[Mensch]
Die Frage, warum der Mensch immer wieder bereit ist, gegeneinander Krieg zu führen, zu bedrohen, zu bekämpfen, zu töten, ist offenbar so alt wie die Menschheit. Der Homo sapiens ist stets auch der Homo bellicus. Eine endgültige Antwort auf diese Menschheitsfrage gibt es nicht, kann es nicht geben. Der Mensch ist ein sehr vielseitiges, zugleich widersprüchliches und konsequentes Wesen. Seine Lebensverhältnisse wandeln sich ständig und erfordern Anpassung sowohl des Einzelnen als auch einer menschlichen Gemeinschaft. Versuche einer Antwort gibt es aber viele.
Man könnte diese Versuche, die Frage nach dem kriegerischen Menschen zu beantworten, in drei Kategorien einteilen: Es werden metaphysische, gesellschaftliche oder individuelle Gründe angeführt. Wohlgemerkt, es geht um Voraussetzungen, Ursachen und Gründe der Bereitschaft und Fähigkeit des Homo bellicus, es geht hier nicht um die Ursachen und Gründe einzelner Kriege oder gewaltsamer Auseinandersetzungen. Das wäre ein anderes, eigenständiges Thema.
Metaphysische Voraussetzungen für die menschliche Kriegsfähigkeit nenne ich solche, die Streit und Krieg unter Menschen unabhängig von ihren konkreten Anlässen und Bedingungen auf einen Krieg auf höherer Ebene zurückführen. Das können Kriege unter Göttern sein, die sich in Kriegen von Königen und Priestern und ihrem Volk widerspiegeln (Babylon, Altes Ägypten, Israel). Es kann ein metaphysisches Prinzip als Ursache angeführt werden, zum Beispiel der Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und den Mächten der Finsternis, aber auch der Zwiespalt zwischen gleichsam gegensätzlichen, dualistischen Weltprinzipien wie Ying und Yang, Himmel und Hölle, göttlichen Lichtfunken und finsterer Materie oder als Ausdruck dialektischer Geschichtsmetaphysik. Schließlich kann der Krieg als Ausfluss des Kampfes zwischen Gott und Seele interpretiert werden, dann geht es um den großen und kleinen Dschihad sozusagen, ein Gedanke, den auch schon der Kirchenlehrer Augustin vorgeprägt hat als Kampf und Krieg der reinen, wahren Gläubigen der Kirche gegen die gottfeindlichen Mächte des Antichrist. All diesen metaphysischen Begründungen des Krieges ist einiges gemeinsam: Der kriegerische Mensch ist nur Spiegelbild, Werkzeug gar eines viel größeren und umfassenderen Krieges der übernatürlichen Welt. Er kann letztlich „nichts dafür“, dass er in Kriege verwickelt wird. Es geht vielmehr um die Erkenntnis des gerechten Krieges und des notwendigen Kampfes, den der Mensch aufgrund seiner (vorausgesetzten) Bestimmung halt auch mit irdisch-gewaltsamen Mitteln auszufechten hat. Jahrhunderte lang wurden und werden in verschiedensten Kulturen die unterschiedlichsten Arten solcher metaphysischer Begründungs- und Rechtfertigungsstrategien für den Homo bellicus entwickelt. Mir scheinen es Versuche zu sein, das ebenso Unleugbare wie Unvermeidliche des Krieges ‚Mensch(en) gegen Mensch(en)‘ irgendwie zu entschärfen und in eine höhere Notwendigkeit einzubetten.
Der in der westeuropäischen Aufklärung gewählte Weg des Verzichtes auf eine jenseitige Welt und damit auf überweltliche Metaphysik musste auch zu anderen Begründungen für den Homo bellicus, also für das kriegerische Wesen des Menschen führen. An die Stelle der Metaphysik traten (meist in der Nachfolge Hegels) große Geschichtsentwürfe, die einmal das Bürgertum, ein andermal das Proletariat zu treibenden, auch Krieg treibenden Kräften der Entwicklung der menschlichen Geschichte auf dem Weg zu einem höheren Status erklärten. Die Idee des Fortschritts der Menschheit, der stetig aufwärts gerichteten Entwicklung der Geschichte als Geschichte der Selbstvervollkommnung des Menschen schloss und schließt notwendig auch Kampf und Krieg ein: gegen die beharrenden Kräfte des Alten, gegen Widerstände überholter Strukturen und ihrer Profiteure im Interesse des allgemeinen Fortschritts. Man denke nicht, die Zeit dieser großen alten, gewissermaßen klassischen Ideologien sei vorbei. Wir erleben sie heute nur in neuem Gewand. Die Idee der durch Kämpfe herzustellenden „großen Harmonie“ seitens der chinesischen Machtelite gehört ebenso hierher wie die notwendig und im Interesse des Fortschritts agierenden zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus (Schumpeter) und seiner Erneuerung und Umgestaltung der Welt zu einem einzigen allumfassenden „freien Markt“, – und ebenso die heutige Silicon-Valley-Ideologie der andauernden „disruptiven Innovation“. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ – mit „uns“ ist damit die jeweils unterschiedlich akzentuierte Vorhut der fortschrittlichen Menschheit gemeint – ehemals in Moskau, heute mehr in San Francisco. Sie gilt als so unaufhaltsam, dass Krieg und Kampf (ökonomisch, kulturell und eben auch militärisch) nur der Preis für uferlos freie Märkte und schrankenlosen Gewinn ist. Allmählich werden die Petro-Kriege durch Daten-Kriege (verharmlosend Cyber-War genannt, als wäre es ein Spiel) (1) und ihre mächtigen globalen Akteure ersetzt. In jedem Falle geht es um Ressourcen, um die künftige Verfügungsmacht, um den unaufhaltsamen Fortschritt mit Glücksverheißung für alle: „Don’t be evil!“. Russlands derzeitige militärische Aggressivität scheint da auf verlorenem Posten zu stehen – irgendwie von gestern, was nicht weniger gefährlich sein kann (2). – Diesen geschichtsmetaphyischen, gesellschaftsideologischen Begründungs- und Rechtfertigungsmodellen des Homo bellicius ist das Bewusstsein gemeinsam, Teilnehmer an einer grandiosen Geschichte zu sein, die sich unaufhaltsam verwirklicht und einem Glückszustand entgegen strebt, der zwar allen verheißen, für den aber nur wenige auserwählt sind. Dieser Fortschrittsidee ist als Bewusstsein, auf der „richtigen“ Seite der Geschichte zu leben, nahezu jedes Mittel recht. Kriege, Vernichtung der Gegner und Beseitigung von Widerständen gehören unvermeidlich dazu. Bisweilen wirkt diese Strategie der Rechtfertigung wie ein Ansporn.

