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Leben – Ethik des Lebendigen

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer)

[Kultur]

Albert Schweitzer ist kaum mehr bekannt. Dabei ist der 1965 in seiner langjährigen Wirkungsstätte Lambarene (Gabun) verstorbene Arzt, Theologe, Philosoph und Humanist eigentlich erstaunlich aktuell. Seine ethische Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“ prägte sein Handeln und sein Lebenswerk (siehe den Wikipedia-Artikel). Vegetarier können sich auf ihn berufen, heute vielleicht sogar die modischen Veganer. Vielleicht aber auch gerade nicht. Denn dass Schweitzer trotz einer weltumspannenden Ökologie- und Naturbewegung weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hängt vielleicht gerade mit seiner ethischen Formulierung „Ehrfurcht vor dem Leben“ zusammen. Verantwortung für Umwelt, für nachfolgende Generationen, Erhaltung der Artenvielfalt, Sammlung und Bewahrung des natürlichen Genpools, Nachhaltigkeit – sustainability, dies Zauberwort unserer Zeit – , all das sind Stichworte unseres gewachsenen Umweltbewusstseins, wie wir sagen. Die veganische Lebensweise („nichts essen, was ein Gesicht hat“) ist nur die emotionalisierte, etwas naive oder extravagante Ausdrucksform dieser Haltung. Sie passt in die Zeit. „Ehrfurcht vor dem Leben“ – das passt allerdings überhaupt nicht mehr.

Allein schon das Wort „Ehrfurcht“. Es stammt aus einem religiösen oder höfischen Kontext. Es ist altertümlich. Es passt nicht zu dem Selbstverständnis als freie und selbstbestimmte Menschen, deren Bedürfnisse oberste Richtschnur sind. Oft ist diese Freiheit aber nur ökonomische Freiheit, und die Bedürfnisse müssen schon auch Spaß machen. Die weltweite Überwachung mag manche erschrecken und in Alarmstimmung versetzen, weil die persönliche Freiheit und Privatheit verletzt wird, aber wieder ist allenfalls das menschliche Individuum und seine Bedürfnisse und Ansprüche das Maß. Das ist keineswegs falsch, und Wachsamkeit bzw. Protest ist hier offenkundig vonnöten. Nur mit Ehrfurcht hat das alles gar nichts zu tun. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ – Protagoras, gestorben vor 2500 Jahren. Das gilt auch heute. Gestritten werden kann allenfalls darüber, welcher Mensch da gemeint ist: der ökonomische oder der kulturelle, der öffentliche oder der private, der gesellschaftliche oder der individuelle, der fromme oder der säkulare usw. Im Zweifelsfall ist es ein Querschnitt aus all diesen (und noch mehr) Aspekten. Jedenfalls ist der moderne Mensch das Maß unserer Welt, und das „nachhaltig“.

„Ehrfurcht vor dem Leben“ meint etwas recht anderes. Vielleicht trifft es das heute gebrauchte Wort „Achtsamkeit“ etwas besser, das in eine ähnliche Richtung weist. Beide Begriffe, Ehrfurcht und Achtsamkeit, sind relational, sie weisen auf etwas / jemanden anderes hin, gegenüber dem Ehrfurcht oder Achtsamkeit aufzubringen ist. Sie weisen jedenfalls vom alleinigen Maßstab Mensch weg. Während der Begriff Ehrfurcht auf etwas Größeres, Übergeordnetes hinzuweisen scheint, ist „Achtsamkeit“ nicht hierarchisch gemeint. Achtsamkeit gebührt demjenigen Er / Sie / Es, das mir wichtig ist, das ein eigenes Recht hat, das es zu beachten gilt, das auf mein Achtgeben angewiesen ist, wenn es nicht übersehen oder verloren gehen soll. Beide Begriffe scheinen mir komplementär und sehr gut geeignet zu sein, das zu beschreiben, worum es beim Nachdenken über das Leben geht.

Das Wort „Leben“ ist in diesem Zusammenhang mehrsinnig. Frage ich, worum es im Leben geht, so versteht man es allgemein so, dass da von meinem Leben die Rede ist, also worum es mir in meinem Leben geht. Vielleicht schwingt noch eine weitere Bedeutung mit, worum es nämlich im menschlichen Leben überhaupt geht. Worum es im Leben geht, fragt nicht danach, worum es im Leben der Kuh geht. Selbst Leben überhaupt wird zu allererst als menschliches Leben verstanden. Man muss zur Biologie überwechseln, wenn man einen Begriff Leben zu Gesicht bekommen will, der alles Leben umfasst. Allerdings kommt in der Naturwissenschaft sogleich der ordnende, analysierende, erklärende und instrumentelle Geist des Menschen zum Zuge und insofern auch ein Allgemeinbegriff von Leben, welcher der Einordnung („Bestimmung“), Analyse, Erklärung und zielgerichteten Instrumentalisierung  und Manipulation von Leben dient. Eigentlich ist also nicht das Leben Gegenstand der Wissenschaft Biologie und all ihrer heutigen Erweiterungen und Spezialisierungen, sondern Gegenstand sind lebendige Organismen. Das ist nochmal etwas anderes.

