[Politik, Gesellschaft]
Man hört es jetzt häufiger. Jüngst hat es Außenminister Steinmeier auf der UN-Vollversammlung wiederholt: Die Welt sei aus den Fugen geraten. Eine merkwürdige Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Es lohnt darüber nachzudenken. Es könnte mehr als die Metapher selbst etwas über die heutige Zeiterfahrung aussagen.
Dass eine Zeit als aus den Fugen geraten erlebt wurde, hat es öfter gegeben. Vor allem „Krieg und Pestilenz“ galten als außerordentliche, wenn auch als regelmäßig und unberechenbar wiederkehrende Ereignisse, die normales Leben an seine Grenzen brachten. Die Große Pest von 1445/46 in Zentraleuropa wurde als besonders verheerend und als „Geißel Gottes“ erlebt: Die böse Welt war aus den Fugen geraten. Erst recht brachte das 17. Jahrhundert mit dem für Mitteleuropa völlig desaströsen und jegliche Ordnung außer Kraft setzenden Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) auch die Pest wieder zurück (1632 – 1635), zum letzten Mal gewaltig und ungebremst dann 1678 – 1680 in Süd- und Osteuropa. Besonders Wien war betroffen, was 1683 mit der erneuten Belagerung durch die Türken unter Mehmed IV. zusammen fiel. Wo Leben in seinen einfachsten, erst recht in seinen zivilisierteren Formen kaum noch möglich war (Pest-Motto: Lasst uns singen und huren, lügen und betrügen, denn morgen sind wir tot), konnte man die Welt als aus den Fugen geraten erleben. Ähnlich war es bei einem ganz anderen, zumindest Europa erschütternden Ereignis: dem Erdbeben von Lissabon 1755. Entsprechende Äußerungen finden sich in den Zeitzeugnissen. J. W. von Goethe schreibt darüber in „Dichtung und Wahrheit“:
„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, aber durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. (zitiert nach Wikipedia)
Man könnte fortfahren mit der Aufzählung weiterer katastrophaler Ereignisse und Zeiträume, in denen die Welt aus den Fugen geriet, wie die Zeit des Ersten Weltkriegs, besonders ab 1916, und die für Europa und weitere Weltteile materiell und kulturell verheerenden Abläufe des Zweiten Weltkrieges, insbesondere mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945. Auch die Kriegsverläufe in Russland mit Millionen Toten und die Entdeckung der deutschen Vernichtungslager ließen Zweifel am „Sinn des Lebens“ entstehen (Benjamin, Sartre, vam.). In diesem Zusammenhang erscheint allerdings eher eine reflektierte Kulturkritik als die Artikulation eines unmittelbaren Erlebens, das die Welt als aus den Fugen geraten erfuhr. Das dürften die Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen (nicht nur auf deutscher Seite) jedenfalls faktisch so erlebt haben. Übergroße Not jedoch macht stumm, und die Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft und der Schrecken des 2. Weltkriegs geschahen mehr unter dem Stichwort Holocaust. Der eigene Begriff sollte die Unvergleichbarkeit des Verbrechens sichern. „Aus den Fugen geraten“ wäre dafür als zu gering bedeutend erschienen. Die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg wurde dann allerdings sehr wohl als eine Zeit erlebt, die allmählich wieder Ordnung und Sinn ins alltägliche Leben zurück brachte: Die „Fugen“ der Kriegszerstörungen wurden wieder ausgefüllt.
Umso erstaunlicher ist es, wenn heute (das schließt die letzten zwei Jahre ein) Bücher und Bestseller erscheinen, welche die gegenwärtige Welt als aus den Fugen geraten titulieren. Als Beispiele nenne ich den gerade verstorbenen Peter Scholl-Latour, Die Welt aus den Fugen: Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart, 2012 (Spiegel-Besteller), und die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assman, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, 2013 (bei Amazon als eBook). Beide Bücher sind sogar noch vor den Ereignissen erschienen, die heutige Politiker und Journalisten vermehrt zur Zustandsbeschreibung „aus den Fugen geraten“ motivieren: Dem Erfolg des Terrorregimes „Islamischer Staat“ und der kaum zu bewältigenden Ebola-Epidemie in Westafrika. Demgegenüber ist der Ukraine-Russland-Konflikt schon wieder etwas verblasst, gehört aber wegen seiner weltpolitischen und geostrategischen Auswirkungen durchaus in den Zusammenhang aktueller Zeiterfahrung. Massensterben und der Zusammenbruch der Alltagsordnung wird aber allenfalls in den Ebola-Krisenzentren gefunden. Der IS bewegt und erschreckt (das will er ja gerade = terror) durch seine kalte Brutalität, seine archaische Ideologie gepaart mit perfekter technischer Ausstattung, seine finanziellen Ressourcen und schnellen Erfolge und vor allem auch durch seine Faszination, die er auf Teile jüngerer Menschen in der westlichen Welt ausübt. Aber Massenphänomen, Welterschütterung, Untergangsstimmung? Fehlanzeige. Das könnte allenfalls für die Ereignisse in und um die Ukraine gelten, weil hier geopolitische Gewichte bewegt und verschoben werden mit befürchteten langfristig negativen Auswirkungen für uns in Deutschland. Ebola wird dagegen noch eher am Rande wahr genommen (vgl. das geringe Spendenaufkommen). Was also ist es dann, was gerade bei uns im deutschsprachigen Raum [ich vermute, dass im angelsächischen Raum die Zeiterfahrung unterschiedlich ist] die in Mode gekommene Rede von der aus den Fugen geratenen Welt zu einem so attraktiven Deutungsmuster werden lässt?

