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Leben und Wissen

Was einem die Zeit des Lebens als Zusammenhang erschließt.

[Kultur, Wissen]

Wissen wandelt sich. Es fällt mir schwer, die vielen Veränderungen um mich herum wahrzunehmen und in einen Zusammenhang zu bringen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen verändert sich tatsächlich viel. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es wirklich mehr ist als in früheren Jahren. Es könnte auch nur so scheinen. Denn das ist das Zweite: Ich nehme eine Vielzahl von Lebensbereichen im näheren und weitern Umfeld wahr, und meine Aufmerksamkeit richtet sich auf mehr Unterschiedlichkeiten und Einzelheiten als früher. Das hängt, dessen bin ich mir ziemlich sicher, mit meinem Status als Nicht-Berufstätiger zusammen. Ich vermeide den Ausdruck Ruheständler, weil ich von einem Stand der Ruhe eigentlich nichts merke, im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit hat sich nur verschoben von den unmittelbaren Dingen, die sich früher mit der Berufstätigkeit verbanden, zu den Dingen des weiteren und ferneren Lebens, der Politik und Gesellschaft, der Wirtschaft und Wissenschaft, der Kultur und Natur. Es gibt da weniges, was mich nicht interessiert. Mir scheint, mit der Zeit wächst die Neugier und der Wissensdurst immer stärker. Schließlich ist da ein Drittes, das mit dem größeren zeitlichen Überblick zusammen hängt, den man mit den Lebensjahren bekommt: Man hat schon viele Dinge und Verhältnisse kommen und gehen gesehen, das relativiert manche Begeisterung über scheinbar Neues. Und man ahnt Zusammenhänge, Verbindungen und größere Linien zwischen Entwicklungen, die man bisher überhaupt nicht erwogen hat.

Gerade dies Letztere ist mit einem hohern Maß an Interpretation und Konstruktion verbunden. Zusammenhänge und Verbindendes, Linien der Entwicklung und Abbrüche fallen einem nicht von selbst auf den Schirm. Man erfährt sie auch selten aus den Medien, noch seltener im Gespräch oder in den Kontakten über soziale Medien. Diese sind ohnehin eher Gesprächs-Surrogate. Man lernt Verbindungen herzustellen, Linien zu ziehen am ehesten durch die Lektüre von Büchern. Dabei sind es dort wiederum weniger die thematisch expliziten Darstellungen der Zeitgeschichte oder ihrer verschiedenen Teilbereiche als vielmehr schöne Literatur, dann vor allem auch Fachliteratur, detaillierte Darstellungen bestimmter Problembereiche in einzelnen Sparten menschlichen Wissens und organisierter Wissenschaft. In den meisten Bereichen bleibt man auf „populäre“ (1) Darstellungen angewiesen, die sich an das allgemeine, größere Publikum richten und die eben nicht ausgewiesene Fachliteratur ist. Nur im eigenen Fach mag man auch spezielle Fachliteratur verfolgen und verstehen. Aber auch solche detailreichen und sachlich genauen Einzelstudien, so interessant und packend sie sein mögen, vermitteln einem selten den Überblick über einen größeren Bereich des Lebens und Wissens.

Die „Zusammenschau“ ist im Wesentlichen die Sache des Lesers und des Mit- und Nachdenkenden. Ich selbst bin es, dem auf einmal Zusammenhänge auffallen – oder vielmehr einfallen, der Verbindungen sucht und Linien zieht und dem sich dann und wann Strukturen zeigen und größere Muster des Verhaltens und der irgendwo im Gewusel der zahllosen Einzeldinge, Einzelereignisse und partikularen Tatsachen einen Faden entdeckt, den er vermutet und gewissermaßen gesucht oder sogar geknüpft hat. Ein solches Verständnis wächst, es entsteht allmählich aus vielen Einzelbeobachtungen und Detailkenntnissen und scheinbar oft ganz anders orientierten Literaturen. Dies Verständnis von Zusammenhängen ist auch keineswegs ein bloß theoretisches, denn es erwächst aus den konkreten Lebensvollzügen, aus der Praxis und Erfahrung des Miteinanderlebens, der Kenntnis des Vertrauten und der Entdeckung des Neuen, Unbekannten, wie es auf manchen Reisen geschehen kann. Immer sind hier Begegnungen mit anderen Menschen entscheidend. Erst auf diesem Hintergrund – als Metapher weniger der flache Hintergrund eines Bildes als der quirlig bunte Hintergrund einer Großstadtstraße – treten beim Nachdenken und Innehalten Zusammenhänge und Verbindungen ans Licht, die man vorher nie gesehen hat.

