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Gerechtigkeit Netzkultur

„Postgerecht“ statt verteilungsgerecht?

 Zum Blog-Beitrag „BGE und die Postgerechtigkeit“

Aussage und Entgegnung:

„Klar, das BGE ist umstritten. Auf Finanzierungsmodelle kann man sich nicht einigen. Viele sagen, das sei eine Utopie, viele sagen, das sei nicht finanzierbar. Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht.“

Dem kann man zustimmen. Allerdings ist der Grund für das Nichtwissen der Finanzierbarkeit weniger die Uneinigkeit als vielmehr die Unklarheit der Berechnungsweise und Berechnungsgrundlage. Die Rechenmodelle („Netzwerk Grundeinkommen“, Götz Werner, LINKE, FDP) sind sehr verschieden, die Höhe ist völlig strittig, ebenso unklar ist die Anrechenbarkeit anderer Einkünfte, die Frage der „Bedingungslosigkeit“ und des erwarteten volkswirtschaftlichen Nutzens. Die Diskussion über das Grundeinkommen, Bürgergeld oder wie immer man es nennt, ist uferlos, wie eine kurze Google-Recherche zeigt. Ich will dies hier nicht weiter diskutieren.

 „Wir befinden uns schließlich mitten in einem raschen und grundsätzlichen Wandel… Ich persönlich bin mir seit einigen Jahren sicher: der Frage, wie Wohlstand in der Postarbeitsgesellschaft zu verteilen ist, wird innerhalb der nächsten 10 Jahre beantwortet werden müssen.“

Wandel ist das Prinzip aller Geschichte; jede Generation stellt das wieder erstaunt fest. Allerdings sollte man die Geschichte kennen. Die These, wir gingen auf die „Postarbeitsgesellschaft“ zu oder lebten schon in ihr, ist nicht neu. Sie taucht seit fünfzig Jahren immer wieder auf und hat sich besonders an dem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ der Sozialphilosophin Hannah Arendt (dt. 1960) entzündet. Ihr Plädoyer: Zurückfinden zum sinnvollen „Herstellen“ und zu einem vom Arbeits- und Verbrauchszwang befreiten Leben der vita contemplativa. Während der Phase der ersten großen „Massenarbeitslosigkeit“ Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war der Slogan „Der Gesellschaft geht die Arbeit aus“ in vieler Munde und führte bei den Gewerkschaften zur Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Im DGB-Programm von 1996 heißt es: „Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Produktivitätssteigerung muss die individuelle Erwerbsarbeitszeit weiterhin kontinuierlich verkürzt werden. Wohlstandsgewinn kann nicht nur in Einkommenszuwächsen, sondern muss auch im Zuwachs an erwerbsarbeitsfreier Zeit gesehen werden.“ Drohende Massenarbeitslosigkeit und radikale Arbeitszeitänderungen wurden besonders in der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise wieder thematisiert. Ziel aller Arbeitszeitverkürzungsdebatten ist es immer auch, Erwerbsarbeit und Existenzsicherung von einander zu trennen: „Perspektivisch müssen wir weitergehende individuelle wie kollektive Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen, ohne die Existenz unterer und mittlerer Einkommensbezieher zu gefährden. Dazu brauchen wir neue Wege.“ (DGB 1997) Konsequent heißt es dann in Blog von mabli (der freitag): „In dieser Form zielt das bedingungslose Grundeinkommen auf eine Entkoppelung von Arbeitsleistung und Einkommen. Das Denken, dass Arbeitsleistung das wesentliche Verteilungskriterium sein muss, ist ein Mythos der Leistungsethik, der tief in unseren Überzeugungen eingegraben ist.“

Jedoch, die These, dass der Arbeits- und Leistungsgesellschaft aus Gründen der Rationalisierung, des Vordringens von IT-Bereichen usw. die Erwerbsarbeit ausgeht, hat sich trotz aller Behauptungen bisher keineswegs bewahrheitet. Derzeit ist das Arbeitsaufkommen in Deutschland so hoch wie lange nicht mehr, die Quote der Erwerbstätigen liegt jetzt bei 47,2 % und ist damit so hoch wie zuletzt in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch die Forderung, den produzierenden Sektor zugunsten des Dienstleistungssektors zurück zu fahren, ist zumindest wieder fragwürdig geworden, sieht man sich sich volkswirtschaftlichen Ergebnisse einer konsequenten Dienstleistungsgesellschaft wie der in Großbritannien an. Jedenfalls liegt die Wirtschaftsleistung des produzierenden Gewerbes in Deutschland immer noch bei einem Drittel des BIP; insbesondere Bundesländer mit einem hohen Anteil des produzierenden Gewerbes von ~ 30 % (Baden-Württemberg, Bayern) zeichnen sich durch die niedrigsten Arbeitslosenquoten in Deutschland aus (mit weiterhin positiver Tendenz). Von „Deindustrialisierung“ kann also keine Rede sein, wenngleich der Dienstleistungssektor in den vergangenen Jahrzehnten stetig zugenommen hat. In Wirklichkeit ist also die sog. Postarbeitsgesellschaft eine Fiktion – ein bloßer Wunschtraum derer, die es sich leisten können. Nicht die Frage, wie der Wohlstand in der „Postarbeitsgesellschaft“ verteilt wird, ist für die Zukunft entscheidend, sondern eher die, wie der derzeitige Wohlstand bei uns auf Dauer erhalten und gesichert werden kann. Ohne effiziente Arbeit in welcher Form auch immer wird es keinen Wohlstand geben, der verteilt werden kann. Spanien und Griechenland sind derzeit die abschreckenden Beispiele, beide mit ~ 20 % Arbeitslosigkeit (bei der Jugend in Spanien bei 50 %). Mir scheint diese These daher eher ein Luxusproblem zu sein, und zwar ein recht zynisches.