Es hängt vielleicht mit dem zusammen, was man mehr spöttisch als analytisch das „neue Biedermeier“ oder das „Biedermeier des 21. Jahrhunderts“ genannt hat. Es lohnt sich, beide Begriffe zu googeln oder Biedermeier als Suchbegriff bei FAZ.Net einzugeben. Don Alphonso hat schon im Juli (noch vor dem verbalen Biedermeier-Hype der letzten Wochen) sehr erhellend darauf hingewiesen, dass das Biedermeier des 19. Jahrhunderts alles andere als eine Idylle war. Dennoch geistert der Begriff mit dieser Idyll-Konnotation durch die Medien, zuletzt sehr typisch von Carsten Knop so beschrieben:
In diesem Land fühlt man sich wohl. Es erfindet die Mütterrente. Man hält wenig vom störenden Ausbau der Infrastruktur, treibt die Energiepreise in phantasievolle Höhen – und im Zweifel wird das Unbequeme verboten. Gerne kauft man Sachen, die gut und alt aussehen. Nur auf dem immer neuen Smartphone von Apple oder Google tauscht man sich etwas schizophren über die Datensammelwut amerikanischer Internetkonzerne aus. Die Stimmung im Land wird von Vorstandschefs aus der Softwarebranche inzwischen „Biedermeier des 21. Jahrhunderts“ genannt. Und das ausgerechnet jetzt, wo die nächste industrielle Revolution schon begonnen hat und zur gesellschaftlichen Herausforderung wird. (FAZ.Net)
Der Begriff Biedermeier wird hier industriepolitisch und technikkulturell verwandt, soll aber eine gesellschaftliche Mentalität kennzeichnen, die unbeweglich, ängstlich und saturiert ist und im Bewusstsein ihres Wohlergehens das eigene weltentrückte Wolkenkuckucksheim bewahren möchte – nur keine Veränderung, nicht einmal zu besseren Chancen. Eigentlich taucht da wieder das Bild des deutschen Michel auf, der die wichtigsten Entwicklungen der Zeit verschläft und sich mit seinen eigenen Illusionen in den Schlaf singt – ganz im Gegensatz zu Heinrich Heine, der in dieser Situation dagegen dichtete: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht.“ Trifft diese Beschreibung einer Mentalität des so verstandenen „Biedermeier“ auf unsere gegenwärtige Gesellschaft zu oder ist es nur eine weitere Metapher, die mehr verhüllt als erklärt und allenfalls eine Karikatur spiegelt? Ich denke, beides stimmt: Es ist eine durchaus zutreffende Beschreibung, und sie ist dennoch eine Karikatur. Die aus den Fugen geratene Welt bringt es auf den Punkt.
