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Komplexität und Beschleunigung

[Kultur]

Es gibt zwei Begriffe, die nahezu selbstverständlich verwandt werden, um besondere Merkmale der postmodernen Gesellschaft zu kennzeichnen: Komplexität und Beschleunigung. Während der erste Begriff aus einer Popularisierung des Soziologen Niklas Luhmanns stammt, erfuhr der zweite Begriff seine soziologische Begründung durch Hartmut Rosa. Beide Begriffe sind auf den ersten Blick einleuchtend. Sie scheinen sehr direkt wesentliche Aspekte heutiger Lebens- und Welterfahrung abzudecken. „Alles wird immer komplizierter“ ist die mehr volkstümliche Version der Komplexität moderner Gesellschaften, festgemacht an Erfahrungen mit Bürokratie oder Technik. Und das andere ist: „Immer diese Hetze und Eile heute“, alles muss schnell gehen, keiner will warten.

Tatsächlich stimmt es ja, dass Verkehrsmittel dank moderner Technik und Infrastruktur so schnell sind wie nie zuvor, das Kommunikation mittels der Allgegenwart von Telefonen (Handys, Smartphones, Internet) instantan geschieht, dass Arbeitsabläufe in Produktion und Dienstleistung optimiert werden auf ihren Ressourcenverbrauch hin, und da ist Zeit eine wichtige Größe. Und es stimmt auch, dass die Handhabung vieler technischer Geräte sich keineswegs mehr auf den ersten Blick bzw. beim ersten Gebrauch erschließt, also komplizierter geworden ist, dass Verwaltung, Bürokratie, Serviceabteilungen eine wachsende Vielzahl von Vorschriften, Rechtssetzungen, Normen sowie unterschiedliche bis divergierende Kundenbedürfnisse berücksichtigen müssen. Wer einen Umbau plant, weiß ein Lied davon zu singen. Projekte wie BER und Stuttgart 21 sind ja nicht nur rein technisch-planerisch so kompliziert, sondern vor allem durch ihre gesellschaftlich und rechtlich genormte Einbettung.

ICE 3
ICE 3 Führerstand (Wikimedia)

Hält man beide Phänomene gegeneinander, so bekommt man den Eindruck einer gewissen Gegenläufigkeit, die die jeweils beschriebenen Effekte zumindest teilweise aufhebt. Zwar waren die Verkehrsmittel rein technisch noch nie so schnell und bequem wie heute, aber der Geschwindigkeitsgewinn wird durch Komplexitätsverluste konterkariert: Staus auf den Autobahnen verlängern die Reisezeit unkalkulierbar, Zugverspätungen oder Zugausfälle machen manche Fahrt durch Deutschland zum Alptraum, im Luftverkehr gibt es allzu oft Chaos durch betriebs- oder naturbedingte Störungen (Streik – Eis – Vulkanasche). Schon Rosa stellt fest, dass die Zeiteinheit pro schriftliche Kommunikation durch Email (SMS, Messages) gegenüber herkömmlichen Briefen zwar drastisch abgenommen hat, zugleich aber viel mehr Kommunikation pro Zeiteinheit produziert wird und zu verarbeiten ist. Hier ist also schon quantitativ eine Bremse eingebaut, von dem bedingt möglichen Qualitätsverlust / -gewinn ganz zu schweigen.

Zwar wachsen die technischen Möglichkeiten bei Planung und Ausführung von Projekten insbesondere durch den Einsatz von Digitaltechnik rasant und auf einer qualitativ neuen Stufe der Produktionsbedingungen, gleichzeitig aber nehmen die zu berücksichtigenden Faktoren der Umsetzung und Einbettung ebenso rasant zu: kein Hausbau ohne Umweltgutachten, keine Flughafenerweiterung ohne die Einbeziehung systemübergreifender, gesamtgesellschaftlicher Auswirkungen und Einflussfaktoren. Ähnliches gilt für Dienstleistungen aller Art. Zwar kann ich das jeweilige Kundencenter sehr „leicht & bequem“ (so das Versprechen) per Telefon oder Internet erreichen, aber dann beginnt das Elend langer Wartezeiten, nichtsahnender Callcenter, die Odyssee von Weitervermittlungen, am Ende ohne konkretes Ergebnis. Bei Behörden sind die Abläufe trotz vieler gegenteiliger Bemühungen für den Kunden intransparent, zeitraubend und oft im Ergebnis nicht zufrieden stellend. Mal eben aufs Amt zu gehen und eine Genehmigung abzuholen, das war mal. Und auf den Handwerker wartet man heute je nach Region so lange wie eh und je – oder länger.

