[Kultur]
Wir leben in der Postmoderne, sagt man. Das bedeutet ideologiefrei, pragmatisch, in realistischer Einschätzung der begrenzten Möglichkeiten dieser Welt, selbstbezogen mit dem Anspruch, daraus in jedem Fall das Beste zu machen, zu mindest das Beste für sich selbst. Orientierung an der eigenen Karriere („Lean in!„) schließt Ungebundenheit und Lustbetonung nicht aus: Um Work-Life-Balance geht es. Und ansonsten: „Everything goes.“ Politik ist nicht besonders angesagt, eher Technik und effizientes Politik-Management – überhaupt Management. Das ist mehr als nur ein Begriff aus der Ökonomie. Er wird übertragen in den eigenen Lebensbereich: Das eigene Leben managen, heißt: Krieg’s endlich gebacken. Vernetzt sein gehört auch dazu, nicht nur wörtlich, was die aktuellen Gadgets betrifft, sondern ebenso die Freunde. „Beziehungen“ nannte man das früher, soziale Kontakte, oder „Vitamin C“.
Man könnte fortfahren. Man wird dabei spüren, dass es nicht mehr ganz richtig ist, was man da über die aktuelle Zeit schreibt. Es hat sich etwas verändert. Das Gesagte stimmt so nicht mehr. Es gibt schrille Zwischentöne. Die Harmlosigkeit im Umgang mit der Zukunft (wird schon weiter gehen wie bisher) und die Hoffnung auf die grenzenlosen Möglichkeiten der Technik (alles machbar) ist geschwunden oder zumindest sehr gebrochen. Ursachen dafür? Sicher vielfältige. Markante Symbole dieser Veränderung sind aber mit den Hashtags #snowden und #internetkaputt gekennzeichnet. Und dann der nächste Schlag: #ukraine, #krimkrise. Militärische Bedrohung, Sanktionen, Krieg? Nein, beileibe nicht, aber unmöglich? Das bisher Undenkbare wird auf einmal wieder denkbar: In Europa könnte die lange Phase des Friedens und der rechtlich, vertraglich geregelten Konfliktbewältigung zu Ende gehen.
Bisher war da allenfalls der Islamismus, aber den wähnte man doch weit weg. Und wegen der paar potentiellen Terroristen im eigenen Land musste man sich nicht allzu großes Kopfzerbrechen machen. Die islamistische Szene in DE scheint gut im Blick und einigermaßen sicher im Griff zu sein. Aber anderes beunruhigt viel mehr: Das enthusiastisch gefeierte Netz hat seine Unschuld verloren. „Internet kaputt“ – ein Menetekel. Aber auch hier ist die Schnüffelpraxis der NSA nur die eine, oberflächliche Seite der Medaille. So nach und nach dämmert es, was „das Netz“, zumal das „Netz der Dinge“ (smart home usw.), alles mit sich bringt an Datenerfassung und Auswertungsmöglichkeiten. Da kommen noch einige Fragen und zu lösenden Probleme des Daten- und Persönlichkeitsschutzes auf uns zu, gerade auch im Bereich des Arbeitsrechts.

Nicht erst seit der Krimkrise, aber vor allem im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine, in der EU und seitens der russischen Politik werden auf einmal wieder ganz andere Töne laut, Ansichten und Befindlichkeiten, die man längst in der vielzitierten „Mottenkiste der Geschichte“ wähnte. Nationalstolz, Volksseele, ureigenster Kern der Nation, Korrekturen der Geschichte, Wiedererstehung eines Großreiches, der umstürzende Segen der Gewalt. Man traut seinen Ohren nicht. Als ich den Artikel des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew las: „Die Krim ist Putins Meisterstück„, stockte mir förmlich der Atem. Ist es denn möglich, so begeistert und offenbar ohne jedes Arggefühl von der Größe Russlands, der russischen Seele, die der Westen sowieso nicht verstehe, und dem wieder auferstehenden „Dritten Rom“ zu schreiben?
Darin dass man den „alten Westen“ (wohl in Abwandlung der Rumsfeld-Diktion vom „alten Europa“) getrost ignorieren könne, weil er völlig irrelevant sei, ist sich Jerofejew mit einem Vertrauen und Ideengeber des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan einig. Yigit Bulut sieht den Abschied von Europa gekommen („Wir brauchen es heute nicht mehr.“) und das Osmanische Reich allmählich wiedererstehen.
Bulut betonte, die Weltordnung werde künftig von drei globalen Machtzentren bestimmt: Neben den Vereinigten Staaten als „neuem Westen“ werde es einen aus Russland, der Türkei, dem Nahen Osten und Eurasien bestehenden Block geben. Das dritte Zentrum bestehe aus China, Indien und Iran. Europa werde in dieser Machtverteilung keine Rolle mehr spielen. … Er vertritt die Ansicht, dass die Türkei eine aufstrebende Macht sei und dass Europa diesen Aufstieg verhindern wolle.
Alles Spinner? Nur merkwürdig, dass diese Töne plötzlich deutlich vernehmbarer werden in Worten und Gedanken, die man lange nicht mehr gehört hat. Wenn man dazu die zentrifugalen Kräfte innerhalb Europas berücksichtigt – die Uneinigkeit der Nord- und Süd-EU, die inzwischen wieder recht holprige „Harmonie“ zwischen Paris, London und Berlin, dann will einem nichts mehr unmöglich scheinen. 1914 wird sich nicht wiederholen, weil sich Geschichte nie wiederholt. Aber altes, längst überwunden geglaubtes Gedankengut, irrationale Träume von Macht und Größe, von Selbstreinigung durch den Einsatz von Gewalt, Mythen vom uralten Recht und uralten Kern einer Nation und ihren Ansprüchen, geschichtsmächtige Symbole (die „Fahne“, „Rom“) werden beschworen – wer hätte das vor wenigen Jahren für möglich gehalten? Dass in den USA schon länger voraufklärerische nationalreligiöse Mythen fröhliche Urstände feiern („tea party“), ist ebenfalls schon länger bekannt.
Demgegenüber fällt die pragmatische Nüchternheit der Bundesregierung geradezu angenehm auf, GroKo hin, GroKo her. Andererseits fällt einem zu solch naiven, unpolitischen und geschichtslosen Überlegungen wie denen des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel („Kühle Ironie der Geschichte“) schon gar nichts mehr ein, – als könnte man dadurch die Verwirrung nicht noch größer machen. Dass man so oft den Kopf schütteln muss, gibt mir dann doch zu denken.
Dieser Trend, wenn es denn ein anhaltender Trend werden sollte, ist ein gefährlicher Trend, ein Spiel mit alten Feuern und Verführungen. Dies Spiel wurde und wird in aller Welt immer wieder gespielt. Dass es das „noch“ gibt, ist nicht verwunderlich, – dass es das nun wieder mitten in Europa gibt mit Regierungen (Ungarn, Rumänien), die auf autoritäre Führung und Nationalstolz setzen, erst recht aber in Russland und in der Türkei, das lässt schon erstaunen. Statt in die Postmoderne scheinen wir stracks in die Vormoderne zu marschieren. Die Neuauflage wäre bitter, denn was sich wiederholt, wäre allenfalls eine Groteske. Aufpassen sollten wir allerdings schon, welche Geister da am Werke sind, damit nicht wirklich aus der Postmoderne eine Vormoderne wird. „Vormoderne mit Internet“, irrationale nationale Mythen und Blüten verbunden mit den technischen Fähigkeiten totaler Vernetzung, das wäre tatsächlich etwas Neues. Die Frage wird sein, wer da am Ende die Strippen – und den Nutzen zieht.