Es ist eine für unsere deutsche Situation sehr erklärliche Einstellung. Mehr als 40 Jahre existierten West- und Ostdeutschland an der Systemgrenze des Eisernen Vorhangs, was durchaus eine höchst gefährliche und tödliche Grenze war. Mögliche Krisen, die aus dem kalten zu einem heißen Krieg werden konnten, waren in den sechziger und auch noch in den siebziger Jahren sehr bewusst, und der Checkpoint Charlie weit entfernt davon, eine jahrmarktsähnliche Touristenattraktion zu sein. Nicht nur wurde der Mauerbau am 13. August 1961 als möglicher Auslöser des dritten Weltkriegs erlebt, sondern die Toten an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze traten in jedem einzelnen Falle erneut ins Bewusstsein. Den letzten erschossenen Mauertoten gab es im Februar 1989 (Chris Gueffroy). Erst auf diesem Hintergrund gewinnt das Ende des Eisernen Vorhangs und der Fall der Berliner Mauer vom 9. November 1989, genau vor 25 Jahren, seine Bedeutung auch für den sich daraus entwickelnden Mentalitätswechsel. Was für die Menschen in der Prager Botschaft Genschers Mitteilung ihrer Ausreise in die Freiheit bedeutete, wiederholte sich in ähnlicher Weise auf westdeutscher und westberliner Seite beim Fall der Mauer bis hin zur staatlichen Vereinigung am 3. Oktober 1990. Die Anspannung durch die ständige Bedrohung ließ plötzlich nach, Moskau war mit dem verständnisvollen und nur in Deutschland beliebten Gorbatschow kein Feind mehr, überhaupt ging das langjährige Feindbild des roten Ostens mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Auflösung des Warschauer Paktes zu Bruch. Fast jubelnd wurde immer wieder erklärt, Deutschland sei jetzt nur noch von Freunden umgeben. Die Redeweise von der Friedensdividende machte die Runde, und der Umbau der Bundeswehr geschah ebenfalls auf dem Hintergrund einer als völlig verändert wahrgenommenen Bedrohungslage. Deutschland wurde nicht mehr an Elbe und Oder verteidigt, sondern im fernen Hindukusch. Das war wirklich weit weg.
Die Friedensdividende wurde durch einen wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Intermezzo der vereinigungsbedingten Stagnation eingefahren. Wie wandlungsfähig Deutschland war, konnte man in Schröders Agenda 2010 sehen, die zwar einen Kanzler das Amt kostete, insgesamt aber die deutsche Wirtschaft auf die Überholspur und der Gesellschaft einen Modernisierungsschub brachte („Leistung muss sich lohnen“, „Fördern und Fordern“ usw.) Erst mit dem Hereinbrechen der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 gewannen die Kritiker des nun als „neoliberal“ und also unsozial verschrieenen Modells medial in der Öffentlichkeit die Oberhand. Viele wollten nun politisch das Rad etwas zurück drehen, denn so viel Mut und Bewegung brachten gerade auch in der Sozialpolitik Unruhe, die zum Teil gewiss berechtigt war. In dieser Rückwendung zu den angeblich bewährten ehemaligen Sozialstandards und der geforderten und zum Teil umgesetzten stärkeren staatlichen Verantwortlichkeit für Wirtschaft und Industrie sehe ich den materiellen Hintergrund dessen, was heute als Biedermeier karikiert wird. Es ist die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, Wohlstand und sozialem Ausgleich, nach stetiger, aber behutsamer Fortentwicklung der bewährten Strukturen und Wirtschaftsmodelle, nach Veränderung, aber mit Augenmaß, nach einfacheren und näheren Lösungen, als es die kalte, als bürokratisches Monster empfundene EU bieten kann. Wenn all dies Aspekte einer Mentalität des Biedermeier sein sollten, that’s it. Und nun kommt es: Genau diese Sehnsucht und dieses Wohlgefühl funktionieren nicht, nicht mehr – oder vielleicht haben sie auch niemals wirklich gepasst. Die Welt hat sich rasant weiter gewandelt ohne Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten und passt nicht mehr zu dem so beschrieben Lebensgefühl des Wohlstands und der Sicherheit. Weil sich dies immer deutlicher als Illusion entlarvt, ist die Welt gefühlsmäßig aus den Fugen geraten.
Westerwelles Außenpolitik war vielleicht so etwas wie das Menetekel des deutschen Heraushaltens, Spiegelbild der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, eben nach dem Genuss der „Friedensdividende“. Heute holt uns die Wirklichkeit (zum Beispiel auch des Zustandes der Bundeswehr, die uns aktuell nicht mehr schützen und verteidigen kann) recht brutal ein. Widerstand gegen den IS ist erforderlich, Deutschland liefert Waffen in den Irak bzw. nach Kurdistan. Im Ukraine-Konflikt saß man fast zwischen allen Stühlen (siehe der illusionären Steinmeier-Pakt einen Tag vor der Flucht Janukowitschs), ehe sich die Bundesregierung zu einer klareren Hinwendung zu gemeinsamen westlichen Positionen entschloss. Nach dem offensichtlichen Ende der Träume von einer neuen friedlichen Welt ohne West-Ost-Gegensatz, ohne heiße geopolitische Antagonismen, am liebsten multipolar nach französischer Façon, musste schnell, sehr schnell gelernt und umgeschaltet werden. Dies betrifft nun keineswegs nur Deutschland, sondern Europa insgesamt. Deshalb konnte schon 2012 das Peter Scholl-Latour-Buch diesen Zustand vermelden:
