Kategorien
Demokratie Gesellschaft

Demokratie – Aufstieg und Fall einer Staatsform

Demokratie als Staatsform und gesellschaftliches Idealbild ist geschichtlich entstanden und unterliegt grundlegenden Veränderungen. –

Gesellschaftsverfassungen und Staatsformen wandeln sich. Zwar suggeriert die Bezeichnung „Demokratie“ etwas sehr altes, nämlich eine griechische Staatsform aus dem 5. Jahrhundert vC, doch handelte es sich in der Attischen Demokratie, speziell in der Stadtverfassung von Athen, doch um etwas ganz anderes als das, was wir heute unter dem westlichen Demokratie-Modell verstehen: Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsbindung, Gewaltenteilung, Wahl und Abwahl von Regierungen. Letzteres hat Karl Popper sogar als das entscheidende Merkmal dieser Staatsform angesehen, nämlich dass man in der Demokratie  „seine Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann“ (Zitat siehe hier). Demokratie in unserem heutigen Sinne hat eine vergleichsweise kurze Geschichte. Sie entstand im Zuge der US-amerikanischen und der französischen Revolution Ende das 18. Jahrhunderts mit Vorläufern in Großbritannien („Glorious Revolution“ im 17. Jahrhundert). „Volksherrschaft“ gibt es nur ungenau wieder, ebensowenig wie „Herrschaft der Mehrheit“, denn bei beiden Aspekten kommt es darauf an, wie die Partizipation des Staatsvolkes ausgestaltet ist und in welcher Weise die Herrschaft der Mehrheit begrenzt und reglementiert ist. Die populistische Parole, Demokratie sei einfach „Volksherrschaft“, wobei zugleich behauptet wird „Wir sind das Volk“, hat wenig mit einer verfassten Demokratie zu tun – und hat noch weniger von Demokratie als Staatsform verstanden. Auch eine schrankenlose Herrschaft einer mit Mehrheit gewählten Regierung, wie es sich derzeit in Polen und Ungarn abzeichnet, ist mit dem westeuropäischen Demokratieverständnis nicht vereinbar. Wesentlich für eine demokratische Gesellschafts- und Staatsform ist das, was im angelsächsischen Raum mit  „checks and balances“ gemeint ist: Der Ausgleich unterschiedlicher Verfassungsorgane, unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, die Eingrenzung auch nur zeitlich begrenzter politischer Macht. Darum gehört bei uns der Kompromiss wesentlich zum Demokratieverständnis dazu, nicht nur dann, wenn es Koalitionsregierungen gibt, sondern im Grundsatz gegenüber allen zur Partizipation Berechtigten, gerade auch den in Wahlen unterlegenen Kräften und Parteien.

Die Wege und Formen, dieses Grundverständnis von Demokratie umzusetzen, sind in Europa und in der westlichen Welt sehr unterschiedlich. Demokratie in der Schweiz mit einer Tradition von „direkter Demokratie“ in Volksabstimmungen, Demokratie in Frankreich mit einem starken Zentralismus des Staates, Demokratie in Skandinavien mit einem egalitär ausgerichteten Gesellschaftsverständnis, Demokratie mit einer verfassungsmäßig starken Rolle der Parteien in Deutschland usw. sind in der Praxis sehr unterschiedlich. Vor- und Nachteile lassen sich abstrakt kaum darstellen, weil für jede Form der Demokratie der geschichtliche und gesellschaftliche Hintergrund des jeweiligen Staates entscheidend ist. So ist praktisch kein Modell auf ein anderes Land 1 : 1 übertragbar. Hinzu kommt, und das wird entscheidend werden, dass die politischen und sozialen Entwicklungen in den einzelnen Ländern, auch innerhalb der EU, zu unterschiedlichen Veränderungen der Gesellschaften im Verfassungsraum führen werden. Dass östliche EU-Staaten aus dem ehemaligen Gebiet des Warschauer Paktes heute zu autoritären Ausprägungen neigen, könnte sich dabei nur als eine Art Vorreiterrolle erweisen.

