Das Ende der Geschichte wird proklamiert als Katastrophe oder als Paradies. Nüchterner zeigt sich, dass nichts so sicher ist wie die Veränderung. Ein pragmatisches Plädoyer für diskursive Liberalität.
Das Ende der Geschichte wurde in vergangenen Jahrhunderten oft als baldige Katastrophe erwartet. Ob es Luthers Weltuntergangsstimmung war (und das Apfelbäumchen, das er dennoch zu pflanzen gedachte) oder die düstere Gestimmtheit nach den Schrecken des dreißigjährigen Krieges – , Apokalyptiker hatten, wie schon die Bibel zeigt, zu allen Zeiten Konjunktur. Dem steht ein Zukunftsoptimismus entgegen, der das Ende aller Übel in einem baldigen paradiesischen Zustand kommen sieht. Spezifisch neuzeitlich ist es, dieses Paradies nicht mehr im Himmel, sondern auf Erden und politisch machbar zu erwarten. Der Kommunismus, der Nationalsozialismus und auch die liberale Demokratie des kapitalistischen Marktes sahen bzw. sehen den glückseligen Endzustand in der klassenlosen Gesellschaft oder der auferstandenen Volksgemeinschaft oder der schrankenlosen Freiheit des Individuums und des Marktes erreichbar oder schon so gut wie erreicht. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft, dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, proklamierte der US-Politologe Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ (1992): Die systemischen, antagonistischen Konflikte der Welt seien endgültig überwunden und aufgehoben in einer weltumspannenden liberalen Demokratie westlicher Prägung. Was er damit auch meinte, war, dass die USA als einzige verbliebene imperiale Macht ihre unbestrittene Weltherrschaft antreten konnte. Man sieht: Endzeiterwartungen stimmen niemals.
Dies ist wohl so, weil der Mensch als tätiges Subjekt seine Geschichte gestaltet. Darum gibt es gewisse Konstanten in der Kultur ebenso wie in der Geschichte, und diese liegen in der menschlichen Art (früher hätte man vielleicht gesagt: Seele) begründet: das Streben nach Macht und die Suche nach Selbstbestätigung. Das eine formt die materiellen Interessen, das andere die psychischen. „Die einen sind meist klarer als die anderen – verschwiegen werden oft beide.“ (Fritz Stern, zitiert nach FAZ.NET) Weil diese beiden Interessen tief in der menschlichen Natur verankert sind, prägen und gestalten sie bewusst oder unbewusst, willentlich oder nicht, menschliches Handeln. Diese zunächst individuelle Grundstruktur wird zwar im gesellschaftlichen Handeln vielfältig verknüpft und mit Schleifen der Rückkopplung versehen, gedämpft, verstärkt, in ein neues Konglomerat verwoben, bisweilen gar hybridisiert, aber es ist immer wieder erkennbar. Die Geschichte der Kultur und Politik des Menschen ist eine Geschichte von Macht und Ohnmacht, von Helden und Opfern, von Phantasie und Leidenschaft, von Hingabe und Selbstverleugnung, von grenzenloser Hoffnung und abgrundtiefer Enttäuschung. Das tatsächliche Leben jedes Einzelnen liegt natürlich eher im gesellschaftlichen Durchschnitt, also irgendwo in der lauen Mitte mit ihrem alltäglichem Kleinklein. Man kann Geschichte „von oben“ und „von unten“ schreiben und erhält dadurch einen oft erstaunlichen Wechsel der Perspektive. Dennoch bleibt geschichtliche Entwicklung in einem ständigen Hin und Her, Auf und Ab, Wechsel und Veränderung gegenüber allen Kräften der Beharrung und Dauer. Selbst die Art der Beharrung, des Konservativen, ändert sich. Auch das erlebt man heute sehr konkret.