Manchmal, oft sind es sehr bekannte Zusammenhänge, die man bisher nur vom Hörensagen kannte, nun aber lebensmäßig und dann auch theoretisch als Wissen nachvollziehen kann. Bisweilen sind es aber auch ganz neue, unerwartete Verknüpfungen, die sich einem aufdrängen und von denen man noch nie gehört und gelesen hat, ja deren Verbindungen einem dennoch ganz nahe liegend und selbstverständlich erscheinen, so dass man sich wundert, dass man davon noch nirgendwo erfahren hat. Ab und an geschieht es dann, zugegeben recht selten, dass man einen Gedanken gefasst und hin und her bewegt hat, sich fragt, warum man mit diesem Gedanken offenbar ganz alleine da steht – und dann plötzlich in einem Buch genau diesen Gedanken vorfindet. Das ist dann ein Grund zu großer Freude, als hätte man einen alten Freund getroffen. Zugleich zeigt es, dass man als normaler Mensch selten oder gar nie etwas wirklich Neues denkt oder sieht; das Meiste ist doch schon irgendwo gedacht, gesagt, geschrieben oder kunstvoll dargestellt worden. Wirklich Originelles ist rar. Wenn man es entdeckt, egal ob bei anderen oder sich selbst, ist es wie das Auffinden eines Schatzes. Es erscheint einem dann als ein Schlüssel, mit dem sich auf einmal Türen zu Räumen öffnen lassen, die einem bisher verschlossen und rätselhaft waren. Andererseits ist die Freude oft von kurzer Dauer, denn die Zahl der ungeöffneten Türen wächst mit jeder geöffneten, oder in den bekannten Worten: Je mehr man zu wissen meint, desto größer ist die Menge des Unwissens. Vielleicht ist es dies, dass die Neugier, manchmal auch Ungeduld, immer weiter wachsen lässt.

Evolution
Evolution – Wikimedia

Um nicht nur in allgemeinen Betrachtungen stecken zu bleiben, hier noch einige Konkretionen. Im Bereich der Politik, die es ja immer mit Macht und Machtverhältnissen zu tun hat, empfinde ich bisweilen fast tektonische Erschütterungen. Das gilt weniger in der Innenpolitik, die wenig überraschend ist und fast immer absehbar und ausrechenbar, also positiv gesprochen von Stabilität und Kontinuität geprägt wird, besonders in Zeiten einer großen Koalition. Die politischen Veränderungen geschehen sehr viel stärker im europäischen und weltpolitischen Maßstab. Vor 10, 20 Jahren hätte wohl niemand vermutet, dass die Frage „Wohin treibt Europa?“ alsbald eine sehr ernstzunehmende, existentielle (Ukraine!) ist mit ganz ungewissen Antworten. Bei den weltpolitischen Machtverhältnissen gibt es noch viel größere Verschiebungen, die mit Kriegen großen Ausmaßes verbunden sind wie gegenwärtig im gesamten Nahen Osten. Vor einigen Jahrzehnten hätte man auf China als die größte Herausforderung verwiesen – und heute ist China eher ein akzeptierter Mitspieler, auf dessen Stabilitätsverantwortung man angewiesen ist. Den USA sind die eigenen Kriege über den Kopf gewachsen, und in vielen Teilen der Welt wächst die Instabilität (Afrika) und drohen neue failed states mit allen Begleiterscheinungen (oder Ursachen) von Terrorismus und Gewaltherrschaften lokaler warlords, die nichtsdestoweniger weltweit vernetzt sein können, allein schon um an Waffen zu kommen, und die leicht instrumentalisiert werden in den Auseinandersetzungen größerer Mächte und Interessengruppen. Der begründende Hinweis auf das fatale Erbe der Kolonialzeit reicht aus meiner Sicht immer weniger aus. Es muss nach „moderneren“ Ursachen und Gründen gesucht werden. Das ergibt alles in allem eine sehr divergierende Wahrnehmung: Einerseits rücken durch Geschäftsverbindungen (Globalisierung) und Reisemöglichkeiten (Tourismus; Flüchtlingsströme) immer mehr Erdteile zusammen, andererseits führen die Interessen von Ländern und Machteliten zu immer neuen Koalitionen, Brüchen und Machtverschiebungen. Weltpolitik ist immer im Fluss, aber mir scheint, dieser Fluss war lange nicht so reißend und im Verlauf ungewiss, wie es heute der Fall ist. Darin spielt Europa eine Rolle, wenn auch keine so bedeutende, wie es die Wirtschaftskraft vermuten ließe.