Nun aber zum eigentlichen Thema des Artikels: dem „Gerechtigkeitsempfinden“:

„Meine Ethik ist eher die einer anti-egalitären Verteilungsethik. Ich glaube weder an den Sinn noch an die Notwendigkeit von Gleichverteilung. Es ist mir auch egal, ob es eine gute Begründung hat, dass A mehr hat, als B. Was ist will, ist, dass A und B genug haben, um sich keine Sorgen machen zu müssen.“

Das klingt nur auf den ersten Blick glatt und klar. Der Autor grenzt sich damit von einer Verteilungsidee ab, die auf Leistung und Bedürftigkeit beruht. Zusammengefasst nennt er dies das „vorherrschende Gerechtigkeitsempfinden“ und meint damit eine Verteilungsgerechtigkeit, deren Maß der Ausgleich von Leistung und Bedürftigkeit ist. Schuld an dieser negativen Verteilungsethik sei eine tief sitzende „Ideologie der Gerechtigkeit“, die alle Menschen zueinander in Konkurrenz setze. Dadurch werde ein Zwang zur Umverteilung nötig, von dem es sich durch das „postgerechte“ BGE (Bedingungslose Grundeinkommen) zu befreien gelte:

„Es ist eine Umverteilung, die sich nicht an irgendwelchen abstrakten Prinzipien, sondern an den Bedürfnissen des Menschen orientiert. Während die Gerechtigkeit alle Menschen zueinander ins Verhältnis und somit in eine Konkurrenzsituation setzt, will die Postgerechtigkeit die Menschen davon befreien.“

Nun sind es auf einmal doch wieder die „Bedürfnisse des Menschen“, an denen es sich zu orientieren gilt, obwohl vorher „Bedürftigkeit“ als Kriterium abgelehnt wurde. Die Bedürfnisse werden dann so umschrieben:

„Was ich will, ist, dass A und B genug haben, um sich keine Sorgen machen zu müssen. … nicht mehr nach Ausgleich streben, sondern danach, dass jeder – absolut jeder – einigermaßen sorgenfrei leben kann“ und dies „als tief empfundene Überzeugung.“

Was aber heißt nun „sorgenfrei leben“, und was ist genau das „Genug-haben“? Wann hat man genug und wodurch ist man „einigermaßen sorgenfrei“? Der Autor denkt da womöglich an seine eigene Befindlichkeit, wenn er schreibt:

„Mein Freund ist ein Beispiel und auch ich würde dem, was ich tue, nur um so befreiter nachgehen, hätte ich ein Einkommen, … [damit ich] teil haben kann am großen Gespräch, in die sich unsere Welt verwandelt.“

Diese letzte Formulierung hat einen fast religiösen Klang, beschreibt aber tatsächlich das Gefühl nur derjenigen Menschen, denen die digitale Welt zur Heimat und Social Media zum Marktplatz geworden sind. Statt einer Erwerbsarbeit nachzugehen zu müssen, ist das Ziel (oder der Traum?), endlich befreit und ohne Leistungsdruck an der nie endenden Kommunikation teil zu haben , die das Netz ermöglicht, als ein „großes Gespräch“ immerwährender bedingungsloser Teilhabe (ein weiteres typisches Schlagwort), Stichwort „Plattformneutralität“.

Ich lese in diesen Zeilen die Utopie von Menschen in einem sehr besonderen sozialen Umfeld und unter sehr speziellen modernen technischen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Unter anderen geschichtlichen Bedingungen hat ein Großer der Weltgeschichte einmal dies als seine Utopie klassisch formuliert:

“…solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. [Dann kann es sein, dass] die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Aus: Karl Marx (1818-1883): Die Deutsche Ideologie (1845)