Denn der Trend zu autoritären Herrschaftsformen ist weltweit deutlich sichtbar – wenn es denn jemals anders war. Nach dem Fall es „Eisernen Vorhangs“ war allerdings die Hoffnung gewachsen, dass sich das westliche Demokratie-Modell in Verbindung mit der freien Marktwirtschaft weltweit durchsetzen werde. Diese Hoffnung war ein Traum und hat sich inzwischen als Illusion erwiesen, nicht nur aufgrund des Scheiterns zum Beispiel des sogenannten „Arabischen Frühlings“. Dies gilt auch nicht nur deswegen, weil autokratisch regierte Staaten seit 1990 erheblich zugenommen haben, besonders im Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion, sondern vielmehr weil auch Staaten mit eher westlichen Demokratie-Modellen sich autokratisch bis autoritär entwickeln (Türkei, Pakistan, Indonesien, teilweise Indien, viele afrikanischen Staaten). Auch in der „Kernzone“ der westlichen Staaten gewinnen Kräfte an Gewicht, die eine Tendenz zu autoritären Regierungsformen nahe legen. Alle gegenwärtigen populistischen Parteien sind in dieser Richtung ausgerichtet. Ein Präsident Frankreichs, der vom Front National gestellt wird, ist nicht mehr völlig unwahrscheinlich, ebenso wenig wie ein US-Präsident, der Trump heißt. Was eine solche Entwicklung für die übrigen Kernländer der EU einschließlich Deutschlands bedeuten würde, kann sich noch niemand ausmalen.

Berlin Demontrationen
Berlin 1989

Letztlich wird eine Verkettung von merkwürdigen und nicht erwartbaren Zufällen Auslöser dafür sein, dass eine Veränderung der Staatsformen in Europa und Deutschland Realität werden kann. Da auch ein neues „drittes Nuklearzeitalter“ begonnen hat (siehe den aktuellen Gastbeitrag von Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin) und sich die terroristische Bedrohungslage in den vergangenen Jahren erheblich zugespitzt hat, zudem die gewaltsame Veränderung von Grenzen in Europa im Falle der Krim zu einem kaum geahndeten Tabubruch geführt hat, dürften verschiedene Szenarien leicht vorstellbar sein, die als Auslöser zu einer überraschenden und plötzlichen Veränderung von Staat und Gesellschaft führen können. Solche Szenarien sind sehr viel ernster zu nehmen als die derzeitige Veränderung der parteipolitischen Landschaft durch das Erstarken der AfD auf dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen. Gerade weil mögliche Verkettungen von Ereignissen und Tendenzen in ihren Auswirkungen und Kulminationspunkten nicht vorhersehbar sind, sollte sich vorausschauende Politik und Politikberatung auf die Möglichkeit dramatischer Veränderungen bis hin zur Änderung von Regierungsform, Verfassung und Recht als ‚Grenzvorstellung‘ einstellen. Die einfache Fortschreibung der bisher bekannten Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, die Bewältigung wirtschaftlicher und machtpolitischer Verwerfungen, das Ausbleiben irrationaler militärischer Kettenreaktionen usw. – all das ist eigentlich das unwahrscheinlichste Szenario.

Auch die Demokratie als Staatsform und gesellschaftliches Idealbild ist geschichtlich entstanden und unterliegt, wie alles in der Welt, grundlegenden Veränderungen. Niemand wird darauf wetten können, ob es in 100 Jahren noch ein demokratisches Deutschland, eine funktionierende EU, freien Welthandel, einen kapitalistischen Westen, humanitäre Werte mit der Anerkennung universeller Menschenrechte noch geben wird. Sicher ist: Es wird dies alles nicht mehr so geben, wie es heute, wie prekär auch immer, als Wirklichkeit vorgefunden wird. Nichts gilt für die Ewigkeit, auch nicht die Grenzen in Europa, auch nicht Bündnisse, Staatsformen und Gesellschaftsnormen. Vieles deutet darauf hin, dass ein eigentümlicher Transformationsprozess auch in unseren westlichen Gesellschaften bereits begonnen hat. Die dramatische Veränderung in den globalen ökonomischen Verhältnissen lässt dies ohnehin erwarten. Wohin uns ein solcher Prozess führen wird und womit er endet, kann niemand wissen.

UPDATE:

Lesenswert zum Thema des Beitrags: Wolf Poulet, Leben wir bald alle in gescheiterten Staaten? FAZ.NET vom 11.08.2016

Eine Antwort auf „Demokratie – Aufstieg und Fall einer Staatsform“

Kommentare sind geschlossen.