Ein ganz anderer Bereich von neuen Entwicklungen und veränderten Zusammenhängen ist durch den Prozess der Digitalisierung gekennzeichnet. Das Internet ist nur ein Teil davon, und das World Wide Web wiederum nur dessen bekanntester Aufsatz. Die Digitalisierung wälzt in der Tat Arbeiten, Leben und Wissen vollständig um – und wir befinden uns erst in den Anfängen dieses Prozesses. Das Internet, das schon von den Ursprüngen her ein US-amerikanisches, militärisch verankertes (ARPA) Netz war und weithin geblieben ist, stellt insofern einen Sonderfall dar, als es wie kaum eine andere Neuerung der letzten zwei Jahrzehnte Träume geweckt und Illusionen herauf beschworen hat. Heute ist heilsame Ernüchterung eingetreten („Internet kaputt“), ohne dass man auf die vielen neuen Annehmlichkeiten der Vernetzung mittels Smartphones usw. verzichtet. Das INTERNET müsste besser INSANET heißen: insane für krank, irre, verrückt, und NSA für die eigentliche Macht der Beherrschung dieses Netzes. Selbst wenn Teile der Netzstruktur privatisiert sind (Kabelverbindungen, besonders unterseeische) und weiter aufgeteilt und privatisiert werden (Netzgesellschaften), so ändert das nichts daran, dass es ein von den USA beherrschtes Netz ist, solange die NSA & Co. jederzeit und überall den Vollzugriff („Abgriff“) haben und solange US-Firmen die Angebote des WWW dominieren bzw. monopolisieren. Die schöne neue Welt der eBooks und des Musik- / Video- Streamings hat die Kehrseite einer bis dato unbekannten Durchlöcherung und Durchleuchtung der Privatsphäre, weil der Kunde im Allgemeinen so oder so mit seinen Daten bezahlt. Was das erst mit Smart Home und Smart Health ergeben wird, kann man nur ahnen. Der Geist ist aus der Flasche, also gilt es ihn zu zähmen und kontrolliert zu nutzen.

Schließlich noch einen Hinweis auf die Entwicklungen der Natur und der Naturwissenschaften. Wissenschaftliche Paradigmata sind zeitgebunden und unterliegen den Wechseln der Zeitläufe. Wenn sich heute die Naturwissenschaften, insbesondere die Neurowissenschaften, als alleinige Sachwalter von Vernunft und gerechtfertigtem Wissen darstellen, wenn eine naturwissenschaftlich-technische Marktgesellschaft das Monopol auf Wahrheit und Erkenntnis, auf Wissen und wirkliche Fakten beansprucht, dann ist diese moderne Wissenschaft zur Weltanschauung geworden mit einem quasi-religiösen Anspruch. Kein Wunder, wenn sich daran andere Religionen reiben und dagegen andere Weltsichten erheben. Die hochmütige Arroganz der heutigen Wissenschaften schreit weniger nach „alternativen“ Lebensstilen als vielmehr nach Selbstkritik und Selbstbegrenzung der technisch-wissenschaftlichen Vernunft (vgl. dazu die neuesten Beiträge im Blog Phomi). Die geschichtliche Bedingtheit, durchgängig ökonomische Interessiertheit und thematisch-sachliche Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist mir noch nie so deutlich gewesen wie heute. Wissenschaftlich organisiertes Wissen zielt in erster Linie auf ökonomisch orientierte Verwertung, ist also „Markt-Wissenschaft“. Vernunft, und Erkenntnis geht aber viel weiter als der Bereich dessen, das sich vermarkten und verkaufen lässt.

Wissen ist Teil des Lebens. Erwerb von Wissen ist Vollzug des Lebens. Im Verlauf des Lebens etabliert und verändert sich das, was man zu wissen meint. Es ist ein lebendiger, offener Prozess, der sowohl Irrtum als auch Vorläufigkeit und Veränderlichkeit in sich begreift. Die offenkundige Kurzsichtigkeit mancher wissenschaftlich oder technisch begründeter Ziele und Hoffnungen ergibt sich sehr schnell aus der Betrachtung größerer Zusammenhänge. In den ganz großen Linien erscheint da der Mensch als das steinzeitlich-intelligente Lebewesen, das sich mit Vernunft, Technik und Macht die Erde angeeignet hat und sich nun mit all seinen Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten in eine ungewisse Zukunft katapultiert. Gut, wer da noch Zeit zum Nachdenken findet.

 

 

(1) Der Begriff populär bzw. populärwissenschaftlich müsste genauer untersucht werden. Zunächst beschreibt er das Allgemeinverständliche im Unterschied zur Sprache der Fachwissenschaft. Zudem will er deutlich machen, dass zum Verständnis eines populärwissenschaftlichen Buches weniger oder keine Voraussetzungen („besondere Vorkenntnisse“) nötig sind. Beides wäre kritisch zu befragen: Was taugt eine Wissenschaft, die sich nur noch intern in einer hoch differenzierten Fachsprache verständigen kann? Kann das neben dem Erfordernis der Präzision und Knappheit nicht auch eine Strategie des bewussten Ausschlusses sein? Sodann erfordern nicht alle einigermaßen originellen und gründlichen Darstellungen eines Themenbereichs immer gewisse Vorkenntnisse und in jedem Fall die Bereitschaft, sich auf ein bestimmtes nicht alltägliches Denken einzulassen? Ohne Vorkenntnisse kann man nichts verstehen.