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Russland – Mythen

[Politik]

Blickt man auf Russlands jüngere Geschichte – und nicht nur auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine -, so tut sich ein Abgrund auf: Ein Abgrund von Verdrängung, Geschichtskonstruktion, Abschottung und Machtphantasien. Die Ereignisse auf der Krim und die gegenwärtige Zuspitzung in der Ukraine scheinen da nur so etwas wie die Spitze eines Eisberges zu sein, oder besser, wie Kristallisationspunkte, an denen sich Angestautes und Unbewältigtes mit irrationaler Kraft Ausdruck verschafft. Hinter dem scheinbar Offensichtlichen und als „Nachrichtenlage“ Greifbaren liegen Untergründe, die die Befindlichkeiten, Sehnsüchte und Ängste, Mythen und Geschichtserzählung in Russland und jeweils ganz verschieden in der Ukraine prägen. Diese Hintergründe sind offenbar von weitaus größerer Bedeutung als hierzulande überhaupt bekannt.

Das übersehen offenbar diejenigen, die sich beflissen um ein möglichst großes Verständnis für Russland bemühen („Russlandversteher“) ebenso wie die allzu Eifrigen, die nach Gegenmaßnahmen und harten Reaktionen rufen nach dem Motto: „Bis hierher und nicht weiter.“ Wenn Christian Bangel in der ZEIT eine Debatte, in der klare Positionen bezogen werden, nur noch „zum Gruseln“ findet, offenbart das ein merkwürdiges Diskussionsverständnis. Wie anders sollte man denn diskutieren wenn nicht über unterschiedliche, gegensätzliche Positionen? Der jeweils anderen Seite gleich die Diskussionsfähigkeit abzusprechen, zeigt wenig Lernfähigkeit und kaum streitende Konfliktbereitschaft.

Viel mehr zu denken gibt der lange Artikel von Timothy Snyder über „Putins Projekt“ (FAZ.NET). Snyder ist als Historiker anerkannter Fachmann für Neuere Geschichte insbesondere Osteuropas und des Stalinismus.

For the academic year 2013–2014, he has been the holder of the Philippe Roman Chair of International History at the London School of Economics and Political Science. He is also affiliated with the Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Vienna and the College of Europe in Natolin, Poland. Mr. Snyder is a member of the Council on Foreign Relations. Snyder is a member of the Committee on Conscience of the United States Holocaust Memorial Museum and is on the editorial boards of the Journal of Modern European History and East European Politics and Societies. (Wikipedia)

Der ausführliche Rückblick auf die Geschichte Russlands und der Ukraine trägt viel dazu bei, tief eingewurzelte Geschichtsmythen, Fronten und Propaganda-Elemente wieder zu erkennen und in ihren gegenwärtigen Auswirkungen ansatzweise zu verstehen. Auf einmal ist dann die bisher nur nebenher wahrgenommene Berührung mit der Neuen Rechten sowie der Alten Linken in Europa nur allzu deutlich und in ihren Motiven erklärbar. Gewiss sind das nicht die einzigen Motive, aber vielleicht doch wesentliche, die in der „Mitte der Gesellschaft“ recht befremdlich wirken. Man lese vor allem den letzten Teil von Snyders Essay mit dem starken Europawahl – Bezug:

Mehr als irgendetwas sonst verbindet die russische Führung und die extreme europäische Rechte eine elementare Unaufrichtigkeit, eine derart fundamentale und auf Selbsttäuschung basierende Lüge, dass sie das Potential besitzt, eine ganze Friedensordnung zu zerstören.
Ein vereintes Europa kann und wird wahrscheinlich auch angemessen auf einen aggressiven russischen Petrostaat reagieren, während eine Ansammlung zerstrittener Nationalstaaten dies nicht kann.
Eine Stimme für Strache oder Le Pen oder auch für Farage ist unter diesen Umständen eine Stimme für Putin, und eine Niederlage für Europa ist ein Sieg für Eurasien.

Teheran-Konferenz
Stalin, Roosevelt, Churchill (Wikimedia)

Ganz anders, betroffen machend ist der literarische ‚Ausbruch‘ von Svetlana Alexijewitsch, die im vergangenen Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Den verschiedenen Seiten der Diskussion täte ein Hören dieser russischen Stimme gut. Die Verzweiflung und das Entsetzen darüber, dass Russland erneut an einer Wende steht und sich weg von Europa, weg von Aufklärung und Moderne  in eine selbst gewählte Isolation zu bewegen anschickt, aus der nur noch Gewalt nach innen und außen als ‚Ausweg‘ sichtbar würde, drückt sich in ihren leidenschaftlichen Worten aus:

Die Sprache der Gewalt durchtränkt das ganze Leben. Morgens schaltet man den Computer an und liest immer das Gleiche: Die Russen kommen, die Russen haben sich erhoben. Überall, wo Gewalt wieder ein Ideal ist, findet sich auch ein Karadžić, der die Leute davon überzeugt, dass man mit der Maschinenpistole Gutes tun kann.

Wohin treibt Russland? Statt Reformen wählen wir den Krieg. Der Durst, verlorenes Land zurückzugewinnen, kann Millionen Menschen um den Verstand bringen.
Die Welt wird nie mehr die gleiche sein. Putin hat die Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, in die Luft gesprengt.

Man sollte dieses hören, die geschichtlichen Hintergründe ebenso wie die Betroffenheit. Man muss noch mehr und anderes hören. Es könnte der heutigen Diskussion zu mehr Ernsthaftigkeit verhelfen.

Update:

Die handfesten Interessen Russlands in der Ukraine werden von Thomas Gutschker detailliert beschrieben: Das sowjetische Erbe lockt, FAZ.NET