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Einwurf: Religion und Gewalt

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 It’s religion stupid!

In der gegenwärtigen Diskussion ist die Unterscheidung von Islam und Islamismus von großer Bedeutung. Als Beispiel nenne ich die Aussage von Rainer Hermann in der FAZ: „Die Behauptung, der Koran sei in seiner Gesamtheit ein Werk, das zu Gewalt aufruft und dem Gewalt inhärent ist, trifft nicht zu. Jeder liest heraus, was er will.“ Klingt gut und aufgeklärt, ist aber nur die halbe Wahrheit.

Dieselbe Aussage ließe sich auch für die Bibel machen, und zwar für Altes und Neues Testament. Gerade das Alte Testament galt immer wieder als zu blutrünstig und darum dem Geist des Neuen Testaments eigentlich fremd. Die christlich-theologische Lösung hieß, man dürfe das Alte Testament nur „von Christus her“ lesen. Aber auch die neutestamentliche Bibel ist nicht zimperlich, wenn man die Apokalypsen (insbesondere die Offenbarung des Johannes) liest. [Ich beschränke mich hier auf Judentum, Christentum, Islam. Auch in den Schriften anderer Religionen wird man zum Thema Gewalt schnell fündig.]

Kann also jeder aus den heiligen Schriften der Religionen heraus lesen, was er will? Die Sache ist die: Gewalt ist jeder Religion inhärent.

In der Religion geht es immer um Grenzerfahrungen des Menschen, um Tod und Leben, um heilig und profan, um gut und böse. Das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen bzw. zu Gott ist ambivalent und muss durch Rituale geregelt werden. Denn als die entscheidende Macht hinter und über den Dingen der Welt wird Gott / das Göttliche gesehen, das die Welt bestimmt und begrenzt. Gewalt spielt in der Religion von Anfang an eine entscheidende Rolle, ist es doch die Erfahrung der Übermacht, die der Mensch in der Religion zu bändigen sucht.

Die soziale Funktion der Religionen besteht unter anderem darin, Gewalt einzudämmen. „Gott“ hat sozusagen das Gewaltmonopol. Menschliche Gewaltausübung kann dann nur im Namen Gottes geschehen, entweder um seinen Willen (bzw. was man als solchen erkannt hat) durchzusetzen oder um Angriffe auf die Herrschaft Gottes abzuwehren – oder, wenn einem Gewalt widerfährt, dies als Schicksal bzw. Strafe Gottes zu verstehen. In dieses Schema passen alle biblischen  und koranischen Textbefunde zum Thema Gewalt.

Die Funktion der Religion besteht also zunächst in einer Eindämmung blindwütiger Gewaltanwendung. Schon das alttestamentliche Gebot „Auge um Auge“ diente eben diesem Zweck, gewalttätige Rache zu begrenzen. Die sogleich folgende Frage ist die, wer über die erlaubte Gewalt entscheidet. Es sind dies die Priester bzw. die (gesalbten) Könige oder Propheten. Eine solche Strafgewalt im Namen Gottes wird im Alten Testament oft mit „den Bann vollstrecken“ umschrieben. Im Neuen Testament ist die Ankündigung und Ausmalung des letzten Strafgerichts Gottes über seine Feinde voller Gewalt, denn nur gewalttätig verschafft sich Gott (mit Hilfe seiner Heerscharen) Recht. Der Koran schreibt diese Linie ungebrochen fort. Mohammed ist Feldherr und Gewaltherrscher im Namen seines Gottes.

Raffael, Konstantins Taufe (Vatikan)
Raffael, Konstantins Taufe (Vatikan)

Die Geschichte des Judentums, des Christentums und des Islam ist immer zugleich eine Gewaltgeschichte. Das biblische „Volk Israel“ hat allerdings im Endeffekt mehr Gewalt erlitten als ausgeübt. Die Christentumsgeschichte ist dagegen voller Gewalt im Namen des Christengottes. Schon der berühmte römische Kaiser Konstantin wurde durch siegreiche Schlachten von der Stärke des christlichen Gottes überzeugt (siehe die Legende vom Kreuz als Standarte in der Schlacht gegen den Konkurrenten Maxentius 312: „In diesem Zeichen sollst du siegen.“) Karl der Große führte seine mehrfachen Feldzüge gegen die Sachsen mit allen blutigen Gemetzeln ganz ausdrücklich im Namen des Christentums und unter Androhung der Zwangstaufe. Dann die Kreuzzüge, der Dreißigjähre Krieg, die Feldpredigten im Ersten Weltkrieg. Die Geschichte von Christentum und Gewalt ist endlos lang.

