[Politik]
Die letzten Wochen haben Europa nachhaltig verändert. Egal wie in Griechenland morgen abgestimmt wird, – die „Griechenlandkrise“ hat die Versäumnisse und Fehler Europas ans Licht gebracht. Der europäische Einigungsprozess droht zu einer ideologischen Hülse zu werden. Was bisher oftmals begütigend als „Europamüdigkeit“ gekennzeichnet wurde, äußert sich in vielfältigen Formen und hat sehr reale wirtschaftliche und politische Hintergründe. Die Situation in und mit Griechenland ist nur der Punkt, an dem die Bruchlinien unübersehbar werden. Das betrifft Europa als geografisch-kulturellen Raum, als Europäische Union und als Eurozone.
Im Vordergund der meisten Berichte, Stellungnahmen und Kommentare steht zunächst der Euro. Welche Wirkungen hat er bisher entfaltet und welche Zukunft kann oder sollte er haben? Die Meinungen dazu sind so uferlos wie divergent. Auch die ökonomischen und währungspolitischen Fachleute äußern sehr unterschiedliche, oft gegensätzliche Auffassungen. Die Unterschiede nehmen noch zu, wenn man den angelsächsischen Raum mit einbezieht. Ob nun eine aufgeblähte Staatsverschuldung den Euro zur inflationären Weichwährung macht oder ob die deutsche Prinzipienreiterei (Austeritätspolitik) die Eurozone wirtschaftlich ruiniert, darüber wird heftig gestritten. Ich mag mich daran nicht beteiligen, weil die meisten derartigen Beiträge in hohem Maße interessegeleitet oder ideologisch imprägniert sind. Die wohlfeilen Meinungen und Ratschläge US-amerikanischer Ökonomen und Finanzpolitiker spiegeln sehr drastisch die eben US-amerikanischen Finanz-, Wirtschafts- und Machtinteressen. Zudem kosten diese Rezepte die US-Amerikaner so gut wie kein Geld (außer anteilig über den IWF). Da lässt es sich leicht besserwissen. Sozialisten und linke Ideologen hierzulande feiern fröhlich die Auferstehung altbekannter Erklärungsmodelle: Das Kapital, die Banken, die Geldgeber, die Neoliberalen sind schuld – und natürlich die verbohrte Austeritätspolitik. Ich kann in diesen Meinungen und Rezepten wenig Sachliches und Hilfreiches erkennen (allerdings: Sarah Wagenknecht weiß durchaus manch sachhaltiges Argument zu liefern). Am Rande reibt man sich die Augen, wie sich auf einmal die Äußerungen neoliberaler US-Ökonomen und links-sozialistischer Meinungsvertreter in seltener Harmonie verbinden. Dabei bricht heute nur ein Gegensatz auf, der bei der Gründung des Euro und durch „Maastricht“ verdeckt wurde, nämlich das Auseianderklaffen von politischer und Währungsunion (Grundsteintheorie – Krönungstheorie). Gelöst wird der Konflikt faktisch durch eine allmähliche Evolution, manche meinen eher: Erosion wirtschafts- und finanzpolitischer Maßnahmen. (-> Bankenkrise)

Betrachtet man den Fall Griechenland auf der Ebene der Europäischen Union, so wird eine Krise der EU insgesamt deutlich. Die Institution funktionieren zwar weiterhin mit politisch-bürokratischer Schwerkraft, Ministerrat und Regierungschefs tagen nahezu permanent, aber die Risse und Widersprüche untern den 28 uniierten Ländern werden unübersehbar. Da hat die Frage eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU ein existenzbedrohendes Kaliber. Geht es hier um die Forderung nach Rückverlagerung bereits vergemeinschafteter Bereiche in nationale Souveränität, so wird andererseits im Osten der EU, vor allem bei manchen postkommunistischen Staaten, ein recht bruchstückhaftes Verhältnis zu Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus sichtbar. Die viel beschworene Wertegemeinschaft scheint bisweilen zu einem brüchigen Überbau zu werden (Ideologie), statt gemeinsames Fundament zu sein, das die EU mit all ihren politischen Institutionen trägt. Hier geht es offenbar um Gewichtigeres und um Divergenteres als nur um nationale Besonderheiten (wie man bisher die Sonderregelungen für Dänemark und UK genannt hat). Wenn europäische Politiker offen mit dem russischen Modell der „gelenkten Demokratie“ liebäugeln, dann ist mit der Verfassung der EU einiges im Argen. Diese auseinandertreibenden Kräfte sind offenbar nicht mehr mit dem alte Lied des Schimpfens über die „Bürokraten in Brüssel“ zu erklären. Hier zerbricht gerade mehr, als dass es nur mit einem Unwohlsein über „Brüssel“ abgetan werden könnte. Das Erstarken EU-kritischer Parteien in vielen Ländern Europas sind dafür ein politisch deutlich sichtbares Zeichen. Mit ein bisschen mehr PR oder „Transparenz“ in Sachen EU ist es längst nicht mehr getan. Viele Europapolitiker haben das überhaupt noch nicht realisiert. Die Krise um Griechenland zwingt hier zu einer fälligen Klärung. Das ist das Gute daran.