Grand prismatic spring
Grand prismatic spring, Yellowstone (Wikimedia)

„Ehrfurcht vor dem Leben“ meint Leben schlechthin, Leben als umfassende Weise des Existierens, des Vorhandenseins von Lebendigem im Unterschied zu Leblosem, Totem. Dieser Allgemeinbegriff von Leben schließt das individuelle Leben ein, geht aber darüber hinaus auf alles Leben, das überhaupt vorkommt und gefunden wird. Ich bin Teil dieses Lebens, darum gilt Schweitzers Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Leben will leben, heißt es hier zurecht. Leben ist kein bloßes Gegebensein, sondern Leben ist ein Prozess. Es ist kein ungeordneter, zielloser Prozess, sondern ein gerichteter. Leben hat ein Ziel: zu leben, am Leben zu bleiben, zu überleben. Leben muss sich also ständig gegenüber dem Nicht-Leben, dem Toten, behaupten. Zudem muss es sich gegenüber anderem Leben bewähren. Leben überhaupt ist, so Schweitzer, Wille zum Leben. Gibt es einen gewissermaßen natürlichen Wert des Lebens, dann ist es zuerst dieser: am Leben zu bleiben. Albert Schweitzer schreibt: „Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.“ „Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen.“ Statt Sittlichkeit würden wir heute sagen: Grundprinzip der Ethik des Lebendigen. Diese Beziehung auf das Ganze des Lebens, das mich umgreift und über mich hinaus geht, meint der Begriff Ehrfurcht. Man kann dieser Richtung der Aussagen Schweitzers durchaus heute folgen.

Das Ganze des Lebens bedarf meiner Achtsamkeit. Es ist damit zu allererst das Achten darauf gemeint, dass es neben meinem Leben noch anderes Leben gibt, dass da noch andere Menschen sind. Aber es meint ebenso sehr, dass da noch anderes Lebendiges ist, das nicht Mensch ist, das vielleicht auch keinen Zweck für den Menschen erfüllt, das einfach anders da ist als etwas Lebendiges. Genau darauf gilt es zu achten: nicht weil es mir, dem Menschen, in irgendeiner Weise dienlich ist, ich darin also irgendeinen Zweck erkennen kann, sondern einfach weil es als anderes Leben da ist und neben mir, mit mir, gegen mich und ohne mich lebt. Achtsamkeit ist besonders nach unten gerichtet, nach dem, was anfällig, hilflos, übersehen, verloren scheint. Auch Achtsamkeit hat das Ganze, den Zusammenhang, den Prozess des Lebendigen im Blick, aber mit besonderer Aufmerksamkeit für das bedrohte Leben, das an das Nicht-Leben, das Tote, verloren gehen könnte. Schweitzer hatte das ebenfalls im Blick. Insofern halte ich beide Begriffe, Ehrfurcht und Achtsamkeit, für komplementär: Ehrfurcht schaut auf den Zusammenhang des Lebendigen, sofern es mich umgreift und mir „über“ ist (vielleicht oft auch überlegen ist), Achtsamkeit schaut auf den Zusammenhang des Lebendigen, sofern es von mir übersehen wird, mir untergeordnet zu sein scheint, sofern es ohne meine Achtung jeden Wert und schließlich sein Lebendigsein verliert. Beide Begriffe überschneiden sich in dem dritten Begriff Respekt. Darum geht es, um den Respekt vor dem Leben, um das Respektieren alles Lebendigen.

Leben gab es nicht immer und gibt es nicht überall. Der Kosmos ist, soweit er uns heute außerhalb der Erde bekannt ist, leblos. Leben hat sich auf der Erde zu einer bestimmten Zeit entwickelt. Wir kennen zwar recht genau den Zeitraum, wann auf der Erde das Leben entstand (vor 3,9 – 3,5 Milliarden Jahren, also ungefähr eine Milliarde Jahre nach der Entstehung der Erde selbst), aber bis heute gibt es kein zuverlässiges Wissen darüber, wie genau das Leben entstanden ist, es gibt nur verschiedene Theorien. Als Leben bezeichnen wir das, was stofflich abgegrenzt, organisiert, auf Stoff- und Energiewechsel beruhend und sich selbst vervielfältigend, also fortpflanzend existiert. Wir kennen nur Leben auf der Basis von Kohlenstoff, eingebunden in RNS und DNA (Ribonukleinsäure und Desoxyribonukleinsäure). Unsere Kenntnisse der besonderen atomaren Struktur des Kohlenstoffs lassen es fraglich sein, ob überhaupt anderes als kohlenstoffbasiertes Leben möglich ist. Auch eine Reproduktion der Entstehung von Leben im Labor ist bisher nicht gelungen. Das ist nicht weiter erstaunlich, da der Prozess der wirklichen Entstehung von Leben noch völlig im Dunkeln liegt. Theorien allerdings gibt es manche. In den Bereich der Spekulation gehören dagegen alle Überlegungen, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen anderswo als auf dem Planeten Erde Leben vorhanden ist. Vieles scheint für diese Möglichkeit zu sprechen , manches aber auch gerade nicht. Es müssen nämlich schon sehr spezielle Bedingungen vorliegen. Spekulationen über außerirdisches Leben helfen solange nicht, wie nirgendwo solches Leben entdeckt ist. Bisher wurde da nichts gefunden. Es besteht also die Möglichkeit, dass es Leben nur auf dieser Erde gibt.