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, und jeder und jede könnte etwas dazu beisteuern. Nun gut, könnte man resümmieren, komplexe Systeme sind halt störanfällig, da heben sich Beschleunigung und Komplexität wechselseitig auf. Ganz so gleichgewichtig ist es natürlich nicht, eher ein Pendeln mal in die eine, mal in die andere Richtung, so dass es schwer wird, diesbezüglich in der gesellschaftlichen Entwicklung eine wirkliche Tendenz heraus zu finden. Es bleibt aber auf jeden Fall der vorherrschende Eindruck in der Öffentlichkeit, die Zeit renne immer schneller und die Dinge würden immer komplizierter. Woher kommt das?

Zum einen ist hier mit Sicherheit auf die Alterung unserer Gesellschaft hinzuweisen. Die Klage über Eile und Hetze sowie über die Kompliziertheit der Lebensverhältnisse wird vielfach von Älteren geäußert: „Früher brauchte man doch bloß…“ Erhebliche und zeitlich gedrängte Veränderungen in den Lebensverhältnissen – und die sind unbestreitbar – treffen vor allem die ältere Generation, die sich dann in der heutigen Welt nicht mehr zurecht findet oder nicht mehr recht heimisch fühlt. Aber dies Generationenproblem gab es im Grunde zu allen Zeiten. Mit „komplizierter“ Technik hat die Jugend kein Problem, und mit Eile und Schnelligkeit auch nicht. Ein Zeitproblem tut sich in der jungen Generation dort auf, wo übergroße Ansprüche (meist der Eltern) den Kalender der Jugendlichen voll stopfen. Aber das ist ein anderes Problem. Eher macht es nachdenklich, dass gerade viele in der mittleren Generation, also der „Leistungsträger“ in ihrer Hauptschaffenszeit, über zunehmenden Druck am Arbeitsplatz klagen, sowohl was die Quantität (Zeit) als auch was die Qualität (Komplexität) angeht. Hier scheint es in der Tat für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft einen Trend der Arbeitsverdichtung zu geben, dem keine eingebaute Bremse entgegensteht – es sei denn man rechnet Burn-out dazu. Dafür sind die Einflüsse aber vielfältig; sie lassen sich nicht auf die griffigen Kategorien „Komplexität und Beschleunigung“ reduzieren.

Auch für diese Ambivalenz ließen sich weitere Beispiele anführen. Mir wird deutlich, dass „Beschleunigung“ und „Komplexität“ zu oberflächlichen Schlagworten geworden sind mit geringem analytischen Wert. Es sind unscharfe Worthülsen, in die sich sehr unterschiedliche und verschiedenartige Phänomene unserer Gesellschaft hinein packen lassen. Die gewachsenen Freiräume für „Easy-going“, für Geselligkeit, Freizeit und Sport sind dabei noch gänzlich außen vor gelassen. Die Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft, ihr Wandel durch technische Entwicklungen, Zuwanderung, kulturelle Vielfalt usw. ist unübersehbar. Die Frage ist nur, ob oder wem das Angst macht und ob oder wann wir es einfach als Gegebenheiten einer neuen Zeit, unseres Heute, ansehen können mit (wie immer) vielen Chancen und Gefahren, die zu ergreifen und auszutarieren („work-life-balance“) am Einzelnen liegt. That’s life.

Die beliebten Begriffe „Beschleunigung“ und „Komplexität“ gaukeln eine analytische Kraft vor, die der Nachprüfung nicht stand hält. Es sind Schlagworte, Begriffsblasen, die allenfalls etwas Diffuses anzeigen, aber nichts erklären. Sie wie Selbstverständlichkeiten zu benutzen und in der Argumentation stillschweigend voraus zu setzen, macht nichts besser und klarer. Vielleicht sollten wir eine Weile auf sie verzichten.