An die Stelle des Fischens und Jagens ist das „große Gespräch“ getreten. So weit, so gut, denn träumen darf man ja, auch wenn Marx es als „wissenschaftlich“ bezeichnet hat. Aber was hat es mit der kritisierten „Ideologie der Gerechtigkeit“ auf sich? Der Begriff der Gerechtigkeit ist in der Tat ideologieverdächtig, ist doch die Bestimmung dessen, was ‘gerecht’ ist, von der jeweiligen wirtschaftlichen oder sozialen Position dessen, der Gerechtigkeit fordert, abhängig. Die Literatur und Diskussion zum Thema Gerechtigkeit ist natürlich uferlos und kann und soll hier nicht diskutiert werden. Aber eines wäre doch zu erwarten: Dass sich jemand, der es unternimmt, gegen den mainstream (was Respekt verdient) eine „postgerechte“ Gesellschaft zu fordern und der die „Ideologie der Gerechtigkeit“ aus den Köpfen der Menschen vertreiben möchte (siehe den letzten Satz des Artikels), sich mit dem Thema Gerechtigkeit doch etwas näher befasst und vielleicht auch einmal durch die neuere Literatur dazu anregen lässt. Es würde auch schon reichen, wenn die Auffassungen anderer sozialer und politischer Strömungen nicht einfach ignoriert, sondern in ihren Beweggründen Ernst genommen würde. Man muss ja nicht unbedingt der Bildersprache Steinbrücks folgen, wenn der sagte: „Die Sehnsucht der Partei (SPD) nach Gerechtigkeit, das sei ihr Polarstern.“ Zu denken gibt es allemal.

So jedenfalls, wie hier vom Autor beschrieben, hängt die Kritik der Gerechtigkeit und die Proklamation der Postgerechtigkeit wie ein Glaubensbekenntnis in der Luft: Man kann sie „aus tief empfundener Überzeugung“ teilen oder nicht. Jedenfalls behagt dem Autor weder eine Konkurrenzsituation noch das Streben nach Ausgleich, wie es die ‘traditionelle’ Verteilungsdiskussion zu Recht thematisiert. Ich kann die vorgelegte Position eigentlich nicht recht kritisieren, weil sie jegliche Begründung verweigert (Behauptungen und Wünsche sind keine Gründe) und sich damit einer rationalen Diskussion entzieht. Genau dies aber wäre wünschenswert: eine fundierte Diskussion darüber, was Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft bedeutet, und auch darüber, wo die Fallen beim Gebrauch dieses Begriffes liegen. Dann könnte sich eine hilfreiche und weiterführende Diskussion ergeben. Das „große Gespräch, in das sich unsere Welt verwandelt“, ist einfach zu nebulös, sprachlich sogar viel zu religiös aufgeladen.

Man sollte sich auch nicht täuschen über die jeweils zugrunde gelegte Anthropologie: Folgt sie nur einem positiven Menschenbild oder ist sie einfach oberflächlich? Es ist besser, hier sehr realistisch zu sein. Das nonchalante „ja, es wird Leute geben, die dann gar nichts Produktives mehr machen“, hilft da nicht und offenbart eher das Dilemma. Zu klären wäre ernsthaft, was am Streben nach Unterscheidung, am Sich-Messen, an Konkurrenz und Neugier, an Neid und Missgunst, schlicht am Mehr und Weniger, am Voraus- und Hintan-Sein zum Menschen, zur menschlichen Natur, gehört und was davon den gesellschaftlichen Umständen geschuldet ist. Auch dies führt zu einer breiten und geschichtlich vorgeprägten Diskussion, die es aber doch zu führen gilt, will man solide argumentieren.

 

Ich halte diesen Blog-Beitrag von mpr0 (+Michael Seemann) für typisch unter vielen Diskussionen der ‘Netz-Affinen’, die mir besonders im Vorfeld und während des Bundesparteitages der PIRATEN aufgefallen sind – darum setze ich mich mit ihm ausführlich auseinander. Denn eines kann an diesem Beitrag und seiner breiten Diskussion (meist um die Realisierbarkeit des BGE) bei Google+ und in seinem Blog HIER aber ebenfalls deutlich werden: Die drohende Geschichtslosigkeit, in der sich die Netzdiskussionen über BGE und über die Bedeutung der digitalen Revolution (siehe social media) befinden. Man sollte schon schauen, was sich aus anderen gegenwärtigen und aus historischen Debatten vielleicht lernen ließe.

Was die Netzkultur angeht, so haben wir zunächst nichts anderes vor uns als eine neue Kulturtechnik. Was sie bringen und verändern wird, ob eine neue Welt oder eine neue Kultur oder was auch immer – oder vielleicht gar nichts von all dem, das wird sich erst noch zeigen. Derzeit verbreitete emphatische Charakterisierungen und Prognosen über die ‘neue Welt der sozialen Kommunikation’ haben außer viel Pathos eher den Charakter, einen Vogel im Fluge zu zeichnen. Das Bild bleibt von der Sache her schemenhaft – oder eben dem Glauben und Gefühl Einzelner überlassen. Wenn sich diese Einzelnen dann als Elite eines neuen Menschseins empfinden, dann fehlt schlicht die notwendige Erdung. Und damit bin ich wieder am Anfang meiner Kritik: Auch das Wohlergehen und die Sorglosigkeit der neuen ‘Eliten’ (um nicht vom ‘neuen Menschen’ zu sprechen) will und muss erst einmal erarbeitet werden. Und was den Diskurs als solchen betrifft: Man muss das Rad nicht in jeder Generation neu erfinden.