Schließlich ist die „Idee Europa“ betroffen. „Europa braucht Visionen“, sagten die einen, „wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ sagte ein anderer. Heute fällt auseinander, was die ältere Politikergeneration, sozusagen die Nachfolger der EU-Gründergeneration (stellvertretend für alle: Juncker), als ideologisches wie handlungsleitendes Korsett mit sich tragen – das „Friedensprojekt Europa“, – und andererseits die gelebte Wirklichkeit in einer Vielzahl von EU-Ländern. Europa ist für viele vor allem gut gebildeter junger Menschen eine selbstverständliche Wirklichkeit, die „grenzenloses“ Leben, Arbeiten und Kommunizieren (Reisen) möglich macht. Das ist die sehr gewichtige eine Seite, hinter die es kein Zurück mehr geben sollte, die es übrigens auch in Griechenland gibt. Auf der anderen Seite stehen die Millionen Verlierer im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, die sich in den hohen Arbeitslosenzahlen in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich wiederfinden. Bei der Aussage „Die Jugend ist europäisch gesinnt“ muss man immer zugleich sagen, von welcher Jugend die Rede ist. In den Banlieus bestimmt nicht. Nicht nur der Front National, sondern eben auch Syriza und Podemos sind Ausdruck dieser tieferen Krise Europas. Der politischen Utopie eines „unumkehrbar“ vergemeinschafteten Europas als Raum des Wohlstands, des Friedens und der Menschenrechte steht heute die Dystopie eines Europas entgegen, das in Gewinner und Verlierer, Reiche und Arme, Erfolgreiche und Arbeitslose auseinander fällt. Hinzu kommen heute noch die unerwartet großen Ströme an Zuwanderern („Völkerwanderung“), die in diesem Europa ihre Hoffnung und ihre Zukunft sehen. Das verschärft die Gegensätze, und gerade beim sog. Flüchtlingsproblem zeigt sich, wie weit Europa von gegenseitiger Solidarität entfernt ist. Immer öfter kommt anstelle der Utopie eines „zu seinem Glück vereinten Europas“ die Dystopie eines von seinen Gegensätzen zerrissenen, national überforderten, wirtschaftlich globalisierten (und zugleich segregierten) und politisch gelähmten Europas zum Vorschein. Das ist das eigentliche Drama, das die Situation in und mit Griechenland sehr viel deutlicher als bisher ins Licht rückt.
Sicher ist, dass es kein Zurück zu einem Vorher gibt, das es sich meinte leisten zu können, die disparaten Wirklichkeiten in Europa mit Schönwetterparolen zuzukleistern. Europa scheitert nicht dadurch, dass sich die Bedingungen im Euro ändern. Europa scheitert, wenn es keine Idee mehr gibt, die gelebt und erfahren werden kann: Dass man in einem gemeinsamen Kulturraum mit einer unglaublich reichen historischen Dimension lebt, und dass man erreichten Frieden und Wohlstand nur bewahren kann, wenn man bei allen nationalen Eigenheiten dennoch zusammen bleibt und das Wohlergehen aller Europäer unter neuen Bedingungen neu erringt. Wird das erfahrbar, wird die Zustimmung nicht ausbleiben. Es liegt auf der Hand, dass sich dafür Politik und Institutionen in Europa gewaltig wandeln müssen.