Überdenken der bisherigen militärischen Doktrin und zu einer Neuausrichtung der bündnispolitischen Aufgaben und Verpflichtungen führen. Das wird natürlich Auswirkungen auf die Struktur der Bundeswehr und damit auf den Verteidigungshaushalt haben. Erstaunlicherweise ist diese Auswirkung schon jetzt in Schweden (siehe diese Nachricht), Finnland, Polen und anderen Staaten mit direktem Kontakt zu Russland offenkundig.
Folge Nr. 1: Die NATO gewinnt als militärisches Verteidigungsbündnis wieder neues Gewicht.
2. Das Verhältnis zu den USA stand in den letzten Jahren gesellschaftlich und kulturell (z. B. angesichts der sogenannten „Cowboy-Mentalität“ von Bush jr.) und dann auch politisch unter Druck. Spätestens seit dem Irakkrieg und dem grenzenlosen „war on terror“ wurde das „imperiale“ Verhalten der letzten verbliebenen Supermacht zunehmend suspekt und kritisch gesehen. Nicht zuletzt die NSA – Praxis (#snowden) trug zum Anwachsen des atlantischen Grabens bei, obwohl die amerikanischen und europäischen Geheimdienste einschließlich des BND seit langem und erwiesenermaßen sehr erfolgreich kooperieren – ganz zu schweigen von der engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Europa und den USA. Dieser politische und kulturelle (Werte-) Graben – wenn er denn je so bestanden hat, wie antiamerikanische Sentiments gerne behaupten – scheint wieder ruckartig kleiner zu werden. Innerhalb weniger Wochen ist deutlich geworden, wie sehr die europäische und insbesondere die deutsche Sicherheit auf den Pfeilern der USA ruht und wie stark demnach die Notwendigkeit besteht, die NATO eben nicht nur als historisch überholtes, nur noch politisches Bündnis zu verstehen, sondern als politisches und militärisches Verteidigungsbündnis mit weit reichenden Pflichten und Aufgaben zu reanimieren bzw. in neuer historischer Lage neu zu bestimmen und auszurichten. Das macht die Differenzen hinsichtlich der universalen Lauschpraxis der Geheimdienste und des rechtsstaatlichen Datenschutzes nicht hinfällig, relativiert aber deren Stellenwert, zumal es sich dabei offenkundig weniger um ein speziell US-amerikanisches Problem handelt als um eine Frage angemessenen Umgangs und neuen Rechtes hinsichtlich der im Netzzeitalter massenhaft gesammelten und verarbeiteten Daten (big data, data mining). Es tritt wieder ins Bewusstsein, wie sehr wir in Europa mit den USA ökonomische Potentiale, kulturelle Werte und politische Ziele teilen und wie wenig die „deutsch-amerikanische Freundschaft“ als bloße Phrase entwertet werden darf.
Folge Nr. 2: Die USA werden wieder deutlicher als wichtigster und verlässlicher Partner in Europa wahrgenommen.
3. In den letzten Jahren schien Europa, namentlich die Staaten der EU, immer mehr auseinander zu driften, auch wenn die Finanz-, Schulden- und Eurokrise eher zum Gegenteil, also zum Zusammenrücken zwang. Fast schlagartig werden die zentrifugalen Kräfte obsolet und erheblich in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Angesichts der in der Ukraine mit Russland drohenden Gefahr haben sich die EU-Regierungen selten schnell selten einmütig gezeigt. Sogar der Schulterschluss mit den USA (vgl. wie sich Merkels Äußerungen zur G8 / G7 innerhalb einer Woche verändert haben) ging zumindest in der Öffentlichkeit reibungslos vonstatten. Beim letzten aktuellen Gipfel der EU-Regierungschefs schien sogar Premier Cameron wieder die Nähe zu den Kolleginnen und Kollegen Amtschefs zu suchen. Vielleicht ist da gedämmert, dass nicht die Schottland-Frage das wichtigste Thema der Briten in der Union ist. So gibt es starke Hinweise darauf, dass sich die europäischen Staaten, und zwar nicht nur die Anliegerstaaten an der russischen Grenze, sondern alle europäischen Staaten in einer neuen gemeinsamen Verantwortung sehen. Die Ukraine und das Verhalten Europas ihr gegenüber wird zum Testfall gesamteuropäischer Solidarität und „Wertegemeinschaft“. Tatsächlich, dieses abgenutzte Wort könnte wieder mit neuer Bedeutung gefüllt werden, – Putin leistet dafür erhebliche Vorarbeit. Man sollte sich allerdings davor hüten (und dies gilt besonders für die westeuropäischen Medien), eine negative Mystifizierung Putins zu betreiben, wie das heute in einem Artikel der FAS geschieht. Man braucht gerade Putin als Gesprächspartner, wenn man aus der Krise einigermaßen glimpflich heraus kommen will. Vielleicht wird sich ein gewisser Stimmungsumschwung bereits bei der Europawahl im Mai zeigen, auch wenn die Öffentlichkeit diese raschen Veränderungen erst sehr allmählich verdaut und realisiert.
Folge Nr. 3: Europa wird sich umstellen müssen – es bekommt, Ironie der Geschichte, angesichts der Ukraine eine neue Chance.
P. S. 24. 03.: Natürlich muss auch das Gespräch und die Zusammenarbeit mit Russland wieder eine Chance bekommen. Das ist absolut notwendig und mit viel Bemühung auf beiden Seiten auch möglich – „vorbedingungslos“ (Gerd Ruge bei Jauch). Wenn irgend etwas, dann ist dies „alternativlos“.