Der Islam ist 600 Jahre jünger und müsste mit dem Christentum im 15. Jahrhundert verglichen werden. Damals waren christliche Fanatiker mindestens ebenso blutrünstig und gewalttätig wie heute die Islamisten. Religion und Gewalt – das lässt sich gar nicht trennen.

Spannender ist die Frage, was Judentum und Christentum dazu gebracht haben, den Hang zur weltlichen Herrschaft, zur Macht- und Gewaltausübung aufzugeben? Beim Judentum war es die faktische Ohnmacht in den vergangenen 2000 Jahren. Beim Christentum war es die Geschichte von Reformation und vor allem der Aufklärung mit der ideologischen und dann auch tatsächlichen Trennung von Staat und Kirche, von religiöser („geistlicher“) und weltlicher Macht. Die Französische Revolution mit ihrem Laizismus, die Napoleonischen Kriege mit der folgenden Säkularisation (Reichsdeputationshauptschluss 1803), die Schriften der Aufklärung, die historisch-kritische Erforschung und Relativierung der „heiligen“ Schriften wie der Bibel und später des Koran (vom Islam nicht anerkennt) sind hier Meilensteine einer Transformation. Die Aufklärung führte dazu, Religion als eine wenngleich wichtige, so doch menschliche Kulturerscheinung zu verstehen. Sie ließ sich historisch, sozial und psychologisch erforschen, erklären und kritisieren (Feuerbach, Marx, Freud, Nietzsche). Hinter diese Errungenschaft der Aufklärung darf das Christentum als Religion nicht mehr zurück fallen.

Es ist leicht erkennbar, dass der Verzicht auf Gewalt und direkte weltliche Macht vom Christentum aus nicht freiwillig geschah. Es musste dieser Religion und ihrem Machtanspruch (Papsttum) abgetrotzt werden, sie musste gesellschaftlich und politisch in ihre Schranken gewiesen werden. Erst dann setzte auch ein Prozess der Selbstkritik und Selbstbeschränkung ein, wie er heute insbesondere für die protestantischen Kirchen kennzeichnend ist. Diesen Prozess der Neuzeit nenne ich den Prozess der Einhegung der Religion, um ihr inhärentes Gewaltpotential zu neutralisieren.

Der Islam hat solch einen Prozess der Kritik, der Selbstkritik, der Relativierung und (Selbst-) Beschränkung noch nicht, noch nirgendwo durchlaufen. Auch der westlich-liberale Islam kennt noch keine theologisch verantwortete historisch-kritische Forschung. Es handelt sich bei ihm mehr um eine pragmatische Anpassung und faktische Relativierung innerhalb der westlichen kulturellen Vielfalt. Die grundsätzliche kritische Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen und historischen Tradition einschließlich ihrer Gewaltgeschichte fehlt dem Islam bis heute. Seine „Aufklärung“ steht noch aus. Das muss die Religion des Islam in ihrer Vielfalt selber leisten.

Insofern ist Hermanns Satz „Jeder liest heraus, was er will.“ ein Satz, der so nur auf Fundamentalisten aller Couleur (also auch auf christliche) zutrifft. Kritische Forschung und eine aufgeklärte Theologie lässt eben nicht mehr alles und jedes an Bedeutung und Interpretation zu. Aber auch dieses gilt: Es geht nicht nur um den Islam. „It’s religion“ soll sagen: Auch andere, auch die christliche Religion muss sich ständig fragen und kritisieren lassen, inwiefern sie Waffen segnet, nach Macht strebt, wenn auch heute sublimer, oder gar in ihren fundamentalistischen Strömungen die Ergebnisse der Aufklärung ignorieren oder ungeschehen machen will. Wer seine eigene Wahrheit mit der Wahrheit Gottes gleichsetzt, hat den Kampf gegen die Gewalt in der eigenen Religion schon verloren.

Weil Religion diese totalitäre gewalttätige Tendenz haben kann, muss sie eingehegt werden.

UPDATE:

In Fortführung seiner oben zitierten Gedanken schreibt Rainer Hermann einen ausgezeichneten Kommentar in der heutigen FAZ, der soeben auch als Artikel online gestellt ist: Die flexible Weltreligion.