Die Frage der Wissenschaften, wie Leben entstehen konnte, lässt noch völlig außer Acht zu fragen, warum Leben entstanden sein könnte. Die Warum-Frage wird von der Naturwissenschaft meist abgelehnt, weil die Theorie der zufälligen Evolution aufgrund des Kausalnexus nur ein Wie, aber kein Warum und Wozu als Frage zulässt. Aber natürlich dürfen wir so fragen, wir müssen es sogar. Leben will leben, sagten wir, und da liegt die Frage ja nahe: Warum will es leben, wozu will es leben? Warum dieser Drang des Lebens, sich gegenüber dem Nicht-Leben, dem Rückfall ins Tote zu behaupten? Was zeichnet Lebendiges gegenüber unbelebter Materie aus? Ist es nicht genau diese Gerichtetheit, diese Ausrichtung auf Lebenbleiben, auf Selbsterhaltung und Weitergabe dessen, was eine konkrete Lebensform jeweils ermöglicht, des Erbgutes? Solange die Naturwissenschaft nur die Frage der Kausalität (mit allen Spielarten des Zufalls, der Determination, der Selbstorganisation, der Entropie usw.), also der Herkunft des Lebens zu erhellen sucht und die Frage der Finalität, also des Ziels, vorsichtiger gesagt, der Gerichtetheit, der Entelechie des Lebens unbeantwortet lässt, ist das Ganze des Lebens, ist der Gesamtprozess des Lebendigen noch nicht recht in den Blick genommen. Auch diese Blickrichtung der Finalität muss rational verantwortet werden und also nach wissenschaftlichen Regeln erfolgen und sollte nicht weltanschaulichen Spekulanten überlassen bleiben. Es wäre allerdings eine erweiterte Fragestellung und Begrifflichkeit der Wissenschaft notwendig, die über das eng gefasste und nahezu dogmatisch verteidigte Weltbild der heutigen Naturwissenschaften hinaus geht.

In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis von Gattung und Individuum genauer zu klären. Dem allgemeinen Leben, dem Leben in freier Wildbahn sozusagen, komme es nur auf die Erhaltung der Art an, sagen die Biologen, sagen wir leichthin, um aber sofort darauf hinzuweisen, dass das bei intelligenten Lebewesen wie dem Menschen natürlich nicht mehr so gelte, denn da stehe das Individuum und sein individuelles Recht auf Leben und Unversehrtheit, eben mit den Menschenrechten auf dem Plan. Woher wissen wir das so genau, dass das Recht auf Individualität nur für Menschen gilt? Zeigen uns nicht die Verhaltensforscher sehr deutlich, wie ähnlich tierisches und menschliches Verhalten in vielerlei Hinsicht ist, besonders unter den Primaten, aber keineswegs nur dort? Warum sollte es nicht tierische Individualität mit gleichem Recht geben wie menschliche? Damit fangen die ethischen Fragen erst an. Genauso spannend wäre zu fragen: Wann und womit begann die Differenzierung zwischen Gattung, Gruppe und Einzelnem? Was ist die Intelligenz, gar die „Individualität“ der Biene oder Ameise – und kann man so überhaupt berechtigt fragen? Wie spielt die Entstehung und Bewertung von Bewusstsein, insbesondere von Selbstbewusstsein da hinein? Auch bei diesen Fragestellungen würden die Abgrenzungen sicher irgendwo konkret zu ziehen sein, aber ganz gewiss nicht zwischen Menschen und allen übrigen Lebewesen verlaufen. Es sind hier sehr viele Fragen offen, Begriffe und Sachverhalte zu klären und eine gerechtfertigte Theoriebildung zu leisten. Auch die Bewusstseinsforschung (des Lebendigen!) steht da erst am Anfang. Man sollte darauf achten, dass nicht die Prämissen so eng gefasst und die Prinzipien der Erkenntnis kategorial so zugeschnitten werden, dass nur Altbekanntes heraus kommen kann.

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Dieser Satz enthält viel Wahrheit. Er enthält zudem das vielleicht spannendste Programm, dem unser Wissen und Fragen sich verschreiben kann.  Genau genommen ist es die Frage nach der Gerichtetheit, der Finalität des gesamten Kosmos. Das Universum hat Leben und Bewusstsein hervorgebracht. Wozu, mit welchem möglichen Ziel? Der Satz Albert Schweitzers ist weit mehr als nur eine ethische Maxime, aber immer hin auch das. Mit Ehrfurcht vor dem Leben und Achtsamkeit, Respekt gegenüber allem Lebendigem wäre schon viel gewonnen.

Update 21.09.2014:

Gestern erschien im FAZ.NET ein sehr lesenswerter Artikel zum Thema Tierethik von Jörg Albrecht unter dem Titel „Schreien Fische stumm?“