Die Weltpolitik gleicht derzeit einem aufziehenden Gewittersturm. Ob in Afrika oder Lateinamerika, in Arabien oder im Mittleren Osten – überall braut sich Unheilvolles zusammen. Und auch der Westen – Europa und die USA –, einst Hort der Stabilität, wird von Krisen heimgesucht wie seit langem nicht. Peter Scholl-Latour, Spezialist für turbulente Großwetterlagen, kennt die Welt wie kein Zweiter. Vor dem Hintergrund seiner sechzigjährigen Erfahrung als Chronist des Weltgeschehens beleuchtet er in seinem neuen Buch die Brennpunkte der aktuellen Weltpolitik. Der Abzug der USA aus dem Irak und Afghanistan hinterlässt zerrüttete Staaten, die in Bürgerkriegen versinken. Der Konflikt um Irans Atompolitik spitzt sich gefährlich zu. Pakistan ist ein Pulverfass. Die arabische Welt befindet sich in Aufruhr, mit ungewissem Ausgang. Die Zahl der „failed states“, Brutstätten des Terrorismus, nimmt beständig zu, vor allem in Afrika. Zu allem Überfluss stolpern Europa und Amerika von einer Finanzkrise in die nächste und erweisen sich international zunehmend als handlungsunfähig. Mit dem ihm eigenen Gespür für weltpolitische Umbrüche begibt sich Peter Scholl-Latour auf eine Tour d’Horizon rund um den Globus und schildert eine Welt aus den Fugen. (Klappentext)
Kurz gesagt: Die Welt wird deswegen aus mancherlei Sicht als aus den Fugen geraten beschrieben, weil man zuvor die Fugen und Brüche in einem harmonistischen Wunschbild überdeckt („arabischer Frühling“) und diese romantisierte Idylle für die Wirklichkeit genommen hat. Diese Wirklichkeit gab es so nie, weder in Tripolis noch in Kiew auf dem Majdan. Es gab dagegen vielerlei besorgniserregende Bruchlinien, divergierende Interessen und sehr unterschiedliche Wahrnehmungen. Darauf hat Scholl-Latour in seinem letzten Buch zurecht und nüchtern hingewiesen. Darauf weist auch Aleida Assmann hin, wenn sie in einem kulturgeschichtlichen Rundumblick die postmoderne Zeiterfahrung thematisiert. Für uns scheint die Welt heute deswegen aus den Fugen zu sein, weil wir die Fugen und Brüche lange Zeit nicht sehen und wahrhaben wollten. Dass gerade Steinmeier davon redet, zeigt, wieweit das illusionäre Denken in der Politik vorgeherrscht hat. Es wird allerhöchste Zeit, die Realitäten wieder ernst zu nehmen.
Es gibt gravierende geopolitische Interessenkonflikte. Es gibt eine neue Art hochbrisanter Energiepolitik, das meint nicht nur den politischen Gashahn, sondern ebenso eine utopische Politik der „Energiewende“ (siehe den weltweiten Erfolg von fracking). Es gibt machtvolle antiwestliche Interessengruppen und politische Akteure, die sich weder um Völkerrecht noch um Menschenrecht kümmern. Es gibt Terroristen, die eine Ideologie rücksichtsloser Machtausübung praktizieren. Es gibt eine religiös verbrämte Hinwendung zu angeblichen alten Werten (Salafismus; Tea Party), die den freiheitlichen und vernunftbasierten Tendenzen der Neuzeit strikt entgegen laufen. Es gibt in der Tat Feinde, nicht nur Gegner unserer Lebensweise (die natürlich selbstkritisch zu analysieren ständige Aufgabe bleibt). Es gibt einen Hang zu einem neuen Nationalismus, der wirklich gefährlich werden kann. Die Abstimmung in Schottland war nur ein harmloses und zumal demokratisch einzigartiges Vorspiel. Es gibt die begründete Vermutung, dass das derzeitige wirtschaftliche und industrielle Niveau in Deutschland auf tönernen Füßen steht. Nicht nur in der digitalen Wirtschaft kriegen wir kaum einen Fuß auf den Boden – und das gilt de facto für ganz Europa. Umso verdrießlicher und fast scherzhaft symbolisch ist es, wenn dann auch noch Adidas von Nike bei den Innovationen abgehängt wird. Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie ist so widersprüchlich und konfliktreich wie eh und je. Den Fortschritt gibt es offenbar nur darin, neue Konflikte noch raffinierter und noch brutaler zu inszenieren. Im Informationszeitalter wächst vor allem die Desinformation. Es wird Zeit, die Biedermeierhaube abzunehmen und den Wandel zu einer nüchternen Real- und Interessenpolitik zu vollziehen, gewiss auch mit haushaltspolitischen und steuerlichen Konsequenzen, statt über eine „Welt aus den Fugen“ zu lamentieren.