Es kommt hinzu, dass menschliche Geschichte, also der bewusste Raum menschlichen Handelns und Gestaltens, unwiderruflich global geworden ist. Politik ist Geopolitik, Ökologie ist global, Kultur ist multikulturell, Gesellschaft ist international verflochten, der Einzelne ist Teil eines universellen Netzes – und damit ist nicht nur das Internet gemeint. Das ist nur ein Teil der Universalisierung, seine technologische Seite. Dieser unwiderruflich globale Lebens- und Handlungsraum prägt die Seinsweise des modernen Menschen in einer fast totalitären Weise. Insofern hat vielleicht der Begriff „Anthropozän“ seine Berechtigung, allerdings weniger als evolutionsgeologischer denn als kulturgeschichtlicher Begriff: Die Welt insgesamt, der Erdenraum in seiner überall durch UTC strukturierten Zeit (GPS!) ist faktisch die gesamte ‚Drehbühne‘ menschlichen Handelns und Lebens, Leidens und Sterbens geworden. Es gibt keine unbekannten Winkel und Rückzugsräume mehr. Selbst die News aus den entferntesten Enden erreichen uns sekundenschnell, instantan. Man ist uninformiert, weil man überinformiert ist. Es hängt tatsächlich alles mit allem zusammen, Systemtheoretiker konstruieren Sinn im Unsinn, und oft vermag nur die Chaostheorie ein wenig Licht ins Gewirr zu bringen wie bei den Wettervorhersagen. Dies eröffnet ganz neue Wege zur Verfolgung und Durchsetzung eigener Interessen, sei es als Einzelner, als Unternehmen, als Staat, – aber jegliches global vernetzte Handeln führt auch zu einer unübersehbaren Folge von Nebenwirkungen (collateral effects), die wiederum die Mutter aller Verschwörungstheorien sind: „Das kann doch kein Zufall sein!“ Genau darum gilt es, nüchtern all die Informationen zu erheben und zu prüfen, die einem eben zugänglich sind, und diejenigen Tatsachen zu gewichten und zu bewerten, die eingegrenzt, erkannt und bewertet werden können – samt ihren zugrundeliegenden Interessen und möglichen Konsequenzen. Nie war rationales, deliberatives Denken und Handeln so lebenswichtig wie heute – und Ideologiekritik so notwendig, wenn Liberalität überhaupt noch eine Bedeutung haben soll.
Populismus – Nationalismus – Machtpolitik – Religion
Wir erleben heute wohl nicht zufällig eine Phase der Restauration autoritärer und nationalistischer Konzepte. Das Modell westlicher freiheitlicher Demokratie verliert an Attraktivität gegenüber autoritär verfassten Gesellschaften in Russland und China. Aufstrebende Staaten wie die Türkei, Ägypten, Iran und neuerdings die Philippinen eifern diesem Modell eines ideologischen, nationalistischen Autoritarismus nach. Zugleich erstarken in den klassischen westlichen Demokratien Kräfte und Parteien, die das Etikett „populistisch“ tragen, die konservativ bis nationalistisch ausgerichtet sind und jeweils ein Ressentiment gegenüber Fremden (Mexikanern, Muslimen, Afrikanern) pflegen. Oft zeigt sich in diesen Bewegungen eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, nach (angeblich) traditionell geordneten Rollen und Verhältnissen, nach Abgrenzung von Fremdem und Neuem, nach ungebrochener Stärke und Selbstgenügsamkeit. Es treten doch erstaunliche Parallelen zutage in dem Auftreten des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, dem Kaczynski-Regiment in Polen, Orban in Ungarn, der FPÖ in Österreich, dem Front National in Frankreich, der UKIP in Großbritannien, schließlich der AfD in Deutschland und den ‚Rechtspopulisten‘ in den Niederlanden und den skandinavischen Staaten. In der krassen Situation Griechenlands vereinen sich radikale Rechte und radikale Linke in einem historischen Regierungsbündnis – die bisher üblichen Kategorien taugen offensichtlich nicht mehr. Was eint diese in sich so diffusen und voneinander jeweils unterschiedlich national geprägten Kräfte? Vielleicht trifft auf diese Entwicklung das zu, was Fritz Stern über den Nationalsozialismus schrieb: „Die Nazis haben nicht begriffen, dass sie Teil eines historischen Prozesses waren, in dem das Ressentiment gegen die Entzauberung der Welt Zuflucht in Ekstasen der Unvernunft fand.“ (FAZ-Artikel). Da hinein passen dann sogar solche anscheinend ganz unterschiedliche Bewegungen wie der radikale Islamismus mit seinem nur scheinbar ‚mittelalterlichen‘, letztlich aber konsequent modernen Methoden des Terrorismus und der ausgrenzenden und kompromisslos ideologischen Schreckensherrschaft eines IS (oder ISIS, DAESH), Al-Kaida, Boko Haram usw. Es scheint so etwas wie ein „Ressentiment“, ein Aufbegehren, ein Aufstand nicht nur gegen die neuzeitliche „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) mittels Wiederbelebung des Religiösen zu sein, sondern Unwillen und Protest gegen eine Art von Globalisierung und Ökonomisierung (Märkte sind alles), die das Eigene, Vertraute zu nivellieren und zu rauben droht (wie vor 50 Jahren die „Kulturrevolution“ in China), die als weltgeschichtlicher, globalisierter Prozess zugleich allumfassend ist und eben so unverstanden, unbegreiflich und unbegriffen bleibt. So finden sich auch heute wieder Sterns „Ekstasen der Unvernunft“, praktisch in Aktion im Terrorismus, im religiösen Herrschaftswahn, aber auch ideologisch im schicken Eskapismus verschiedenster Verschwörungstheorien, Elitenschelte, in allerlei Spiritismus und salonfähiger Esoterik. Von den terroristischen Anschlägen abgesehen (schlimm genug) hat es bisher noch keinen ‚großen‘ irrationalen Knall gegeben, doch niemand weiß, was sich im Südchinesischen Meer oder an der südlichen Grenze der Türkei anbahnt – von den Auswirkungen der weltweiten Migrationsbewegung noch ganz abgesehen. Trotz aller verfeinerten politischen und technischen Mechanismen – im Griff hat diese möglichen Entwicklungen niemand. Man kann allenfalls Tendenzen sehen und Konfliktpunkte ahnen, die sich als nicht mehr beherrschbar heraus stellen könnten. Die Zuflucht zu „Ekstasen der Unvernunft“ könnte noch ganz anders verlockend sein.
