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>Abschied von den Dogmen

>Karfreitag – nicht Car-Freitag, wie es in einigen norddeutschen Städten wie Bielefeld (einige bestreiten ja immer noch, dass es BI überhaupt gibt, aber es liegt in Ostwestfalen) genannt wird, um an diesem Tag illegale Autorennen zu veranstalten. Karfreitag. Auch nicht Himmelfahrt, wie es hier in der lokalen Zeitung als Überschrift über die kirchlichen Veranstaltungen hieß. Wer soll das auch noch wissen, wie welche kirchlichen Feiertage heißen? Karfreitag also.

Vor gerade einmal 100 Jahren war dies der höchste Feiertag innerhalb der protestantischen Christenheit. Zumindest in bürgerlichen Kreisen schritt man in Frack und Zylinder gesammelt zum Altar. Und das Abendmahl nahm man nur am Karfreitag. Die evangelische Christenheit definierte sich über das Kreuz, über den hingerichteten Gottessohn. Diese Ansicht verlangte in jeder Hinsicht Ehrfurcht, Ehrfurcht vor dem Kreuz, Ehrfurcht vor dem Heiligen. Karfreitag war der Tag, an dem man das mit allem Ernst und Nachdruck zeigte.

Führt man sich diese Reminiszenz vor Augen, dann merkt man erst, welch ein Erdrutsch in den letzten Jahrzehnten erfolgt ist. Der Karfreitag ist zwar als gesetzlicher Feiertag zudem noch ein „stiller“ Feiertag, d.h. ohne Festivitäten und Discos, aber ansonsten wird er meist als Auftakt der Osterfeiertage begangen, je nach Lust und Laune in der Familie und / oder im Grünen. Von den Kirchen merkt man nicht mehr viel. Sie rühren sich kaum, haben sie doch mit sich selbst und ihrer kollabierenden Organisation genug zu tun. Der Protestantismus ist öffentlich zu einer „Kommt-kaum-vor“ – Religion geworden. Nachrichtenwert haben irgendwelche Kirchenfusionen oder Kirchenschließungen, aber ehrlich gefragt: Wen interessiert das noch wirklich? Selbst die seit kurzem allfälligen Gottesdienste bei Katastrophen („Winnenden“) werden von staatlichen Stellen (= Staatsakt) und Psychologen dirigiert. So what?
Der Protestantismus bringt ja eigentlich die besten Voraussetzungen mit für eine aufgeklärte Religiosität. Die Alternativen sind dogmatische Beharrung und antiaufklärerischer Fundamentalismus. Wem der Fundamentalismus keine ernsthafte Möglichkeit zu sein scheint (und dafür gibt es immerhin eine Vielzahl guter Gründe), der sollte sich um das dogmatische Beharren im deutschen Protestantismus kümmern. Hier ist eine Aufklärung fällig, die der Bedeutung der historisch-kritischen Bibelforschung gleich kommt. Sie ist bisher kaum geschehen, wenigstens nicht im praktischen Vollzug der evangelischen Kirchlichkeit.
Was bedeuten denn die dogmatischen Aussagen zur Gottessohnschaft des Jesus von Nazareth? Was das Bekenntnis zur Jungfrauengeburt? Wofür steht die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, und was meint überhaupt die Rede von Gott? Wohlmeinend kann man allenfalls die historische Gegebenheit der Person „Jesus“ gelten lassen; was er gewollt und gelehrt hat, was also ursprünglich „jesuanisch“ ist, wissen wir nicht. Alle Aussagen über ihn, die wir kennen, entspringen der Gemeindetheologie. So wenig sich ein „Leben Jesu“ rekonstruieren lässt (trotz des so sympathischen, aber letztlich im Ungefähren verharrenden Versuches von Gerhard Theißen, Der Schatten des Galiläers), so wenig werden wir je erfahren, was dieser Jesus aus Nazareth ursprünglich gewollt hat. Was wir haben, sind kirchliche Lehraussagen über ihn und die Besonderheit seiner Person. Sie sind geschichtlich entstanden in ganz bestimmten Kontexten und wurden kirchenpolitisch durchgesetzt. Es bleibt ein Rätsel, warum die Christenheit, insbesondere die protestantische, bis heute daran als allein selig machenden Dogmen festhält. Sie sind heute weder verständlich noch nachvollziehbar. Sie müssen ebenso „entmythologisiert“ werden, wie es seinerzeit vor 60 Jahren mit den Schriften der Bibel selber geschehen ist. Es war immerhin ein sehr heilsamer Prozess, der uns den Zugang zu den biblischen Schriften als Zeugnissen menschlich-religiöser Erfahrung ganz neu erschlossen hat.
Menschen sahen in einem Jesus aus Galiläa etwas Besonderes; sie sahen in ihm offenbar jemanden, der wie ein ‚Mensch nach Gottes Willen‘ war. Ja, er wurde dann so hoch verehrt, dass er nahe an Gott selber heranrückte. Man konnte ihn mit der Vielfalt Gottes identifizieren. Und Gott – das war und ist seinem Begriff nach immerhin einer oder etwas, das uns „über“ ist. Die christlichen Bekenntnisse sind als Symbole zu verstehen, die eine solche religiöse Erfahrung und Bewusstmachung in Sprache fassen möchten, immer annähernd, immer unzureichend. Zu Dogmen zementiert werden sie erst von einer christlichen Kirche, die sich eben ihrer Lehre als eines Mittels zur Machtausübung bediente. Es fehlt uns Protestanten nichts, wenn wir uns von einer solchen Kirche, die sich ihrer selbst als Wahrheit gewiss ist und ein Machtfaktor sein möchte, – wenn wir uns von solch einer Kirche endgültig verabschieden. Dann würden Protestanten auch wieder eine religiöse Alternative zum Katholizismus darstellen als derjenigen christlichen Religionsform, die eigene Wahrheit und Macht bis heute speziell in der Person des Papstes in eins setzt.
Protestantismus ist nicht Christentum ohne Papst; Protestantismus kann eine andere, freie und aufgeklärte Art sein, das festzuhalten und weiter zu geben, was einem modernen Menschen am Christentum heute noch wichtig ist. Ob dazu die Evangelischen Landeskirchen noch hilfreich sind, steht vorerst auf einem anderen Blatt. Vielleicht gehören sie zur „Verabschiedung“ der dogmatisch erstarrten Kirchlichkeit dazu. Die christliche Religiosität aber wird sich neu entfalten können als das Bewusstsein von einer Wirklichkeit, deren Vielfalt und Wunder das Leben täglich, stündlich, in jedem Moment vollzieht. Diese Wirklichkeit ist uns weit „über“; wer möchte, kann hier anfangen, von Gott zu reden. Dabei wird er im Mitleid [siehe den Artikel „Über das Mitleid“ in der heutigen Druckausgabe der FAZ] – den Menschen finden.