Bei der dritten Kategorie geht es um Begründungsmodelle des Homo bellicus, die im einzelnen Menschen selber fest gemacht werden. Es kann dabei auf die animalische Basis des Menschen verwiesen werden, auf seine evolutionäre Naturgeschichte, die für das Individuum den Kampf ums Überleben und Anpassung um jeden Preis notwendig und unausweichlich macht. Es kann die Triebstruktur des Menschen heran gezogen werden, seine unvermeidliche Aggressivität, die auf Konkurrenz oder Frustration reagiert; auf Neidkomplexe, Habgier, Egoismus, sexuelle Gewalt usw. Hier könnten all die Tugend- und als Umkehrung davon, die Lasterkataloge früherer Jahrhunderte beigezogen werden. Nach diesen individualistischen Erklärungsmodellen ist der Mensch ein zutiefst durch seine unbewusste Natur geprägtes gewalttätiges Lebewesen, das gefährlichste Raubtier auf der Erde. Gegenstrategien dienen dann der Aufdeckung und Umlenkung latenter Gewaltphantasien in produktive, selbstheilende und gemeinschaftsfördernde Verhaltensweisen. Das Übel des Krieges wird im unbewältigten Dunkel der eigenen Persönlichkeit gesehen, die es aufzuklären und zum Beispiel durch meditative Praktiken aufzulösen gilt. Findet der Einzelne seinen Frieden, wird auch die Menschheit friedlich und glücklich sein. Viele Religionen verfolgen diesen Weg.
Es gibt noch viel mehr Erklärungsversuche, warum der Krieg in die Welt kommt und der Mensch als Homo sapiens eben immer auch ein Homo bellicus ist. Ich bin einigen Haupttypen nachgegangen, die Liste ist natürlich nicht vollständig. Es sind Beispiele, die zeigen, wie die Tatsächlichkeit von Streit, Krieg, Tod und Vernichtung unter Menschen doch immer wieder als rätselhaft, als erklärungsbedürftig empfunden wird. Denn eigentlich wollen doch alle nur zufrieden sein, – wenn da nicht der böse Nachbar wäre… Alle diese Modelle der Ursachen und Gründe einer weithin kriegerischen Welt, in der gewaltsames Leiden und Tod täglich gegenwärtig sind, haben vielleicht jeweils etwas Richtiges im Blick. Auf jeden Fall ist es aber wahr, dass die Verwicklung des Menschen und der Menschen in Krieg, Gewalt, Foltern, Töten unüberschaubar vielfältig und insofern „multikausal“ verursacht ist. Es bleibt dennoch als etwas letztlich Unerklärliches, Unbewältigtes bestehen. Noch unerklärlicher erscheint dann besonders die Lust am Töten, der Rausch des Blutes, die exzessive Gewalt, die keine Grenzen kennt. Ebenso unbegreiflich ist es, dass es immer wieder gerade auch vormals friedliche „normale“ Menschen überkommt – wenn die Umstände danach sind. Jeder Völkermord hat Täter, die – auch nur Menschen sind. Das ist ein Erratum: ein unauflösliches Faktum.
Die Rätselhaftigkeit dieser Struktur des Menschen als Homo bellicus anzuerkennen erscheint mir jedenfalls angemessener als all die verschiedenen Erklärungsversuche für sich genommen. Andererseits ist die Suche nach Erklärungen unvermeidlich; sie drängt sich auf. Vielleicht kommt man dennoch zum Ergebnis, dass diese Frage nach der Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen zum Krieg, zu Vernichtung und Töten anderer Menschen letztlich unbeantwortbar bleibt. Kriege werden von Menschen geführt, „gemacht“. Dass es sie gibt, scheint zu unserer conditio humana, zu unserem Dransein als Menschen zu gehören – eine Erkenntnis, die zu selbstkritischer Mäßigung und zu rationaler Bescheidenheit zwingt.
Anmerkungen
1) Wer wissen will, worum es geht, schaue The Netwars-Project.
2) Man lese Viktor Jerofejew, Russland in der Offensive, FAZ Dez 2013