Das Irrationale findet seinen Weg zurück in die Öffentlichkeit gerade dort, wo im vermeintlichen Protest gegen eine als verzerrt erlebte repräsentative Demokratie die öffentlichen Wahrheitsansprüche selber infrage gestellt und ununterscheidbar werden. In einem Aufsatz in der NZZ hat Boris Schumatsky die „Krise der Wahrheit“ artikuliert. Als Form hybrider Kriegführung hat die Desinformation zu neuer Blüte gefunden – die sogenannten „Sozialen Medien“, also Internet-Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram usw. lassen ohnehin die Grenze zwischen Fakt und ‚Fikt‘ verschwimmen. All dies macht doch die Forderung nach einer öffentlichen, gesellschaftlichen Gegenstrategie unabweisbar. Sie kann sich kaum der Mittel der Emotionalisierung und der Simplifizierung, also der Schwarz-Weiß-Malerei bedienen, sondern ihre Devise kann nur lauten: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Um den besten Weg geht es dabei. Nüchterner Realismus ist das einzige Mittel der Wahl, wenn es um die Entgegnung gegenüber neuen Ideologien und Pathologien geht. Das Verführerische in der Argumentation eines Björn Höcke ist, dass er so eloquent ‚modern‘ formuliert und den Nagel im Fleisch der Neuen Rechten genau benennt: die „versifften 68er“ (Jörg Meuthen). Diesen Anti-Eliten gilt es sich zu stellen – und sie nicht zu ignorieren. Gerade in den klassischen Medien Fernsehen und Zeitung (aber keineswegs nur dort) ist viel mehr „Faktencheck“, Hintergrundinformation und sachgerechte Diskussion zu erwarten. Das wäre zumindest der Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen. Darüber hinaus ist die Leerstelle zu füllen, die durch das nahezu völlige Fehlen sachkundiger, redegewandter und öffentlichkeitswirksamer Intellektueller spürbar ist. Es muss doch über die Fragen nach Glücksratgebern und Alltagspsychologie hinaus ein intellektuelles Potential vorhanden sein, das seinerseits klar Position beziehen und zugleich argumentativ die Gegenwartsprobleme aufgreifen kann. Es ist also auf einer neuen Stufe in einer veränderten Zeit und unter sich wandelnden Bedingungen das zu wünschen, was Jürgen Habermas seinerzeit „die Kraft der deliberativen Vernunft“ genannt hat. Die deliberative Liberalität der neuzeitlichen Moderne ist jedenfalls eine Errungenschaft, die nicht beim ersten (oder zweiten) Sturm aufgegeben werden sollte. Vielleicht werden ja die kommenden zwanziger Jahre die ’neuen Siebziger‘. In jedem Falle ist dabei die geopolitische und globalkulturelle Perspektive einzunehmen: Die westlichen Gesellschaften mit ihren repräsentativen Demokratien, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, aber auch mit den schreienden Ungerechtigkeiten ihrer kapitalistischen Ökonomien haben wahrhaftig noch eine Aufgabe. Das Programm einer ‚westlichen‘ Reform auf Grund der neuzeitlich aufgeklärten Werte gilt es selbstbewusst zu formulieren und zukunftsgerichtet zu vertreten. Rationalität und Liberalität können sich selbst behaupten.
Eine Antwort auf „Geschichte und Geopolitik“
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